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Kulturtheorie
Genie: Gründe und Abgründe

Den Begriff des "Genies" gibt es erst seit ungefähr 300 Jahren, als es im Zuge der Aufklärung möglich wurde, den Menschen als eigenständiges, schöpferisches Wesen zu empfinden. Dann aber machte der Begriff eine steile Karriere, vor allem in deutschen Landen.

Von Eva-Maria Götz | 05.11.2015
    Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller waren die ersten Genies der deutschsprachigen Literaturgeschichte. Napoleon brachte das Genie in die Politik, und wurde auch östlich des Rheins zur verklärten Führerfigur, die bis in die Zeit des Nationalsozialismus ihre Schatten warf. Heute ist unsere Haltung dem Genie und vor allem dem Geniekult gegenüber durchaus ambivalent. Seine Faszination hat das Phänomen jedoch nicht verloren.

    Der vollständige Beitrag:
    Borchmeyer: "Es ist ein außergewöhnliches Talent., mit einer starken Naturgabe."
    Kirchhoff: "Von einem Genius inspiriert, der etwas Großes schaffen will."
    Münkler: "Genie ist die Person, die in einer Situation neue Gedanken denkt."
    Beßlich: "Und es will vor allen Dingen auch brechen mit Normen, es möchte sich nicht in ein Regelwerk einpassen lassen."
    Schöpferisch zu sein wie Gott! Welche Anmaßung, welche Idee! Und denkbar erst in einer Zeit, in der die Ideen der Aufklärung Licht in düstere Dichter- und Denkerstuben bringen. Einer Zeit, in der der Gedanke aufkommt, der Mensch sei mehr als nur ein Geschöpf, das abhängig ist von höheren Mächten, irdischen wie himmlischen. In der Zeit der Säkularisierung also ab 1700, meint der Literaturwissenschaftler und Initiator der Heidelberger Vorträge zur Kulturtheorie, Prof. Dieter Borchmeyer:
    "Das gehört zum Geniebild dazu, dass er eine Art Creatio ex nihilo, eine Schöpfung aus dem Nichts betreibt, das heißt, dass er sich nicht auf vorgefertigte Regeln und Muster verlässt, sondern dass er aus sich heraus schafft."
    Etymologisch hat der Begriff Genie zwei Wurzeln: Da ist zum einen das Wort "Ingenium", abgeleitet aus dem Verb ingignere, was so viel bedeutet wie einpflanzen. Ingenium- das steht für das besondere Talent. Zum anderen aber der "Genius": In Zeiten römischer Religiosität war er der Schutzgeist der Männlichkeit oder:
    Borchmeyer: "Das war die Verkörperung der männlichen Zeugungskraft."
    Womit, so Dieter Borchmeyer, auch bereits die Frage beantwortet wäre, warum Genies so häufig männlichen Geschlechts seien.
    Borchmeyer: "Denn es ist nun mal die Zeugungskraft und das prägt sich auch in verschiedenen Genietraktaten des 18. Jahrhunderts aus. Die Grundlagen des Geniekults sind eigentlich in England gelegt worden."
    William Shakespeare
    William Shakespeare und seiner alle Grenzen der Zeit sprengenden und bis heute immer wieder erstaunlichen Menschenkenntnis verdanken wir die Vorstellung davon, dass es Genies gibt. Dass es Menschen gibt, die Gedanken denken und aussprechen, die niemand vor ihnen gedacht, niemand ausgesprochen hat. Oder wie der britische Dichter und Kulturpolitiker Joseph Addison schrieb:
    "Shakespeare war mit allem geboren was zur Dichtkunst gehört, welches die Natur freiwillig und ohne alle Hilfe der Kunst hervorgebracht hat. Und man kann ihn nur mit dem Stein im Ring des Phyrrus vergleichen, der, wie Plinius sagt, die Figur des Apollo und der neun Musen in seinen Adern gehabt hat."
