Donnerstag, 25. April 2024

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Kunst als zweite Schöpfung
Gegenbilder zur drohenden Zerstörung

Weltweite Kriege, Hunger und Flucht schaffen Bilder der Zerstörung und apokalyptische Ängste. Marleen Stoessel erinnert in ihrem Essay an Gegenbilder, die in Kunst, Literatur, Philosophie und Musik aufzeigen, wie sich das biblische Schöpfungswerk als ein menschliches fortsetzt und erfüllt.

Von Marleen Stoessel | 19.04.2019
Die Erde wird in rund einer Milliarde Jahre für höheres Leben zu heiß.
Die Erde im Licht der Sonne (imago / Magictorch)
Das Paradies, das wir auf Erden immerfort suchen, gab es nie. Sofern solch utopische Rückschau nicht als Verklärung, Selbsttäuschung oder bloße Weltflucht ausgelebt wird, ist in ihr ein Potenzial enthalten, das immer wieder von Künstlern als Quelle der Inspiration angezapft wurde. Doch nicht im Sinne einer Beschönigung und Beschwichtigung gegenwärtiger Nöte, sondern als Gegenentwurf, als Hoffnung.
Der Blick in den Weltraum und aus diesem zurück hat den Menschen erstmals in ihrer Geschichte erlaubt, im kosmischen Spiegel die Kleinheit und Verletzlichkeit ihres Planeten Erde zu erkennen - und zugleich seine Schönheit. Weltweite Kriege, Hunger, Flucht und Migration schaffen Bilder der Zerstörung und apokalyptische Ängste. Menschen fürchten schwindende Ressourcen und ökologische Katastrophen oder die Vermüllung der Meere, allesamt wiederum von Menschen gemacht. Jedoch sollen weniger und dystopische Ängste und Fantasien das Wort haben als die visionären Stimmen aus Kunst und Literatur.
Marleen Stoessel ergründet in ihrem Essay, welcher Haltung es dafür bedarf, welcher Wendung des Blicks, welcher Schärfung der Wahrnehmung und Sinne, welcher Offenheit und (kindlichen) Fähigkeit zum Staunen, zu Demut und Dankbarkeit? Wie lassen sich vielbeschworene Begriffe wie Identität und Daseins-Sinn neu schärfen und erhellen?
Marleen Stoessel ist promovierte Literaturwissenschaftlerin. Sie arbeitete als Hochschuldozentin, Dramaturgin und Theaterregisseurin und lebt heute als freie Essayistin und Kulturpublizistin in Berlin. Sie veröffentlichte zuletzt das Buch "Lob des Lachens - Eine Schelmengeschichte des Humors" im Insel Verlag.

Prolog
Immer gab es angesichts von Krieg und Not und Katastrophen auch Gegenstimmen - Stimmen, die nach dem Sinn all des Leidens suchten, die Utopien einer "heilen Welt" entwarfen oder auch die Erinnerung an kindliche Erfahrungen der Daseinsfreude wachriefen, an ein Paradies, das jedoch immer nur eine rückwirkende Projektion sein kann. Nicht etwa im Sinne einer Beschönigung und Beschwichtigung gegenwärtiger Nöte, sondern als Gegenentwurf, als Hoffnung, ja als Hoffnung wider Willen, umso mächtiger dort, wo sie verloren scheint.
Zerstörung zeigen - um ihr zu widerstehen!
