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Kunst entzündet sich gerade an dem, was schwierig ist

Erst in seinem 50. Lebensjahr schrieb Igor Strawinsky sein erstes Werk für Violine und Klavier. Er musste dafür eine schwierige Hürde nehmen: die Zusammenführung von zwei Instrumenten, die klanglich nicht zueinander passen wollen.

Von Raoul Mörchen | 13.06.2011
    Ich möchte Ihnen heute die Aufnahme eines sehr überschaubaren Gesamtwerks vorstellen – des Gesamtwerks für Violine und Klavier von Igor Strawinsky. Denn die Kombination dieser beiden Instrumente war für Strawinsky keine Selbstverständlichkeit mehr, so wie für Mozart, Beethoven, Schumann oder Brahms. Strawinsky hatte seine Probleme damit – Gott sei Dank, darf man sagen, denn diese Probleme haben ihn, wie wir hören werden, zu einigen wunderbaren Lösungen geführt. Die niederländische Geigerin Isabelle van Keulen und der finnische Pianist Olli Mustonen stellen diese musikalischen Lösungen vor – auf einer Doppel-CD, die erschienen ist beim Label Newton Classics.

    "Duo Concertant, 1. Satz: Cantilène"

    Man mag es kaum glauben. Mit dieser Cantilène betritt Igor Strawinskys in seinem 50. Lebensjahr ein Feld, das andere Komponisten schon im Jugendalter beackert haben. Es ist sein erstes Werk für Violine und Klavier. Strawinsky beginnt die Arbeit daran Ende 1931 – in den nächsten sieben Monaten wird er der Cantilène vier weitere Sätze nachreichen und am Ende "Duo Concertant" als Titel darüber schreiben. Um die für Generationen so selbstverständliche Verbindung von Violine und Klavier hatte er sich bisher erfolgreich herum gedrückt.

    "Duo Concertant, 2. Satz: Églogue I"

    Er kenne sich mit der Geige einfach nicht gut genug aus, hatte sich Strawinsky wiederholt entschuldigt. Eine merkwürdige Aussage von einem der technisch versiertesten Komponisten seiner Zeit, vom Autor der Geschichte des Soldaten, in dem die Solovioline die Hauptrolle spielt, eine merkwürdige Aussage vom Autor so brillanter Orchesterpartituren wie dem Sacre, dem Feuervogels, der Petruschka. Für die Violine hatte er bis dato schon sehr viel geschrieben, und niemand hatte Strawinsky zu unterstellen gewagt, dass er es nicht recht könne. Die Probleme liegen woanders: Sie treten offen zutage, als der legendäre Verleger Willy Strecker dem Komponisten gegenüber den jungen Geiger Samuel Dushkin erwähnt und Strawinsky fragt, ob er für ihn nicht ein Konzert schreiben könne. Strawinsky gibt die bekannte Antwort, doch Strecker lässt nicht locker: Was er selbst nicht wisse von er Geige und ihrer Spieltechnik, das könne Dushkin ihm ohne weiteres beibringen. Und so kommt es auch.

    "Duo Concertant, 2. Satz: Églogue I"

    Das Violinkonzert, das nun in enger Zusammenarbeit mit Dushkin im Laufe des Jahres 1931 entsteht und im Oktober mit großem Erfolg uraufgeführt wird, dieses Violinkonzert bricht den Damm. Strawinsky ist mit seiner Arbeit hoch zufrieden und auch mit seinem jungen Freund, mit Samuel Dushkin. Der spielt virtuos, aber sachlich, ohne die romantische Exzentrik, den Schwulst der Selbstdarsteller, die Strawinsky verabscheut. Da ihn zur gleichen Zeit mal wieder Geldsorgen quälen, fasst er einen folgenreichen Plan: Er will mit Dushkin auf Tournee gehen, den Geiger am Klavier begleiten. Da gibt es nur ein Problem. Weil Strawinsky ausschließlich Strawinsky spielt, fehlt das Repertoire. Der Komponist macht sich also an die Arbeit. Dafür muss er eine schwierige Hürde überspringen: Er muss zwei Instrumente kompositorisch zusammenführen, die klanglich nicht zueinander passen wollen – das zumindest hat er bis dahin geglaubt. Strawinsky überwindet auch dieses Hindernis, dank Dushkin und dank der Einsicht, das Kunst sich gerade an dem entzündet, was schwierig ist. Über die Arbeit an seinem Duo Concertant schreibt er später: "Ich stellte mir die Aufgabe, ein lyrisches Werk zu schreiben, und ich lernte dabei mehr denn je die Vorzüge strikter Disziplin zu schätzen, zu schätzen, was Handwerk bedeutet und welche Genugtuung es bereitet, dieses Handwerk anwenden zu können."

