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Kulturszene in Chemnitz gegen rechts
"Gesellschaftlich verändert das nichts"

Unter dem Motto „Wir sind mehr“ setzten Musikstars 2018 in Chemnitz ein Zeichen gegen rechts - 65.000 Menschen kamen damals. Heute wird es bei „Kosmos Chemnitz“ erneut voll auf den Straßen: Wieder ein Festival, wieder mit Promis. Doch die Kulturszene der Stadt blickt zwiespältig auf dieses Ereignis.

Von Alexander Moritz | 04.07.2019
Eine junge Frau wird in einer Zuschauermenge vor dem #wirsindmehr Konzert in Chemnitz hochgetragen
Zuschauermenge beim #WirSindMehr-Konzert in Chemnitz 2018 (picture alliance / dpa / Sebastian Willnow)
An der Bühne laufen die letzten Vorbereitungen. Daneben steht Benjamin Gruner und beisst gelassen in ein Käsebrötchen: "Soweit ist alles entspannt. Der Aufbau läuft gut. Die Künstler reisen an und wir freuen uns dann pünktlich zu starten."
Für das Festival "Kosmos Chemnitz" überzeugte er namhafte Techno-DJs auf einer kleinen Bühne aufzulegen, zwischen Spielplatz und Asiamarkt. Gruner ist ein umtriebiger Kopf in der Chemnitzer Kulturszene: Mit der "Fête de la Musique" brachte er ein kostenloses Musikstraßenfestival in die Stadt, im vergangenen Jahr eröffnete er einen eigenen Club im ehemaligen Südbahnhof. Das Klima dafür sei besser denn je:
"Die Stadt versucht kulturell wirklich nach vorne zu gehen. Es sind sehr viele tolle Kulturangebote dazugekommen. Ich glaube, dass die Stadt sich bewusst ist, dass fürs Stadtmarketing, für die kulturelle Ausstrahlung, aber auch für die Identität der Stadt sehr viel geleistet werden kann und möglich ist."
Von Gröneymeyer bis Tocotronic
Kultur soll die Gräben überbrücken, die die Ereignisse des vergangenen Sommers gerissen haben. Mit dem heutigen "Kosmos Festival" wolle man den "Stadtraum erobern", wünscht sich der Leiter der städtischen Wirtschaftsförderung. Die hat das Festival offiziell organisiert - für das Programm auf den verschiedenen Bühnen sind aber ganz unterschiedliche Kultureinrichtungen verantwortlich.
Die Hauptbühne: Am Abend spielen hier Herbert Gröneymeyer und die Hamburger Band Tocotronic. Direkt vor dem Karl-Marx-Kopf rappt das Berliner Hip-Hop-Duo Zugezogen Maskulin. Und vor dem Dönerladen, vor dem Daniel H. im Sommer erstochen wurde, legen DJs auf.
Auf dem Technofloor von Benjamin Gruner tritt unter anderem der Syrer Omar Souleyman auf. Einst bespielte er Hochzeitsgesellschaften, inzwischen ist der onkelhafte Mann mit Schnauzbart und Kaftan begehrter Gast auf internationalen Festivals. Als "heiseren Muezzin auf Koks" beschreibt die Lokalzeitung seine Musik am Tag vor dem Festival. Ein Eindruck, der nicht jedem in Chemnitz gefallen dürfte.
Solche großen Namen sichern Aufmerksamkeit. Aus Chemnitz selbst kommen dagegen nur wenige Künstler, die heute dabei sind. Einer von Ihnen: der Rapper Skrab. Seinen echten Namen möchte der 29-Jährige [*] nicht an die Öffentlichkeit tragen – weil er sich beruflich für Geflüchtete engagiert und auch in seinen Songs klar Position bezieht. In Chemnitz nicht ungefährlich: "Ich hab' Anfeindungen bekommen, auch Morddrohungen per Email, alles Mögliche, wo ich gemerkt hab': Wenn das irgendwelche Leute, die ein wenig faschistisch denken, irgendwo mitbekommen hier in Chemnitz, dann kann das ganz schnell bedrohlich werden."
"Am Ende gibt das schöne Bilder"
Umso wichtiger ist es ihm, heute Abend auf die Bühne zu gehen. Auch wenn er weiß, dass nach dem ersten WirSindMehr-Konzert nicht alle in Chemnitz begeistert waren.
"Die halt am Tag danach sich krass über den Müll aufgeregt haben zum Beispiel, die das komplett negativ wahrgenommen haben. Wo dieser Push, den ich eigentlich durch dieses Event erhalten habe, ganz schnell abgeflaut ist. Weil man sich dachte: Ok, andere Leute, für die war das ein krasser Offense, weil das wie so eine Art Leichentanz war, kurz nach dem Tod von Daniel H. wird hier eine Party veranstaltet."
Der Chemnitzer Unternehmer Lars Fassmann
Der Chemnitzer Unternehmer Lars Fassmann (Deutschlandradio/Alexander Moritz)
Auch Lars Fassmann hält nicht allzu viel von dem heutigen Spektakel. Der Unternehmer macht Kulturpolitik auf seine Art. Seit Jahren kauft er leerstehende Gebäude und vermietet sie billig an Kreative und Kulturprojekte. Ausgerechnet im Stadtteil Sonnenberg – lange als Nazi-Viertel bekannt.
Von dem eintägigen Festival verspricht sich Fassmann keine langfristige Wirkung für die Stadtgesellschaft: "Man hat dort versucht, alle Formate, die man irgendwie bekommen konnte, in diesen Tag reinzuquetschen. Man hätte es auf mehrere Tage verteilen können. Aber das Hauptziel ist ja: Wir bleiben Mehr. Man will wieder zeigen, wie Menschenmassen zusammenkommen. Am Ende gibt das schöne Bilder, die Medien berichten drüber, gesellschaftlich verändert das aber nichts."
Marke Chemnitz positiv besetzen
Marika Mühlpfort-Groh hofft, dass die Musik die Stadt wieder zusammenbringt. Sie leitet das Bandbüro. In einer ehemaligen Schule bietet der Verein Proberäume für etwa einhundert lokale Bands – Tonstudio inklusive: "Wir versuchen, die so zu unterstützen, dass sie eben machen können, was sie wollen. Dann haben sie eben auch den positiven Effekt, dass sie sagen: Wir sind eine Band aus Chemnitz. Und nicht alle sagen: Oh Gott, bitte was? Sondern: Cool. Ihr seid aus Chemnitz? Ja, kennen wir."
Dass sie alle hier zusammengehören – dieses Bewusstsein sei durch die die Ereignisse der vergangenen Monate gesteigen.
"Die Kulturszene hatte immer schon besonderen Zusammenhalt. Man hat sich immer schon über solche Themen ausgetauscht. Weil es ist nichts Neues, dass es Extreme gibt."
Und dieser Austausch werde wichtiger – auch angesichts einer gestärkten AfD-Fraktion im Stadtrat, die der Förderung der freien Kulturszene skeptisch gegenübersteht.
"Wir BLEIBEN mehr" - das heutige Motto klingt wie eine Selbstvergewisserung der bürgerlichen Mitte. Doch während sie mehr bleiben wollen, werden andere tatsächlich mehr: Bei den Kommunal- und Europawahlen wählten in Chemnitz jeder Vierte rechte und rechtsextreme Parteien. Bei der Landtagswahl im Herbst könnte die AfD in Sachsen stärkste Kraft werden.

[*] Anmerkung der Redaktion: An dieser Stelle wurde in der Textfassung eine falsche Altersangabe korrigiert.