Vor einigen Monaten waren in einer Berliner Ausstellung Werke des syrischen Malers Tammam Azzam zu sehen, der im Bürgerkrieg sein Land verlassen hatte, zunächst nach Dubai übersiedelte und seit letztem Jahr in Berlin lebt. Es waren Bilder, die das in Trümmern liegende Damaskus, seine Heimatstadt, zeigen, allesamt Collagen, nach Fotoaufnahmen aus vielen farbigen Papierschnipseln zusammengesetzt, die sich zu einem Mosaik mit einer reliefartigen Oberfläche fügen - Bilder der Zerstörung, zugleich von großer Schönheit. Auf einem dieser Bilder sieht man inmitten der Trümmer, wie als Teil von ihnen, einen Mann mit einem Kind auf dem Arm. Es braucht langes Betrachten, um zu verstehen, warum gerade dieses Bild einer städtischen Ruinenlandschaft fern jeglicher Ästhetisierung des Schreckens, die ihn bagatellisieren und seine Opfer verhöhnen würde, zugleich solche Schönheit besitzen kann. Es ist die Sehnsucht, die darin zum Ausdruck kommt, in der Andeutung menschlichen Lebens, die von Liebe und tiefer Achtung zeugt, vor der Schöpfung, dem Menschen, dem Leben. Eine Sehnsucht nach einer Ganzheit, die sich im Betrachter fortsetzt, in der Vision einer menschlicheren Welt. Mehr, Größeres vermag Kunst nicht. Es ist das Unvollkommene, ja sogar das in Trümmern Liegende, das den lebendigen Antrieb gibt und hier wie in all diesen Bildern die Sehnsucht weckt. Zerstörung zeigen "to resist destruction", so der Künstler im Gespräch - um ihr zu widerstehen! Bilder der Hoffnung. Als Gegenbilder zur Zerstörung, die der Kompass dieser Betrachtung sind.
Der Blick von oben auf die blau marmorierte Kugel
Kurz vor Weihnachten kehrte der Astronaut Alexander Gerst von seiner Mission auf der internationalen Raumstation zurück, wo er als erster Deutscher für einige Wochen als Kommandant Verantwortung trug. Zuvor hatte er sich aus seiner Raumkapsel in einer bemerkenswerten Ansprache an die künftigen Enkel, die Generation der Ungeborenen gewandt, die freilich eine Botschaft für die heute Lebenden war. Darin zählte er nicht nur die täglich sich verschärfenden Risiken auf, die das Leben, alles Leben auf dieser Erde gefährden: die hemmungslose Rodung der Wälder, die Vermüllung der Meere, die Verpestung unserer Atmosphäre mit Kohlendioxyd, den Irrwitz der Kriege. Er verband mit seinen eindringlichen Worten an die nächste Generation auch die überraschende Aufforderung, die eigenen Träume zu leben und "niemals ganz erwachsen zu werden". Als wollte er damit sagen, dass nur eine gewisse Kindlichkeit, etwas aus der Kindheit zu Bewahrendes das von erwachsenen Menschen in Gang gesetzte Zerstörungswerk unseres Planeten aufhalten könne. Dank eines Blicks, einer Unbefangenheit und Offenheit, mit der Kinder noch der Welt und ihrer Umwelt zu begegnen vermögen.
Es ist, als hätte der 42-jährige Gerst, der seine eigene erwachsene Verantwortung selbstkritisch einbezog, mit dieser erstaunlichen Bemerkung den Kern zu einem Manifest entworfen, das ein ebenso geistig wie therapeutisch wirksames Potenzial aufschließen könnte. Genauer, die Erinnerung an ein Potenzial, das allen Menschen gemeinsam und seit je in der Kunst, in den Künstlern, ob Dichter, Maler, Musiker, und immer auch in den "ingeniösen" Erfindungen der Wissenschaftler wirksam ist: die Fähigkeit zu staunen und das scheinbar fraglos Gegebene immer wieder mit neuem Blick, aus neuer Perspektive anzusehen. So wie Kinder die Welt anschauen. Als sei es der erste Schöpfungstag.
Der Verlust dieser Fähigkeit aber - und diese Einsicht schwang in Gersts Appell unhörbar mit -, die Entzauberung, Ernüchterung alles dessen, was einmal kindlicher Wunderglaube und sinnliches Vertrauen in die umgebende Welt war, hat ihren Preis. Zu hoch, wenn man bedenkt, dass es nur Erwachsene sind, die mit all ihrem hochentwickelten technologischen Verstand die Gefährdung unseres Planeten befördern. Mit seiner Aufforderung zum Träumen erinnerte Gerst indirekt zugleich an all die Gegenstimmen und Entwürfe, die sich diesem anderen Blick, dieser anderen Haltung verdanken. Es sind nicht zuletzt die visionären Stimmen aus Kunst und Literatur.