    Allerdings hatte es nach Shakespeares Tod fast 100 Jahre gedauert, bis sich die Ansicht, dass Shakespeare eine extreme Begabung und rühmenswert sei, durchzusetzen begann. Bis dahin galt er als grobschlächtig, unzivilisiert, ein übles Subjekt und allenfalls tauglich als ein Komödiant fürs einfache Volk. Friedrich der II. empörte sich über die lächerlichen Farcen, die jetzt überall gegeben würden und Voltaire urteilte, Shakespeare sei "Ein Wilder von einiger Einbildungskraft, dessen Werke nur in London und Kanada gefallen." Doch diese Einschätzung änderte sich mit Beginn des 18. Jahrhunderts.
    Borchmeyer: "Our countryman Shakespeare, sagte Addison, der ist eigentlich das Genie. Das hat man sehr wohl gewusst."
    Und spätestens mit dem Erscheinen von Johann Wolfgang Goethe in der Literaturwelt, wurde Shakespeare auch hierzulande der Fixstern, zu dem alle aufblickten. In dessen Stücken kämpfte das Individuum gegen die Gesellschaft, gegen die Konvention, es lehnte sich auf. Shakespeare hielt sich nicht mehr an den von Aristoteles zementierten Dramenaufbau mit der Einheit von Ort, Zeit und Handlung, sondern er sprengte die Regeln. Goethe war begeistert und schrieb in seiner "Rede zum Schäkespeares Tag" 1771:
    "Ich zweifelte keinen Augenblick, dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheit der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unsrer Einbildungskraft. Ich sprang in die freie Luft und fühlte erst, dass ich Hände und Füße hatte. Und jetzo, da ich sahe, wie viel Unrecht mir die Herrn der Regeln in ihrem Loch angetan haben, wieviel freie Seelen noch drinne sich krümmen, so wäre mir mein Herz geborsten, wenn ich ihnen nicht Fehde angekündigt hätte und nicht täglich suchte, ihre Türme zusammenzuschlagen."
    Die Genie-Zeit: Sturm und Drang
    Das war der Beginn der Sturm- und-Drang-Zeit. Der Genie-Zeit. 1773 hatte Goethe seinen ersten Sensationserfolg mit den "Leiden des jungen Werther" und galt ab sofort selbst als Genie. Als einer, der andere Götter nicht achtet. Wie in seinem Gedicht "Prometheus", den er ausrufen lässt:
    "Bedecke deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst
    Und übe den Knaben gleich, der Disteln köpft, an Eichen dich und Bergeshöhn
    Musst mir meine Erde doch lassen stehen und meine Hütte, die du nicht gebaut und meinen Herd, um dessen Glut du mich beneidest.
    Ich kenne nichts Ärmeres unter der Sonne als euch Götter."
    In Goethes Geniehymnenmanifestiert sich erstmals der Anspruch, den das Genie an sich selber stellt: selbst etwas erschaffen. Die Grenzen der Rationalität sprengen. Künstler sein.
    Borchmeyer: "Deshalb hat Kant in der 'Kritik der Urteilskraft' gesagt, nur Künstler können Genies sein, weil sie aus dem Unbewussten schaffen. Und während der Wissenschaftler aus dem Bewusstsein schafft, deshalb kann er kein Genie sein. Ein Entdecker, hat Kant gesagt, wie Kolumbus ist kein Genie. Sondern nur der etwas erfindet."
    Als einen "eigenthümlichen Geist" bezeichnet Immanuel Kant den schöpferischen Menschen, das gefiel ihm besser als der Begriff Genie. Wobei eigenthümlich damals durchaus eine andere Bedeutung hat als heute.
    Borchmeyer: "Eigenthümlich heißt eben ein Geist, der ganz aus sich heraus schafft. Das kommt ja von Eigentum. Was er macht, ist sein Eigentum, ist ihm eigen und nicht vorgefertigt."
    Zum Genie wird man nicht gemacht, ein Genie ist man von vorneherein. Und das weiß man auch.
