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Kunst des Überlebens

In seinem Debütroman macht sich der 45jährige Arnold Thünker auf die Suche nach einer gestohlenen Kindheit. Der Ich-Erzähler erinnert sich an ein Dorf in den 60er und 70er Jahren, mit einem Wirtshaus, in dem er als Thekenkraft, Gläserwäscher und Putzhilfe schuften musste. Kinderarbeit war kein Thema, die Erwachsenen waren noch von der Nachkriegszeit geprägt: Es ging vorrangig ums Überleben. Überraschend ist das Motto, das Arnold Thünker seinem Buch über diese harte Jugend voranstellt, es ist der Satz von Jean Paul:

Von Eva Pfister | 07.06.2004
    "Die Erinnerung ist das einzige Paradies, woraus wir nicht vertrieben werden können."
    Dieses Motto, so denkt man nach der Lektüre, kann doch wohl nur ironisch gemeint sein. Aber Arnold Thünker sieht das anders.


    Nein, nicht ganz. Ich glaube, auch eine schlechte Erinnerung ist eine Erinnerung. Und ich finde, Erinnerung ist deswegen spannend, weil sie sich selber verändert. Weil sie Schichten hat, die sich übereinander legen – nehmen wir wie Erdschichten, ich komme aus einer Gegend, wo die Vulkane zwar schlafen, aber wenn man in die Erdgeschichte schaut, schlafen sie an sich nicht ganz richtig – und dieses Motto hat mich sehr inspiriert, Geschichten zusammenzutragen, die teils begegnet sind, teils erzählt bekommen habe, und die zu einer Geschichte zusammenzufügen mit einer Person, die eine Erinnerung hat, und dann spielt die Welt in die Erinnerung dieser Person immer wieder rein.

    Auch Arnold Thünkers Roman spielt in der Gegend, wo die Vulkane schlafen, aber in der Tiefe weiter leben. Schauplatz von Keiner wird bezahlen ist ein Ort, dessen Unterdorf am Rhein liegt, dort, wo er seine romantische Phase gerade hinter sich hat. Vom Oberdorf aus kann man die kegelförmigen Berge der Eifel sehen oder auf der anderen Rheinseite ein Schloss mit 365 Zimmern, an dem sich die Sehnsucht jener festmachen kann, die sich im Dorf gefangen fühlen. Es geht zuweilen brutal zu in dieser engen Welt, aber Arnold Thünker will keine Schauergeschichten erzählen, sondern das Dorf mit seinen vielfältigen Charakteren zum Leben erwecken, mit seinen originellen Bräuchen und mit dem Zusammenhalt, der neben den Einsamkeiten auch besteht. "Der kleinste Wirt", wie ihn einer der gemütlicheren unter den Kneipenhockern getauft hat, ist nicht nur unglücklich. Er hat gelernt, mit dem versoffenen Vater zu leben und seine Mutter zu beschützen. Aber er kann auch mit den anderen Dorfbewohnern umgehen, er kennt ihr Schweigen und hört zu, wenn sie reden müssen.

    Das sind diese kleinen, schönen und wichtigen Zusammenhänge, die auch Inspiration war oder der Grund, dieses Buch zu schreiben, miteinander umzugehen in diesem ja teilweise auch depressiven Milieu, da trotzdem das Gute drin zu sehen, wie der Ich-Erzähler es selber erfährt: bei einem Menschen, der sich praktisch den Verstand wegtrinkt, lernt er praktisch Mathematik. Ich wollte einfach diese ganze Welt spiegeln, und möchte damit auch dem Leser eröffnen, dass er seine Erinnerung mal ernst nimmt und nicht in gut und schlecht teilt.

    Und doch erscheint einem diese namenlose Ich-Erzähler oft wie ein missbrauchtes Kind: Es ist natürlich die Liebe zur Mutter, die ihn so viel arbeiten lässt. Er ist ihre emotionale Stütze und ihre wichtigste Arbeitskraft, und so muss er am frühen Abend den Mist aus dem Schweinestall noch auf den Haufen schieben, während seine Schulkameraden, schon müde vom Spielen, vor dem Fernseher sitzen dürfen. Der große Einschnitt in das Leben des Jungen geschieht, als er sechzehn Jahre alt ist. Da stirbt seine Mutter, und während er beim Leichenmahl - wo eben "keiner bezahlen wird" - Bier und Schnaps ausschenkt, beobachtet ihn ein fremder Gast, einer der Zugezogenen, die sich am Dorfrand ihre Häuser bauen, und fragt ihn plötzlich, wie es ihm denn gehe. Es ist der erste Mensch, der ihm diese Frage stellt. Und dieser Mann, Ernst heißt er, lädt ihn auch in sein Haus ein. Für den Jungen öffnet sich damit eine neue Welt, erst recht, als ihn Nadine, die Ehefrau von Ernst, verführt. Für die Leser des Romans wird aber deutlich, was der glücklich verwirrte Sechzehnjährige nicht merkt, nämlich, dass ihn diese Nadine als Sexualobjekt benutzt, so wie er eben immer benutzt wurde. Eigentlich eine Fortsetzung des Missbrauchs. Oder lese ich zuviel in Ihren Roman hinein, Arnold Thünker?