"Die Sonne" in den Worten des Dichters
Mitten im Kriegsjahr 1943 entwarf in Warschau der litauisch-polnisch-amerikanische Dichter und spätere Nobelpreisträger Czesław Miłosz eine so erstaunliche wie berührende Gedichtfolge. Ihr Titel: "Die Welt. Eine naive Dichtung". Zur selben Zeit, als er im Warschauer Untergrund gegen die deutsche Besatzung kämpfte und Zeuge des Brandes des Gettos wurde - eine Zeugenschaft, der sich eines seiner berühmtesten Gedichte "Campo di Fiori" verdankt. Zur selben Zeit dichtete er fast wie im Märchenton schlichte, scheinbar kindliche Verse, die eine heile Welt der Kindheit heraufbeschworen, um inmitten des barbarischen Tötens das Kostbarste zu schützen: das Leben. Die Achtung, die Ehrfurcht vor jeglichem Leben, seinem Versprechen, die sich im Kind, in seinem Vertrauen, seiner Neugier auf die Welt noch bewahrt. Eine bewusst erschaffene Idealität, in vollem Gegensatz zur Realität - als eine nur in der Erinnerung auftauchende Oase, eine Glaubensinsel, die zwar Zuflucht, aber keinesfalls Eskapismus, ein Verschließen der Augen vor den ihn umgebenden Schrecken bedeutet. Vielmehr, um dem Entsetzen standzuhalten, ruft er diese Erinnerung wach, als Kraftquelle und Halt. Der 20 Gedichte enthaltende Zyklus endet mit dem Gedicht "Die Sonne":
"Die Farben macht die Sonne. Doch ihr Licht
Hat selber keine, weil sie alle birgt.
Die ganze Erde ist wie ein Gedicht,
Die Sonne der Poet, der es bewirkt.
Wer die Welt malen will, so bunt sie ist,
Darf nie gerade in die Sonne sehn,
Weil er sonst das Gesehene vergißt
Und ihm nur Tränen in den Augen stehn.
Knien soll er, den Blick aufs Gras gesenkt,
Die Strahlen sehn, wie sie die Erde bricht.
Und das Vertane wird ihm neu geschenkt:
Rose und Stern, Dämmrung und Morgenlicht."
Ähnlich wie jüdischen Emigranten und Überlebenden der Shoa haben sich dem Exilanten Miłosz, im Widerstand gegen zwei totalitäre Regime - erst den Nationalsozialismus, dann den Stalinismus - die katastrophischen Erfahrungen des letzten Jahrhunderts tief eingeprägt. Die verzweifelte Suche nach dem Sinn solcher Kämpfe führte ihn, wie sich in der letzten Strophe des Gedichts andeutet, zu einem "Kniefall", zur Verneigung vor der Schöpfung, zur Einsicht, dass alles Dasein seinen Sinn in sich selber trägt, dass es keine Erklärung, keine Rechtfertigung dafür gibt, dass es ist, wie es ist. Dass wir den Sinn des Lebens selber setzen, ihn uns selber geben müssen, in eigener Verantwortung und Mündigkeit.
