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Kumpfmüller: Grass verkehrt Ursache und Wirkung

Der Schriftsteller Michael Kumpfmüller sagt, dass Grass kein Antisemit sei. Mit seinem Israel-Gedicht habe er jedoch dazu beigetragen, dass "merkwürdigen Assoziationen" wie der von Israel bedrohte Weltfrieden entstanden sei. Vorwerfen müsse man Grass allerdings, dass er keinen politischen Text geschrieben habe.

Michael Kumpfmüller im Gespräch mit Kathrin Hondl | 05.04.2012
    Kathrin Hondl: "Was gesagt werden muss" und was dann alles gesagt wurde und was wohl noch alles gesagt werden wird - heute Abend wird Günter Grass sein umstrittenes Israel-Gedicht im Fernsehen vortragen und sich dazu erklären. Hier ein Ausschnitt aus dem Interview des NDR, Günter Grass zu den kritischen Reaktionen auf sein Gedicht.

    Günter Grass im Interview: "Es ist mir aufgefallen, dass in einem demokratischen Land, in dem Pressefreiheit herrscht, eine gewisse Art der Gleichschaltung der Meinung im Vordergrund steht. Es ist eine Weigerung, auf die Inhalte, die Fragestellungen, die ich anführe, überhaupt einzugehen. Es werden alte Klischees bemüht und es ist zum Teil ja auch verletzend. Es wird sofort, was ja auch zu vermuten war, mit dem Begriff "Antisemitismus" gearbeitet. Zum Beispiel in einer der "Springer-Zeitungen" stand, "der ewige Antisemit". Ich meine, das ist eine Umkehrung des ewigen Juden, das ist schon verletzend."

    Hondl: So weit also Günter Grass zur Debatte um sein Gedicht "Was gesagt werden muss". - Wer hätte das gedacht, dass neun Gedichtstrophen solche Folgen haben können. Seit die "Süddeutsche" und noch ein paar andere Zeitungen gestern Günter Grass Gedicht "Was gesagt werden muss" abdruckten, rauscht es gewaltig im internationalen Medienwald, und wer wie die Presseagenturen heute von einer Flut der Reaktionen spricht, meint eigentlich einen Tsunami der Empörung und der Kritik. Von der "FAZ", die von einem "Dokument der Rache" spricht, bis zu den "Kieler Nachrichten", die meinen, "so wie Grass reden Antisemiten vom israelischen Außenministerium", bis zum "Corriere della Sera", von Elie Wiesel bis zum "Wall Street Journal" - überall wird Grass Israel-Gedicht heftig kritisiert.

    Über das Gedicht und die Debatte konnte ich heute Nachmittag mit dem Schriftsteller Michael Kumpfmüller sprechen, ein Autor, der Günter Grass ziemlich nahesteht, gerade auch beim politischen Engagement. 2005 waren Sie, Herr Kumpfmüller, zum Beispiel beim sogenannten "Lübecker Literatentreffen" dabei, einer Art Wahlkampfinitiative für Rot-Grün damals von einer Gruppe von Schriftstellern rund um Günter Grass. Wie beurteilen Sie dieses heftig umstrittene Gedicht von Günter Grass "Was gesagt werden muss"?

    Michael Kumpfmüller: Zuerst mal habe ich gestöhnt. Dann habe ich gedacht, "nein, nicht schon wieder so eine Debatte3, keine gehäuteten Zwiebeln, keine SS-Bekenntnisse und Enthüllungen und Debatten", weil das Spiel geht ja immer so: irgendeiner spielt mit irgendwas, was nach Nazi riecht, und dann läuft zuverlässig die Empörungsmaschine an, und das ist ja schon seit ich denken kann in der Bundesrepublik so, vom Historikerstreit bis zuletzt zu Christian Kracht, und das kann man ja eigentlich nur langweilig finden. Erstens bringt es nichts, zweitens ist die bundesrepublikanische Gesellschaft entnazifiziert, also könnte man sagen "so what!". Aber ...

    Hondl: Aber das wäre nämlich jetzt meine Frage. Zum Gedicht selbst haben Sie jetzt nämlich noch gar nichts gesagt.