    Borchmeyer: "Wer Regeln folgt, der braucht keine Überzeugung von sich selbst zu haben, aber wer sagt, ich will von diesen Regeln nichts mehr wissen, das heißt ja, er ist von sich selbst überzeugt, sonst würde er ja die Regeln gar nicht zu durchbrechen wagen, diese Subjektivität des Genies ist das ganz Wesentliche. Dieses subjektive Selbstbewusstsein. Sonst kann ein Genie kein Genie sein."
    Nicht nur Künstler können Genies sein
    Dass es sich bei einem Genie nur um einen Künstler handeln kann, hat Kant übrigens später revidiert. Auch Wissenschaftler konnten in den erlauchten Kreis aufgenommen werden. Der um sich greifende Geniekult hatte ihn entsetzt, er entwickelte eine Aversion gegen die "Geniemänner", die "Genieaffen". Sie hatten die Aufklärung bringen sollen und nun gebärdeten sie sich gleich Eingeweihten oder Machthabern vom Weisheitssitze herab in autoritärem Ton.
    Für Barbara Beßlich, Leiterin des Instituts für Literurwissenschaften an der Universität Heidelberg ist ein Genie nicht nur jemand, der alleine im stillen Kämmerlein sitzt und sich für etwas Besonderes hält. Es braucht auch Gefolgschaft, diejenigen, die unbedingt an sein Genie glauben, die mitgehen.
    "Genie ist eine Frage von Zuschreibung."
    Napoleon
    Und nicht nur die Franzosen sahen in Napoleon ein Genie. Wie schon Shakespeare wurde auch der charismatische Aufsteiger aus Korsika vor allem in deutschen Landen als Nationalheld adoptiert. Und zwar schon zu einer Zeit, als er als General der Revolution eigentlich ein politischer Gegner war. Aber eben nicht für alle:
    Beßlich: "Da ist es eben interessant zu beobachten, dass Napoleon nur eine sehr kurze Spanne als Nationalfeind konzipiert wurde, während der Befreiungskriege, dass der Revolutionsgeneral der 1790er-Jahre begeistert rezipiert wurde, als jemand, der die Revolution trägt in andere Länder, dass dann langsam nach der Kaiserkrönung Skepsis aufkommt und als dann Napoleon nach St. Helena verbannt wird, schon sehr sehr früh auch Verklärungen wieder anfangen."
    "Was schert mich Weib, was schert mich Kind
    Ich trage weit bessres Verlangen
    Lass sie betteln gehen, wenn sie hungrig sind-
    mein Kaiser, mein Kaiser gefangen."
    Dass Napoleon Krieg über ganz Europa gebracht hatte, sah man ihm nach. Noch weit über seinen Tod hinaus beeinflusste er nicht nur die Kunst, sondern auch die deutschen Politiker, die von einem vereinten Land und einer Verfassung träumten.
    Beßlich: "Er hat natürlich auch mit dem Code civil ganz neue Rechtssicherheit gebracht und er ist jemand, der im Nachhinein, im Exil auf St. Helena, sich als großen Liberalen stilisiert hat. Er hat Memoiren diktiert, in denen er sich als viel liberaler stilisiert hat, als er war und das hat gewirkt auf den deutschen Vormärz."
    Bis ins Jahr 1848 wurde Napoleon als Kämpfer gegen die Restauration verehrt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mischten sich andere Töne in den Genie-Diskurs. Vor allem in den Schriften Friedrich Nietzsches ging es nicht mehr um bürgerliche Freiheiten, sondern um die Verehrung eines einzigartigen Menschen.
    Beßlich: "Dann ist es der große Einzelne, der als Geistesaristokrat konzipiert wird."
    Napoleon verkörperte den Wunsch vieler Deutscher nach dem starken Mann. Einer Führerfigur. Einem, den sie verehren und lieben konnten. Und der zu ihnen, der zu dem deutschen Volk passte, wesensgleich war.
    Dieses "Wir gegen den Rest der Welt geleitet von einer charismatischen Führerfigur" konnten die Nationalsozialisten für sich nutzen. Sie taten es auch. Allerdings mit Einschränkungen.