Hiobs Verstummen als Rebellion
Hier berührt der liberale Katholik, der das "Buch Hiob" und die "Psalmen" übersetzte und dafür in hohem Alter noch Hebräisch lernte, Gedanken aus der buddhistischen Philosophie. Auch im Gespräch bezog er sich auf Hiob, auf die dort gestellte Frage nach der Theodizee, der Rechtfertigung Gottes für das Leid und die Ungerechtigkeit in der Welt. Und er verwies emphatisch auf die Antwort, die Gott in seinen zwei Reden gibt, als er sich aus dem "Wettersturm", wie es bei Luther heißt, an Hiob wendet, der Anklage gegen ihn erhoben hat. Eine Antwort, die eine einzige glanzvolle rhetorische Frage aus einer Fülle von Scheinfragen ist, in denen Gott Hiob in poetisch dichten Bildern die Pracht seiner Schöpfung vor Augen führt und sie ihm als einziges, nicht hinterfragbares Argument entgegenschleudert:
"Ich will dich fragen, lehre mich! - Wo warst du, als ich die Erde gründete? Sage mir's, wenn du so klug bist! (...) Hast du zu deiner Zeit dem Morgen geboten und der Morgenröte ihren Ort gezeigt, damit sie die Ecken der Erde faßte und die Gottlosen herausgeschüttelt würden? (...) Welches ist der Weg dahin, wo das Licht sich teilt und der Ostwind hinfährt über die Erde? Wer hat dem Platzregen seine Bahn gebrochen und den Weg dem Blitz und Donner(...) Wer hat die Tropfen des Taus gezeugt?(...) Kannst du die Bande des Siebengestirns zusammenbinden oder den Gürtel des Orion auflösen? Kannst du die Sterne des Tierkreises aufgehen lassen zur rechten Zeit oder die Bärin samt ihren Jungen heraufführen? Weißt du des Himmels Ordnungen, oder bestimmst du seine Herrschaft über die Erde? ..."
Und Hiob verstummt. Doch er hat rebelliert, nicht nur im eigenen, sondern im Namen aller Opfer von Ungerechtigkeit und Leid. So wie auch Miłosz und so viele andere im Widerstand gekämpft haben, physisch und geistig, und weiterkämpfen bis heute. Aber das Argument, der Hinweis auf die Schöpfung, die, verhüllt und unerklärbar, ihren Sinn in sich selber trägt, hat ihn zugleich Demut gelehrt. Und uns die Einsicht, dass Recht und Unrecht menschliche Kategorien sind, dass es unsere Aufgabe ist, die Welt gerechter, sie menschlicher zu machen.
Ob mit oder ohne Gott, ob mit oder ohne Religion - Hiobs Verstummen lehrt vor allem die Achtung, ja die Ehrfurcht vor der Schöpfung als solcher, deren bedrohte Herrlichkeit, deren innere Ordnung und Gesetzmäßigkeit genauso ein unleugbares Faktum ist wie das dauerhafte Leid der Menschen. Für beides gilt es, offen zu sein. Auf höchst sinnige Weise macht Miłosz in seinem Gedicht die Sonne zum Poeten, so wie die Bibel die Schöpfung zum Gedicht: "Und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser"- mit diesem leisen wundervollen Bild, nicht etwa einem Urknall, setzt die "Genesis" ein. Urinspiration für alle Kunst, für Dichtung und Musik - so wie für Haydns berühmtes Oratorium, dem wiederum als Text nicht nur Teile aus der "Genesis" und den "Psalmen", sondern auch Abschnitte aus John Miltons großem epischen Gedicht "Paradise lost" zugrunde liegen. Denn wofür Religionen Erlösungsangebote machen, Philosophien Systeme entwickeln, um dem Leiden Sinn zu geben - das ist in aller wahren Kunst seit je und immer wieder neu als Spannung angelegt: als Spannung zwischen Rebellion und Bescheidung, zwischen irdischer Not und der immerwährenden Suche nach Harmonie, der Sehnsucht nach einer Ganzheit - aller Brüchigkeit, allem Leiden, aller Dissonanz zum Trotz.
Haydns Schöpfung als Gedenkkonzert in Assisi
Aus dieser Spannung gingen so unvergleichliche Töne hervor, wie die im "Heiligen Dank eines Genesenden an die Gottheit" in Beethovens spätem Streichquartett 132. Geradezu überirdische Klänge einer Erlösung, die ohne die Zerrissenheit und Verzweiflung ihres Urhebers nicht möglich wären. Die alle Fragen nach dem Sinn des Daseins für Augenblicke verstummen lassen und jenen Kniefall ausdrücken, von dem Miłosz spricht.
