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Kunst in Deutschland seit 1945

Die zweiseitige Fotografie, die einem beim Aufblättern entgegenprangt, könnte als Bildkommentar zur deutsch-deutschen Kunstgeschichte der Nachkriegszeit nicht besser gewählt sein: Sie zeigt ein viel gebrauchtes Tandem, überladen mit Koffern, Reisetaschen und Einkaufsbeuteln, Spaten, Kleiderbügeln und Plastikübertopf; ein symbolhaftes Gefährt (übrigens von Andreas Slominski 1994 geschaffen), ein symbolhaftes Gefährt also, auf dem es sich nicht im gleichen Rhythmus bequem radeln lässt, sondern das mühsam vorwärtsgeschoben werden muss. Und wer nicht eine gehörige Portion deutschen Idealismus, preußische Disziplin und rheinländischen Humor besäße, hätte wohl kaum die Kärrnerarbeit leisten können, das mit allerhand ideologischem Ballast, mit Vor- und Fehlurteilen befrachtete Vehikel "Kunst in Deutschland seit 1945" auf dem Weg der Erkenntnis voranzubringen.

Martina Wehlte | 24.01.2003
    Karin Thomas, eine ausgewiesene Kennerin der Kunst des 20. Jahrhunderts und langjährige Cheflektorin im DuMont Verlag, hat diese Aufgabe in einem opus magnum mit über 500 Seiten und mehr als 600 Abbildungen bravourös bewältigt. Und wer in Erinnerung an die Schwemme kunstgeschichtlicher Lexika und Gesamtdarstellungen zur Jahrtausendwende "schon wieder" stöhnt, dem sei versichert, dass der vorliegende Band tatsächlich eine breite Lücke schließt, die wohl nur deshalb so lange geklafft hat, weil es sowohl einer intimen Kenntnis der Besonderheiten in den Kunstszenen Ost und West, ihrer breiten Entwicklungsströme und feinen Verästelungen bedurfte, um sie zu schließen, wie auch des zeitlichen Abstands, um zu einer differenzierten Darstellung und leidlich unvoreingenommenen Wertung zu kommen.

    Dass dies auch nur möglich ist, wenn man die politischen Direktiven und die jeweiligen soziokulturellen Strukturen mit berücksichtigt, wie die Autorin dies macht, leuchtet ohne weiteres ein. Denn die Kunst spiegelt sowohl das Selbstverständnis der Schaffenden als auch - seismographisch - gesamtgesellschaftliche Bedürfnisse. So kam es in der Bundesrepublik und in der ehemaligen DDR zeitgleich zu entgegengesetzten Bestrebungen in der Kunst, die - bezogen auf das jeweilige Gesellschaftssystem - oppositionellen Charakter hatten. Besonders auffällig war das in den sechziger Jahren. Hierzu schreibt Karin Thomas:

    Als westdeutsche Künstler in den sechziger Jahren das seit Romantik und Expressionismus in der deutschen Kunst bis zum Abstrakten Expressionismus kultivierte Selbstverständnis vom freien schöpferischen Geist zu problematisieren begannen, behauptete sich eben diese idealistische Subjekt-Zeichnung - gespeist aus den genannten deutschen Traditionsquellen - in der DDR im Widerspruch gegen das offiziell eingeforderte, dem gesellschaftlichen Auftrag dienende Künstlerprofil. Die deutsche Romantik, der Expressionismus hier als Hort individuellen Rückzugs verpönt, dort in ihrem revolutionären Potential entdeckt.

    Und wie diese Rezeptionsgeschichte unterschiedlich verlief, so ja bekanntermaßen auch die Anbindung an die West- bzw. Ostkunst, die beiderseits im Zeichen eines Internationalismus stand, der die Autorin schon im Titel ihres Buches auf den Begriff "deutsche Kunst" wohlweislich verzichten lässt. "Nach der Katastrophe" lautet die Überschrift zum ersten von insgesamt zehn Kapiteln, die das Gärende in der Kunst speziell der sechziger und siebziger Jahre schon in Begriffen wie "Treibhaus", "Aufbrüche und Ausbrüche" usw. aufscheinen lassen. Vorangegangen waren die in Vergessenheit geratenen Totenklagen eines Hans Grundig oder Horst Strempel, die Psychogramme des zerstörten Dresden oder Berlin von Wilhelm Rudolph und Werner Heldt. Es folgte die Zeit der Kämpfe zwischen Vertretern einer abstrahierenden Malerei und eines festgefügten Menschenbildes - Ernst Wilhelm Nay, Oskar Schlemmer und Karl Hofer markieren hier gegensätzliche Positionen. Für wen das Herz der Autorin heftiger schlägt, ist unschwer zu erkennen, wenn sie von Nays Bildfläche schwärmt als von einem "autonomen Energiefeld einer rhythmisch musikalischen Farben-Epiphanie".

    Umso höher ist Karin Thomas' aufrichtiges Bemühen darum zu schätzen, auch konservativ figürlichen Werken - speziell in der hochrangigen ostdeutschen Bildhauertradition - Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Davon zeugt ihre sensible Beurteilung von Gustav Seitz, und dem dient auch die exemplarische Schilderung des Werkprozesses von Fritz Cremers Buchenwald-Denkmal, 1952, das nach mehrmaligen Einsprüchen der staatlichen Auftraggeber erst in der dritten Fassung angenommen wurde und als Beispiel offizieller Reglementierung der DDR-Kunst gelten kann.

    Die unterschiedlichen Medien - Malerei, Plastik, Fotografie, Aktionskunst - sind durchaus angemessen repräsentiert; Video und Computerkunst, die sich im Buch nur schwer vermitteln lassen, erfreulich kompromisslos zurückgedrängt. Die Werkbeispiele verraten nicht nur einen immensen Materialfundus sondern auch den kenntnisreichen, souveränen Umgang damit. Dass es hierbei für den weniger professionellen Kunstsinnigen eine Fülle von Entdeckungen zu machen gilt, sei mit Blick auf Edmund Kestings Fotomontage "Tod über Dresden" von 1945 hervorgehoben oder auf die kritischen Bildfindungen von Klaus Vogelgesang und Joachim Schmettau, die auf dem Kunstmarkt weitgehend in Vergessenheit geraten sind. Und wer kennt Wasja und Moritz Götze, die im Kontext der "Kunst nach Spielregeln" in den neunziger Jahren verortet sind? Die Autorin wirft immer wieder ein Licht auf die unterschiedlichen Strukturen der künstlerischen Landschaften - verschiedene Kunstzentren in Ostdeutschland, eine eher breite Streuung in Westdeutschland -, auf die Problematik von Auftragsproduktionen - beispielsweise Werner Tübkes monumentales Panorama "Frühbürgerliche Revolution in Deutschland" in Bad Frankenhausen oder öffentlichen Ausschreibungen, die - wie Hans Haackes Erdtrog für den Berliner Reichstag - ein heiß diskutiertes Politikum wurden.

    Die Darstellung erweist sich - und das ist für kunstgeschichtliche Gesamtdarstellungen bemerkenswert - als bis in die unmittelbare Gegenwart auf der Höhe der Zeit, was besonders in dem auch für insider erhellenden Schlusskapitel "Netzwerke" hervorsticht. Als Resümée darf man feststellen: das deutsch-deutsche Kunsttandem ist ganz schön in Fahrt.