    Nationalsozialisten
    Beßlich: "Es gibt eine Napoleon-Biografie von einem Nationalsozialisten, die dann 1942 eingestampft wird. Eigentlich ist diese Biografie ganz auf Hitler zugeschrieben, Hitler ist unser Napoleon, und das ist dann etwas, was 1942 nicht mehr opportun ist."
    An Napoleons Scheitern in Russland und an sein unrühmliches Ende mochten die neuen Herrscher nicht gerne erinnert werden. Und überhaupt, wozu brauchen sie Napoleon? Die Deutschen hatten doch jetzt ein eigenes Genie an der Macht.
    Herfried Münkler: "Und dann gibt es auch das satanische Genie. Und nicht nur das Genie, dass uns Freude macht, das uns Probleme vom Halse schafft, sondern auch das Dämonische, das Satanische in genialischer Form", sagt der Politikwissenschaftler Professor Herfried Münkler von der Humboldt Universität Berlin, der im Rahmen der Heidelberger Vorträge die Frage stellen wird: "War Hitler ein Genie?"
    Münkler: "Ja, wenn wir bereit sind zu akzeptieren, dass Genie in der Regel nicht den ganzen Menschen umfasst, sondern dass es ein Einsprengsel in einer oft sehr komplexen Person ist, dann kann man schon sagen, in mancher Hinsicht hatte Hitler genialische Züge, das betrifft Fragen der Propaganda, und der Beeinflussung von Menschen."
    Schon zum deutschen Blick auf Napoleon hatte beides gehört, meint Herfried Münkler: einerseits dessen ungeheure Stilisierung fast in eine Erlöserrolle, andererseits die Bewunderung des Dämonischen, Apokalyptischen.
    Münkler: "Und das glaube ich, wiederholt sich in mancher Gestalt bei Hitler."
    Kirchhoff: "Wir verstehen das Geniale als den Menschen, der mehr leistet als die anderen, aber für die Allgemeinheit etwas Gutes tut."
    Meint der Staats- und Steuerrechtler Professor Paul Kirchhoff.
    Kirchhoff: "Ich würde mich sperren gegen den Begriff genialer Verbrecher. Er kann phantasiereich sein, unglaublich einfallsreich sein, jeder Großverbrecher meint auch, er sein listiger und verschlagener als die anderen Menschen, denn er tuts ja, weil er nicht entdeckt wird vermeintlich. Aber ich glaube, der genius ist, ich will etwas entdecken für die Menschheit. Ich will der Menschheit ein großes Geschenk machen."
    Außerdem, so gibt Paul Kirchhoff zu bedenken, sei das Recht eine sich wandelnde Größe. Was zu Zeiten Michelangelos Hochverrat war, wäre heute Vertragsbruch und würde höchstens eine Geldbuße nach sich ziehen. Michelangelo dagegen hatte sein Leben riskiert, als er dem Papst seinen Meißel vor die Füße warf und aus Rom floh, ohne das von ihm geforderte Monument vollendet zu haben.
    Borchmeyer: "Grade weil das Genie ungebunden ist, besteht auch immer die Gefahr, dass er völlig exzentrisch wird, in Wahnsinn verfällt, oder dass er zum Verbrecher wird. Diese Nähe zum Verbrechen, das hat man durchaus gesehen."
    Genies im 21. Jahrhundert
    Auch im 21. Jahrhunderts gibt es Genies, keine Frage, gibt es Wissenschaftler, die den Nobelpreis verdient haben, gibt es Erfinder und außerordentliche Künstler. Und auch der Begriff ist nicht aus der Mode gekommen. Es ist allgegenwärtig. Fast eine Art Plage.
    Literaturwissenschaftlerin Barbara Beßlich:
    Beßlich: "Der Geniebegriff ist heute inflationär im Gebrauch. ... eine Alltagsvokabel, die für alles mögliche verwendet werden kann , ein Begriff, der sich für ästhetische Debatten verbraucht hat, der eigentlich auch nicht mehr reaktivierbar ist."