Am 5. August 1990, am Vorabend des 45. Jahrestags von Hiroshima wurde in Assisi, in der berühmten Basilica di San Francesco Haydns "Schöpfung" aufgeführt. Etwa 200 Jahre zuvor war sie entstanden - auch ihr haben Kritiker und Interpreten eine "kindliche Qualität", ein "kindliches Auge auf die Welt" nachgesagt. Initiator war die Vereinigung "Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges". Teilgenommen haben unter der Leitung des israelischen Dirigenten Moshe Atzmon 160 Musiker aller Kontinente. Alle verzichteten auf ihr Honorar, um wie es heißt, "gemeinsam durch die Sprache der Musik eine unüberhörbare Botschaft zu bringen: 'Die Schöpfung' - das Gegenbild zur Zerstörung"
"Aus Rosenwolken bricht
geweckt durch süßen Klang,
der Morgen jung und schön.
Vom himmlischen Gewölbe
strömt reine Harmonie
zur Erde hinab."
So singt, begleitet von drei Flöten, der Tenor des Erzengels Uriel - es ist, als hörten wir den Klang der Sphären selbst, der sich nicht nur über 200 Jahre, sondern ungezählte Lichtjahre hinweg bis zu uns ausbreitet.
Das Gedenkkonzert fand vor knapp drei Jahrzehnten statt, aber derzeit scheint sich der Impuls zu erneuern, Gegenkräfte zu mobilisieren, die angesichts der wachsenden Bedrohungen durch die menschengemachten Verheerungen Zeichen eines sich entwickelnden ökologischen Bewusstseins sind.
Bilder von Zerstörung in Kunst, Film und Literatur
Filme wie "Eldorado" des Schweizer Regisseurs Markus Imhoof, der nicht nur den weltweiten Abbau der Ressourcen zeigt, sondern auch die skrupellose Ausbeutung der Flüchtlinge auf europäischem Gebiet zum Thema hat, machen nicht nur den Grad des Verlustes ökologischer wie moralischer Werte deutlich, sondern auch, wie im globalen Netzwerk die Abhängigkeiten sich ausweiten und eins ins andere greift.
Ein fatales Bild, welches Imhoofs bewegende Recherche von unserem Planeten zeichnet und dem ein anderes mit Wim Wenders Film "Salz der Erde" von 2014 korrespondiert: Dieser zeigt ein Portrait des brasilianischen Dokumentarfotografen Sebastião Salgado, der an allen Kriegs- und Schreckensschauplätzen der Welt zugegen war. Am Ende hat ihn das Gesehene krank gemacht und er entwickelt im Rahmen der Wiederaufforstung eines verwüsteten Gebiets in seiner Heimat ein neues Projekt, das nicht von ungefähr "Genesis" heißt, mit dem er sich der Schöpfung zuwenden will und allem, was uns kostbar ist. Ein Antidot und zugleich mehr als nur ein therapeutisches Mittel für ihn selbst. Denn ich muss ein Bild, ja eine Vision entwickeln, um dem zuvorzukommen, was die gewissermaßen "erwachsene", hochentwickelte, oft genug über Leichen gehende Ratio an Schäden und Auswüchsen hervorbringt. Nur dies ist der Sinn einer aktiv träumenden, nicht etwa einlullenden, illusionistischen Utopie. Entsprechend stellte um das Jahr 2000 der große kirgisische Schriftsteller Tschingis Aitmatow mit Blick auf den technologischen Fortschritt einmal fest:
"Hierbei wurde ein fundamentales Gesetz des Universums verletzt, das da lautet: Das Niveau der geistigen und sittlichen Entwicklung der menschlichen Gemeinschaft sollte stets ein wenig höher sein als das Niveau des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Nur dann erwächst aus den großartigen Leistungen der Wissenschaft und Technik auch die Verantwortung für das allgemeine Wohl der Menschen, für die Vorsorge vor Hunger, Verelendung und Krankheiten in den verschiedenen Teilen des Erdballs."
