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Kunst statt Kohle

"Nachhaltigkeit" ist ein Wort, das alle an der "Ruhr 2010" Beteiligten immer wieder benutzen. Das Geld für die Kultur sei auf lange Sicht lohnend angelegt. Doch in Zeiten der Krise stellt sich die Frage, wie viel Geld für Schöngeistiges eigentlich angemessen ist.

Von Christoph Gehring | 25.11.2009
    "Der Himmel über der Ruhr – blau, wie Willy Brandt ihn versprach. Ein Förderturm im Abendrot. Schöne junge Menschen tanzen auf begrünten Abraumhalden. Ein bisschen rostiger Stahl, eine Steeldrumband, der Bergmannschor und die Hip-Hopper, das pulsierende Nachtleben im Revier. Bars und Breakdance. Nächtlich leuchtende Konzerthäuser und Konzernzentralen. 200 Museen. 120 Theater. Mehr als 1000 Industriedenkmäler. Willkommen in der Kulturhauptstadt Europas."

    Der Imagefilm zeigt das Ruhrgebiet so, wie es die Verantwortlichen für die Kulturhauptstadt Europas 2010 gerne wahrgenommen wissen möchten: Von sprödem Charme, aber fröhlich. Vom scheinbar niemals enden wollenden Strukturwandel gezeichnet, aber kreativ. Von einer proletarischen Geschichte auf sympathische Weise am Boden gehalten, aber trotzdem kulturell auf Augenhöhe mit den Metropolen dieser Welt.

    Die Kulturhauptstadt des nächsten Jahres nennt sich "Ruhr 2010", weil die Stadt Essen, die im Wettbewerb um den europäischen Ehrentitel siegreich war, stellvertretend für das Ganze Ruhrgebiet kandidiert hatte. "Ruhr 2010", das sind 53 Städte und Gemeinden vom Niederrhein bis zum Rand des Sauerlands, die in all ihrer Unterschiedlichkeit eine gemeinsame Kulturlandschaft bilden sollen.

    "Die Kulturhauptstadt Europas "Ruhr 2010" ist mit Abstand die heterogenste Kulturhauptstadt."
    Fritz Pleitgen sitzt in einem hellen, hohen Eckbüro mit Blick in den Essener Stadtgarten und sieht müde aus. Der frühere Intendant des Westdeutschen Rundfunks ist Geschäftsführer der Ruhr-2010-GmbH und als solcher für das Gelingen des Projekts verantwortlich. Was er meint, wenn er von einer "heterogenen Kulturhauptstadt" spricht, ist die Gefahr der Unübersichtlichkeit.

    "Wichtig ist, dass das Programm angenommen wird. Das ist meine große Sorge, dass wir dem Publikum nicht einen Infarkt ans Herz spielen, denn das Angebot ist riesig."
    Fast 300 eigens für die Kulturhauptstadt Europas ersonnene Kunstprojekte und Tausende von Einzelveranstaltungen, verteilt auf ein Jahr und mehr als 4000 Quadratkilometer – das ist eine Herausforderung für die Organisatoren, aber auch für die Besucher. Das Gesamtprogramm umfasst 96 eng bedruckte Seiten, die Zeugnis davon ablegen, dass die "Ruhr 2010" allen etwas anbieten will: Den Einheimischen und den Kulturtouristen, dem gesetzten Bildungsbürgertum und den jungen Wilden, den Theaterfreunden und den Museumsgängern. Es ist ein Spagat zwischen Heimatabend und Hans Werner Henze, aber auch zwischen Kamp-Lintfort im Westen und Hagen im Osten des Reviers.
    Der Anspruch dieser Kulturhauptstadt 2010 ist riesig: Es geht ihren Machern nicht bloß um die Künste, nein: Es geht ihnen um nichts Geringeres als eine Neuvermessung des Ruhrgebiets, um die Schaffung einer starken, gemeinsamen "Metropole Ruhr" mit über fünf Millionen Einwohnern, in der die alten Rivalitäten, Eifersüchteleien und Blockaden zwischen den einzelnen Städten und Gemeinden der Vergangenheit angehören. Kunst und Kultur als Mittel der Metropolenbildung in einem zersiedelten Vielstädtegebilde. Einer der Vorträumer dieser Vision ist Jürgen Fischer, der Programmkoordinator der "Ruhr 2010":