    "Duo Concertant, 4. Satz: Gigue"

    So also entstehen die fünf Sätze des Duo concertant, Strawinskys einziger Originalkomposition für Violine und Klavier. Für ein ganzes Konzertprogramm viel zu wenig. Es sind vermutlich eher praktische Gründe, die zur Entscheidung führen, den Rest des nötigen Repertoires mit Transkriptionen zu füllen. Das Duo hatte den Komponisten ein halbes Jahr gekostet, der Tourneestart mit Dushkin nahte, und so blätterten Komponist und Geiger durch ältere Werke und arrangierten sie kurzerhand: manchmal mit wenigen Änderungen wie im Falle des Divertimento, das der Ballettmusik "Der Kuß der Fee" genau abgeschaut ist, manchmal durch substantielle Eingriffe in die Vorlage, wie im Falle der 1920 entstandenen neo-barocken Orchesterpartitur "Pulcinella", die zur "Suite Italienne" wird.

    "Suite Italienne, 1. Satz: Introduzione"

    Die Violinmusik von Igor Strawinsky hat also eine verzwickte Vorgeschichte. Sie ist nicht zuletzt geprägt von Strawinskys Ressentiments einem Instrument gegenüber, das er mit Salon verband, mit Gefühlsduseligkeit und blankem Virtuosentum: Da diese Attribute tatsächlich aber nur Zuschreibungen sind, Zuschreibungen vor allem der wenig geliebten Romantik, ließen sie sich kompositorisch auch wieder entfernen: Das "Duo Concertant", die "Suite Italienne" und die anderen kleine Werke, die das Label Newton Classics nun in einer Gesamtübersicht präsentiert, diese Werke sind Zeugnis eines überaus erfolgreichen Strebens nach künstlerischer Unabhängigkeit von Klischees und Vorbildern.

    Interpreten wissen das nicht durchweg zu schätzen: Trotz des prominenten Namens ihres Urhebers sind die Duos selten Gäste im Konzert, und auch im CD-Angebot findet man sie kaum. Von den international bekannten Größen des Fachs rühren sie nur wenige an. Und wenn, dann in kleiner Dosis, nicht in ihrer Gesamtheit, wie es Isabelle van Keulen und Olli Mustonen tun – in einer Neuveröffentlichung beim holländischen Label Newton Classics.

    "Suite Italienne, 4. Satz: Gavotta con due variazioni"

    Auszusetzen gibt es an dieser Aufnahme sehr wenig, zu loben sehr viel. Zu allererst die Courage, das Gesamtwerk Strawinskys überhaupt in Angriff genommen zu haben, dann auch die Bescheidenheit, die es verlangt, sich tatsächlich in den Dienst dieser Musik zu stellen, die für virtuose Nabelschau so wenig Platz lässt. Das liegt einmal daran, dass die meisten Duos von Strawinsky technisch nicht sehr anspruchsvoll sind – wie gesagt, Strawinsky, ein versierter, aber nicht überragender Pianist, hatte sie ja für den Eigengebrauch geschrieben. Wesentlicher noch ist Strawinskys Ideal einer objektiven Musik, einer Musik, deren Klang und Form für sich spricht, durch Harmonik und Rhythmus, durch Proportion und Balance, und nicht durch private Gefühle. Die niederländischen Geigerin Isabelle van Keulen und der finnische Pianist Olli Mustonen geben sich mit dieser Aufgabe zufrieden: Sie lösen sie technisch jenseits von Fehl und Tadel und musikalisch mit so viel Fantasie und Spielfreude, dass Strawinskys Objektivität nie zur öden Etüde verflacht. Deutlich markieren die beiden die Berührungspunkte ihrer Instrumente in einem perkussiven Spiel voller bissiger Akzente, im Schwung eleganter Linien, die der Komponist mit vielen Zäsuren versieht, in der kristallinen Rhythmik, die bei Strawinsky immer zweierlei ist: stilisierte Aufforderung zum Tanz und Grundbaustein abstrakter klanglicher Architekturen.

    "Danse Russe"

    So sehr kann einen diese Aufnahme begeistern, dass man erst nach geraumer Zeit einen näheren Blick wirft auf das Kleingedruckte im Beiheft der Doppel-CD: Dort erfährt man, dass diese so frische, spontane Auseinandersetzung mit Strawinskys Duos vor mehr als 20 Jahren statt gefunden hat: Die Aufnahme entstand 1988, ganz am Anfang der Karrieren von Mustonen und van Keulen. Eine Neuveröffentlichung ist sie dennoch, denn schon lange waren die ursprünglich von Philips produzierten CDs vergriffen – und sie hatte damals auch keine großen Wellen geschlagen. Das liegt nicht an Mustonen und van Keulen, das liegt allein an Strawinsky. Sein Werk für Violine und Klavier ist keine laute Sensation. Was das für ein Glück ist, kann man jetzt wieder hören.

    "Suite Italienne, 4. Satz: Gavotta con due variazioni"

    Das war die Gigue mit zwei Variationen aus der Suite italienne von Igor Strawinsky mit Isabelle van Keulen und Olli Mustonen. Die Gesamtaufnahme der Werke für Violine und Klavier von Igor Strawinsky erschienen beim niederländischen Label Newton Classics – und wurde Ihnen vorgestellt von Raoul Mörchen.


    Diskografische Angaben
    Stravinsky – Complete Works for Violin and Piano
    Interpreten: Isabelle van Keulen, Violine, und Olli Mustonen, Klavier
    Label: Newton Classics 8802062
    Label Code: LC 24605
    EAN Code: 8718247710621