Aitmatows Statement liegt fast 20 Jahre zurück, jenes Gedenkkonzert in Assisi fast 30 Jahre, heute aber vervielfältigen sich die Zeichen. So hat im vergangenen Jahr der kalifornische Lichtdesigner James Turrell in der Kapelle des Dorotheenstädtischen Friedhofs in Berlin ein Lichtspiel installiert, das jeden Abend nach Sonnenuntergang beginnt und gut eine Stunde lang Altar und Raum in wechselndes Licht taucht, gleichsam polyphon, langsam und kaum merklich, bis am Altar unendlich zart ein Licht wächst, als bräche der Morgen an, allmählich aufglüht und schließlich mit allen glänzenden Fanfaren der Sonne strahlt - wie ein lichtströmender Kommentar zu jenem Moment in Haydns Schöpfung, wo Flöten und Geigen im Crescendo den Aufgang des Lichts begleiten, bis wieder der strahlende Tenor des Erzengels Uriel erklingt und dann im Pianissimo der Mond aufgeht:
"In vollem Glanze steiget jetzt
die Sonne strahlend auf;
ein wonnevoller Bräutigam,
ein Riese, stolz und froh,
zu rennen seine Bahn -
mit leisem Gang und sanftem Schimmer
schleicht der Mond die stille Nacht hindurch…"
Auch bei Turrell ist es ein: "Es werde Licht!" - der erste Schöpfungsakt. Der Künstler wiederholt damit in seiner Kunst etwas von diesem Licht-Werden, als zweite Schöpfung, als Werk des Menschen. Denn Licht ist gewissermaßen die Ur-Metapher, welche die kulturelle Entwicklung der Menschheit begleitet, in der das Licht der Schöpfung, des Lebens, sich mit dem Licht der Erkenntnis paart, auch mit dem der "Aufklärung" in deren wörtlichem und historischem Sinn.
"Kunst ist nichts anderes als das Licht der Natur", formulierte es einmal Goethe. Wir müssen dieses Licht nur finden, es weitertragen und unser Sehen dafür schulen. Denn die schlichte Botschaft lautet: Wir Menschen sind es, die das Schöpfungswerk eigenverantwortlich mit unseren menschlichen Mitteln zu erhalten und zu vollenden haben.
Unter eben demselben göttlichen Schöpfer-Wort "Es werde Licht" erschien vor knapp zwei Jahren ein Buch des Theologen/Musiker/ Psychologen ‑ Paars Frido und Christine Mann, geborene Heisenberg, das am Beispiel der Quantenphysik das alte abendländische Problem der Spaltung, des Dualismus von Körper und Geist, aufzuheben sucht. Doch nicht nur im zweckfreien Sinne rein mathematisch‑physikalischer Spekulation, sondern mit Blick auf die Gefährdung unseres Planeten in all ihrem ökologisch-technologisch-militärischen Ausmaß. Die beiden Autoren fordern schlicht ein "neues Denken" und weisen aufgrund der Erkenntnisse der Quantenphysik nach, wie dieses andere Denken dem "östlichen" Denken näher kommt, das in Kunst und Mystik, auch in der abendländischen, intuitiv schon immer wirksam war. Ein ganzheitliches Denken, welches das Subjekt nicht außerhalb, nicht getrennt vom Objekt begreift - welches vielmehr die Cartesianische Trennung von Geist und Materie, von Geist und Körper aufhebt, indem es im Sinne der Quantentheorie die Materie selbst als verdichtete Energie, als Geist begreift.
