Dass dies auch nur möglich ist, wenn man die politischen Direktiven und die jeweiligen soziokulturellen Strukturen mit berücksichtigt, wie die Autorin dies macht, leuchtet ohne weiteres ein. Denn die Kunst spiegelt sowohl das Selbstverständnis der Schaffenden als auch - seismographisch - gesamtgesellschaftliche Bedürfnisse. So kam es in der Bundesrepublik und in der ehemaligen DDR zeitgleich zu entgegengesetzten Bestrebungen in der Kunst, die - bezogen auf das jeweilige Gesellschaftssystem - oppositionellen Charakter hatten. Besonders auffällig war das in den sechziger Jahren. Hierzu schreibt Karin Thomas:
Als westdeutsche Künstler in den sechziger Jahren das seit Romantik und Expressionismus in der deutschen Kunst bis zum Abstrakten Expressionismus kultivierte Selbstverständnis vom freien schöpferischen Geist zu problematisieren begannen, behauptete sich eben diese idealistische Subjekt-Zeichnung - gespeist aus den genannten deutschen Traditionsquellen - in der DDR im Widerspruch gegen das offiziell eingeforderte, dem gesellschaftlichen Auftrag dienende Künstlerprofil. Die deutsche Romantik, der Expressionismus hier als Hort individuellen Rückzugs verpönt, dort in ihrem revolutionären Potential entdeckt.
Und wie diese Rezeptionsgeschichte unterschiedlich verlief, so ja bekanntermaßen auch die Anbindung an die West- bzw. Ostkunst, die beiderseits im Zeichen eines Internationalismus stand, der die Autorin schon im Titel ihres Buches auf den Begriff "deutsche Kunst" wohlweislich verzichten lässt. "Nach der Katastrophe" lautet die Überschrift zum ersten von insgesamt zehn Kapiteln, die das Gärende in der Kunst speziell der sechziger und siebziger Jahre schon in Begriffen wie "Treibhaus", "Aufbrüche und Ausbrüche" usw. aufscheinen lassen. Vorangegangen waren die in Vergessenheit geratenen Totenklagen eines Hans Grundig oder Horst Strempel, die Psychogramme des zerstörten Dresden oder Berlin von Wilhelm Rudolph und Werner Heldt. Es folgte die Zeit der Kämpfe zwischen Vertretern einer abstrahierenden Malerei und eines festgefügten Menschenbildes - Ernst Wilhelm Nay, Oskar Schlemmer und Karl Hofer markieren hier gegensätzliche Positionen. Für wen das Herz der Autorin heftiger schlägt, ist unschwer zu erkennen, wenn sie von Nays Bildfläche schwärmt als von einem "autonomen Energiefeld einer rhythmisch musikalischen Farben-Epiphanie".
Umso höher ist Karin Thomas' aufrichtiges Bemühen darum zu schätzen, auch konservativ figürlichen Werken - speziell in der hochrangigen ostdeutschen Bildhauertradition - Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Davon zeugt ihre sensible Beurteilung von Gustav Seitz, und dem dient auch die exemplarische Schilderung des Werkprozesses von Fritz Cremers Buchenwald-Denkmal, 1952, das nach mehrmaligen Einsprüchen der staatlichen Auftraggeber erst in der dritten Fassung angenommen wurde und als Beispiel offizieller Reglementierung der DDR-Kunst gelten kann.
Die unterschiedlichen Medien - Malerei, Plastik, Fotografie, Aktionskunst - sind durchaus angemessen repräsentiert; Video und Computerkunst, die sich im Buch nur schwer vermitteln lassen, erfreulich kompromisslos zurückgedrängt. Die Werkbeispiele verraten nicht nur einen immensen Materialfundus sondern auch den kenntnisreichen, souveränen Umgang damit. Dass es hierbei für den weniger professionellen Kunstsinnigen eine Fülle von Entdeckungen zu machen gilt, sei mit Blick auf Edmund Kestings Fotomontage "Tod über Dresden" von 1945 hervorgehoben oder auf die kritischen Bildfindungen von Klaus Vogelgesang und Joachim Schmettau, die auf dem Kunstmarkt weitgehend in Vergessenheit geraten sind. Und wer kennt Wasja und Moritz Götze, die im Kontext der "Kunst nach Spielregeln" in den neunziger Jahren verortet sind? Die Autorin wirft immer wieder ein Licht auf die unterschiedlichen Strukturen der künstlerischen Landschaften - verschiedene Kunstzentren in Ostdeutschland, eine eher breite Streuung in Westdeutschland -, auf die Problematik von Auftragsproduktionen - beispielsweise Werner Tübkes monumentales Panorama "Frühbürgerliche Revolution in Deutschland" in Bad Frankenhausen oder öffentlichen Ausschreibungen, die - wie Hans Haackes Erdtrog für den Berliner Reichstag - ein heiß diskutiertes Politikum wurden.
Die Darstellung erweist sich - und das ist für kunstgeschichtliche Gesamtdarstellungen bemerkenswert - als bis in die unmittelbare Gegenwart auf der Höhe der Zeit, was besonders in dem auch für insider erhellenden Schlusskapitel "Netzwerke" hervorsticht. Als Resümée darf man feststellen: das deutsch-deutsche Kunsttandem ist ganz schön in Fahrt.