    Nein, das tun Sie nicht. Und ich verrate Ihnen jetzt den Arbeitstitel, mit dem ich zwei Jahre gelebt habe, das hieß: Der nackte Tausch. Und diese beiden Frauen in dem Roman gehen ineinander über. Es ist die Mutter, die verschwindet, und es kommt jemand anders, die kaum etwas besseres zu bieten hat für den Jungen, und trotzdem ist es sein Leben, das muss er bestehen, und dieses kleine kurze sexuelle Glück kann er ja noch gar nicht genießen, denn er denkt ja, er ist verliebt. Und sie verführt ihn systematisch, und so wechseln sie beide ihre Gefühle oder tauschen sie aus, und ich finde, es ist nicht zuviel gesagt, wenn man sagt, auch sie nutzt den Jungen aus.

    Arnold Thünker erzählt die Geschichte des Jungen in einfachen, kurzen Sätzen und in vielen Rückblenden, entsprechend den bewegten Schichten der Erinnerung: Die eigentliche Handlung setzt mit dem Tod der Mutter ein und spielt im darauffolgenden Winter. Die Gastwirtschaft wird aufgegeben, der Junge flieht vor dem Vater in den Wald, dort haust er in einem verlassenen Feriendorf und wartet auf die hastigen Besuche von Nadine. Jeden Morgen steigt er den Wald hinunter zur Bahn, um zu seiner Lehrstelle zu fahren. In dieser chaotischen Zeit lernt der Junge nun jene Welt kennen, die ihm in seiner Dorf-Gaststube versperrt war: War vorher sein Horizont durch Arbeit und Prügel, Schnaps und Schweigen begrenzt, so öffnet er sich nun: Die neuen Menschen trinken Wein und rauchen Marihuana, sie befragen ihre Bedürfnisse, reden über Probleme und gehen zum Therapeuten. Ernst, der wie ein unglücklicher Schutzengel über den Jungen wacht, schickt sogar ihn dahin. So lebt der Pubertierende in einem Spagat zwischen zwei Welten, oder wie der Autor es bezeichnet, im freien Fall.

    Ich sehe das nicht als Spagat, sondern es ist ein Fallen, aus einer Welt hinaus, man wird aus einer Welt hinausgestoßen, durch den Tod der Mutter, wie es ihm hier passiert, und auf der andern Seite ist man in der anderen Welt noch nicht angekommen, man hört praktisch nur das Rauschen des Falls, und das sind halt eben so Worte wie Marihuana, Therapie, und das ist diese Welt, die dieser Junge erlebt, und irgendwann in diesem Buch schlägt er ja auch auf, aber Gott sei Dank, er schlägt bei sich selber auf. - Und es ist ja seine Sehnsucht immer gewesen, er weiß, es gibt eine Welt außerhalb des Dorfes, die Frage ist für ihn: Wie komme ich dahin?

    Der Ich-Erzähler genießt also durchaus die neuen Dimensionen, die sich ihm auftun. Man geht ins Kino und ins Theater, einmal reist er sogar mit Nadine nach Holland ans Meer. Aber in der Beziehung schleicht sich zunehmend Traurigkeit ein, als der Junge spürt, wie einsam er eigentlich darin bleibt. Auch der Therapeut kann nicht helfen. Als der junge Klient ihm von einer brutalen Auseinandersetzung mit dem Vater berichten will, versagt der Therapeut, "der Gewalt verabscheute und mich zum Schweigen brachte."

    Das liest sich sehr endgültig, als hätte der Junge daraufhin niemandem mehr von seinen Problemen erzählt. Vielleicht ist es sogar so, dass erst dieses Buch das Schweigen gebrochen hat. Aber Arnold Thünker will seinen ersten Roman nicht ausschließlich autobiographisch verstanden wissen, und noch weniger als Anklage. Dennoch drängt sich nach der Lektüre der Gedanke auf: Hier ist einer gerade noch einmal davongekommen.

    Arnold Thünker
    Keiner wird bezahlen
    Kiepenheuer & Witsch, 160 S., EUR 16,90