Neues Denken mit Quantenphysik
Mit diesem Ansatz aus der Quantentheorie, mit ihrem zugleich interdisziplinären Ansatz stellen die Ausführungen der Manns ein emphatisches Plädoyer für den Zusammenschluss beider Denkformen dar, um ihn für die Lösung der globalen, systemischen und ökologischen Probleme fruchtbar zu machen. Was zu allererst das Ende jeglicher Hybris bedeutet, mit welcher sich der Mensch über die Natur erhebt, das Ende seiner skrupellosen Herrschaft und Ausbeutung, indem er sich vielmehr als kleines Glied in jenem großen Gefüge begreifen lernt, das als Ganzes mehr als die Summe seiner Teile ist, die ihrerseits das Ganze spiegeln.
Man muss nicht gottgläubig sein, um für diese Erfahrung der Transzendenz, für das Bewusstsein von etwas, das mehr ist als wir selber, offen zu sein, auch wenn es nicht erklärbar, nicht lösbar ist wie das Rätsel des Lebens selbst. Kunst, Musik, Literatur bewahren diese Erfahrung stets als ihr Geheimnis. "Deus sive natura" lautete die Einsicht des Philosophen Baruch Spinoza. Materie respektive Natur und Geist sind eine Substanz, in der das Göttliche waltet. Das war im 17. Jahrhundert. Ein Pantheismus, der aus der Betrachtung der Natur erwächst und den auch Goethe ein Jahrhundert später teilte. "Alles ist Wechselwirkung", so hat wiederum zu dessen Zeit der große Forschungsreisende Alexander von Humboldt bekannt. Ein kosmisches Orchester, in dem alle Lebewesen und ebenso die anorganische Natur unlösbar miteinander verbunden sind, mit dem Menschen gleichsam als seinem Konzertmeister.
Um so miteinander musizieren zu können, müssen die Menschen in der Lage sein, sich zu öffnen, einander zuzuhören. Auch hier ist es die Intuition der Kunst, die Visionen freisetzt. Etwa das West-Eastern-Divan Orchestra, in dem israelische und palästinensische Musiker gemeinsam musizieren. Seinerzeit von Daniel Barenboim und dem 2003 verstorbenen arabischen Literaturwissenschaftler und Orientalisten Edward W. Said gegründet, feiert es in diesem Sommer bereits sein 20-jähriges Bestehen, durch alle Konflikte hindurch, über allen Konflikt hinweg. Oder das vor nicht langer Zeit gegründete Babylon-Orchestra, das unter Leitung des russischen Geigers und Komponisten Mischa Tangian ein internationales Ensemble samt seinen interkulturellen Instrumenten vereint und etwa Bach oder Mahler auch mit Oud oder Kamanche aufführt. So dass ein Netz, ein Klangnetz entsteht, in dem die verschiedenen Elemente neue Klangräume eröffnen und alte bekannte Erfahrungen und Traditionen wie die von Bach aufbrechen, neu hören lassen, neue Dimensionen in ihnen erschließen. Gehalten, gestützt durch den einen gemeinsamen "Geist", förmlich die eine "Kernenergie", die alle durchströmt und bewegt. All die inflationären Fragen und Diskussionen über Identität erledigen sich hier von selbst. Oder, wie Barenboim einmal feststellt:
"Musik allein kann selbstverständlich nicht den israelisch-arabischen Konflikt lösen. Jedoch gibt sie dem Einzelnen das Recht und die Verpflichtung, sich vollständig auszudrücken und dabei dem Nachbarn Gehör zu schenken."
Gerade das Beispiel dieser beiden Orchester zeigt, wie statt des ständig befürchteten Crashs der Kulturen durch die neuen globalen Flüchtlings- und Migrationsbewegungen vielmehr eine wirkliche Begegnung, eine Bereicherung der jeweiligen Traditionen und "Identitäten" möglich ist und dass allein dies der Sinn von Globalisierung sein kann, nicht etwa nur der aus den Zuwanderern zu schlagende wirtschaftliche Profit. Mit dem Fortschreiten wissenschaftlicher Erkenntnisse und zuletzt der Quantenphysik kommen wir vielen Rätseln näher. Doch es bleibt uns ebenso die Achtung vor dem Unerklärbaren aufgegeben, vor jenen letzten Geheimnissen der Schöpfung, die der Tod und das Leben sind.