    Kumpfmüller: Ich finde es ein bedenkliches Dokument. Ich bin doch ziemlich erschrocken, muss ich sagen, und bin nicht nur in diesem Punkt - das ist übrigens immer schon so - ganz anderer Meinung als Günter Grass. Natürlich ist Grass kein Antisemit und natürlich ist er kein Neonazi und natürlich ist er kein Holocaust-Leugner, und trotzdem ist er etwas, was für mich unübersehbar ist, und das nenne ich jetzt mal einen Antisemitismus aus enttäuschter, weil falsch verstandener Liebe zu "Den Juden". Alle sind erschrocken in Deutschland, viele Generationen immer wieder neu und zurecht, dass sechs Millionen - nennen wir mal diese Zahl - Juden in Europa ermordet wurden, ohne jeden Grund. Das führte in dieser langen Auseinandersetzung immer wieder dazu, sich mit den Opfern zu identifizieren, den ihnen zurecht zugewiesenen Opferstatus dahin gehend zu drehen, dass man ihnen nachträglich alle positiven Eigenschaften der Weltgeschichte zuträgt, alles Gute, alles Schöne, alles Wahre, alles Edle sollten die Juden sein, und damit sitzt man gewissermaßen schon in der Antisemitismusfalle, weil diesen Befehl, den die Juden dann aber auch gefälligst zu erfüllen haben, erfüllen sie natürlich nicht. Ich glaube, daher kommt das.

    Hondl: Na ja, gut! Aber er kritisiert sehr heftig Israel in diesem Gedicht, lässt aber den Iran außen vor, der ja, wie Sie auch schon gesagt haben, natürlich eine Bedrohung darstellt.

    Kumpfmüller: Ich bin ganz Ihrer Meinung! Ich finde das skandalös, dass er das tut, denn am Ende verkehrt er Ursache und Wirkung und da entstehen wirklich sehr merkwürdige Assoziationen, der von Israel bedrohte Weltfriede. Was mich so ärgert ist - das, finde ich, muss man ihm vorwerfen -, dass das eben kein politischer Text ist. Tatsache ist, dass - bezogen auf die reale politische Situation mit und um Israel herum - das natürlich die Dinge völlig auf den Kopf stellt und das finde ich empörend. Niemand kann wünschen, dass es zu einem Atomschlag gegen den Iran kommt. Das ist ja überhaupt nicht, das wünschen auch die Israelis nicht. Mir wäre es lieber gewesen, er hätte Israel in die Verantwortung für den Weltfrieden zu nehmen versucht, kein Mensch würde natürlich darüber reden, dann wäre es stink langweilig. Was er macht - und das muss man ihm vorwerfen; ob er ein Antisemit in welchem Sinne auch immer am Ende ist, lasse ich dahingestellt sein -, er spielt mit diesem Feuer und sollte er sich jetzt wundern, dass es solche Reaktionen gibt, dann würde ich ihm das nicht glauben, denn das war beabsichtigt.

    Hondl: Also Sie meinen, er hat das bewusst getan. - In dem Gedicht klingt ja auch an, dass es so was wie ein Vermächtnis sei. "Mit letzter Tinte geschrieben" sei es, heißt es da. Wenn man jetzt von den Reaktionen ausgeht, auch von Ihrer, scheint es ja eher, Grass hat da mit 85 Jahren und eben diesen paar Gedichtzeilen seine Reputation aufs Spiel gesetzt, oder wie sehen Sie das?

    Kumpfmüller: Ja das weiß ich nicht. Worüber wir immer gestritten haben, was man jetzt noch mal in aller Problematik sieht, ist diese Idee der öffentlichen Schriftstellerinstanz, die gewissermaßen in dem Land, das in dieser Frage angeblich schweigt, was ja so überhaupt gar nicht richtig ist, sozusagen die Wahrheit verkündet. Und da haben wir viele Gespräche auch immer wieder gehabt, weil ich gesagt habe, die nachfolgenden Generationen - die jüngeren sowieso, aber auch meine - glauben daran nicht mehr, in einer durchpluralisierten Post-Irgendwas-Gesellschaft ist das ein obsoleter und fast grotesker irgendwie Entwurf von Intellektualität, die glaubt, dass dann ausgerechnet der Schriftsteller, der sowieso marginal ist, die unbequeme Wahrheit sagt. Also es hat so was Predigerhaftes, und damit, glaube ich, tut man dem intellektuellen Diskurs in Deutschland bestimmt nichts Gutes.

    Hondl: ... , sagt der Schriftsteller Michael Kumpfmüller zur Debatte um das Gedicht "Was gesagt werden muss" von Günter Grass.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.