Sehnsucht nach Demut und Staunen
In diesem Jahr begehen die Menschen der Welt noch ein anderes Jubiläum: 50 Jahre sind vergangen, seitdem der erste Mensch den Mond betrat. Ein - wir erinnern uns an Neil Armstrongs berühmtes Wort - nicht mehr messbarer, sondern ein qualitativer Sprung in der Geschichte der Menschheit. Wir alle kennen seit Jahren die Aufnahmen von unserem Planeten, eine blau marmorierte Murmel, leuchtend im Dunkel des Weltalls - kaum einer, den ihre Schönheit nicht berührte und in Bann zöge. Kosmische Spiegel, in denen wir die Kleinheit und Verletzlichkeit unseres Planeten erkennen und unsere Winzigkeit darin. Eine Botschaft, die - Gerst und Armstrong und ihre Kollegen haben es immer wieder betont - heilsam für uns sein, uns Bescheidenheit und Demut lehren kann, auch gegenüber dem Griff nach Mond und Sternen. Und neu das Staunen.
Immer schon, zumal in Ursprungsmythen und in den großen Religionen, haben die Menschen vom Paradies geträumt, es als verloren betrachtet, obgleich es doch nur einer Sehnsucht entsprang, die das stets von Mangel, wenn nicht gar Not und Elend bestimmte Dasein in ihnen erzeugte. Es ist die immerwährende Sehnsucht nach innerem und äußerem Frieden, nach innerer und äußerer Ganzheit, welche jedoch nur flüchtig, in Augenblicken des Glücks erfahrbar ist. In der Natur und in der Kunst wirkt diese Sehnsucht fort, gerade auch dort, wo, mehr noch als Konflikt, wo Verzweiflung und Zerstörung selbst das Thema sind. Wo das Schöne ex negativo entspringt, mit einer Kraft, die aus eben dieser Sehnsucht keimt und treibt. Die Bilder von Tammam Azzam sind dafür ein Beispiel von vielen. Sie lehren zugleich das Sehen, ganz in dem Sinne, wie es Paul Valéry einmal formulierte: "Kunst sollte uns immer lehren, daß wir nicht gesehen haben, was wir sehen." Seine Bilder so wie all die anderen hier geschilderten Visionen bezeugen ebenso, dass dieselben Kräfte, die in allem Zerstörerischen wirken, auch in solche des Aufbaus, des Lebens verwandelt werden können.
Einstein am Himmelstor
Ein arabisches Sprichwort sagt: "Geduld und Humor sind zwei Kamele, mit denen du durch jede Wüste kommst." Mit aller Kunst und Wissenschaft ist es nicht zuletzt auch der Humor, der den Blick freimacht für neue Perspektiven, für Offenheit, kindliches Staunen und Toleranz. Weshalb Einstein, der diese Gabe nicht ohne Grund hochhielt, hier das vorletzte Wort haben soll, in einer ebenso schön erfundenen wie tiefsinnigen Geschichte - eine Anekdote eher als ein Witz:
"Einstein kommt nach dem Tod ans Himmelstor, wo ihn Petrus hochachtungsvoll empfängt. Er teilt ihm mit, dass er aufgrund seiner großen irdischen Verdienste einen Wunsch frei hätte. Einstein ist erfreut und bittet um eine Audienz beim lieben Gott. Dieser empfängt den Nobelpreisträger a. D. wohlwollend auf seiner Wolke und fragt ihn, was er wünsche. Einstein sagt, er möchte gern die Weltformel wissen. Sehr gern, antwortet der Herrgott jovial und beginnt sogleich auf einer großen Tafel eine Zahl an die andere zu reihen, Formeln und Wurzeln und Potenzen aufzumalen. Einstein folgt dem gespannt und neugierig, wird immer unruhiger, bis er schließlich herausplatzt: Aber lieber Gott, das ist ja voller Fehler! Darauf der Herrgott gelassen: Ich weiß."