    "Wir planen ja kein weiteres Festival oder so ein Sommerfeuerwerk abzubrennen, sondern wir sehen das durchaus auch in der Kontinuität zur IBA, zur Internationalen Bauausstellung, als ein regionales Entwicklungsprojekt. So. Wenn die Oberbürgermeister über die Metropole Ruhr reden, dann wissen wir, die lässt sich nicht deklarieren aus Oberbürgermeisterbüros, sondern die entsteht, indem andere das Ruhrgebiet für eine Metropole halten – oder sie entsteht nicht. Aber wenn sie entsteht, dann ist die einzige Chance, dass sie tatsächlich von unten wächst. So, und da sind wir auch wieder politisch, natürlich. Also so entsteht dann möglicherweise – und da, glaube ich, kann dann schon die Kulturhauptstadt Europas einen kleinen Push geben – irgendwann mal die Metropole Ruhr."

    Doch die Realität ist eine andere.

    "Wir sind eine Region, aber wir haben nicht eine Identität. Und die Beweglichkeit, sich über mehrere Kilometer innerhalb des Ruhrgebiets zu Kulturveranstaltungen zu bewegen, ist da – aber sie ist in einer sehr kleinen Gruppe da. Im Alltag sieht es ganz anders aus: Wattenscheid ist 1975 eingemeindet worden – bis heute kämpft man da um eigene Nummernschilder, um nicht Bochum tragen zu müssen. Versuchen Sie mal, in einen Bus umzusteigen, wenn Sie an der Stadtgrenze Bottrop-Gelsenkichen-Gladbeck sind – Sie können nicht mal mehr die Funkfrequenz des anderen Busses erreichen, weil der eine andere hat, weil der zu einer anderen Gesellschaft gehört. Wenn Sie als Zeitung in dieser Region zwei Inszenierungen desselben Stückes – nehmen wir mal den 'Lear' – zusammenfassen, kriegen Sie am anderen Tag aus der Pressestelle eines der beiden beteiligten Theater den Anruf: 'Wir wollen aber eine eigene Rezension!' So stelle ich mir ein gemeinsames Dach allerdings nicht vor."

    Lars-Ludwig von der Gönna ist Kulturreporter bei der WAZ, der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung in Essen, und er sieht den hohen Anspruch der "Ruhr 2010" kritisch. Natürlich freue er sich als Kunstfreund und Kind des Ruhrgebiets über die Kulturhauptstadt Europas 2010 vor der eigenen Haustür, sagt er. Aber die anspruchsvoll aufgepolsterte Metropolentheorie sei doch eher aus der Not heraus geboren. Denn die Stadt Essen, die den Titel eigentlich errang, habe eben trotz Folkwang-Museum, Aalto-Oper, Grillo-Theater und Villa Hügel nicht genug im Angebot, um alleine ein ganzes Jahr als Kulturhauptstadt zu bestreiten.

    "Man muss dann schon auch schonungslos sagen: Mehr als fünf bis zehn starke Attraktionen hat Essen nicht. Man müsste da schon Locken auf der Glatze drehen, um daraus ein ganzes Kulturhauptstadtjahr zu machen."

    Der Star unter den Essener Kultureinrichtungen ist das Folkwang-Museum. Das traditionsreiche Haus bekommt für seine Sammlung der Modernen Kunst gerade einen prachtvollen Neubau, den der britische Star-Architekt David Chipperfield entworfen hat. Die Einweihung dieses architektonischen Juwels Ende Januar nächsten Jahres gehört zweifellos zu den Veranstaltungen, die der "Ruhr 2010" europaweit Beachtung und Bewunderung einbringen werden – auch wenn die Kulturhauptstadt-Organisation damit eigentlich nichts zu tun hat: Die Baukosten von 55 Millionen Euro hat allein die Alfried-Krupp-von-Bohlen-und-Halbach-Stiftung getragen. Deren Kuratoriumsvorsitzender Berthold Beitz steht für das großbürgerliche Mäzenatentum, dem das Ruhrgebiet viel von seiner außergewöhnlich reichen, kulturellen Infrastruktur verdankt.

    Und die Infrastruktur der Kultur im Ruhrgebiet ist noch immer weitgehend intakt – obwohl die Städte im Revier chronisch verschuldet sind. 23 der 53 "Ruhr-2010"-Kommunen stehen unter der Haushaltsaufsicht der Bezirksregierung. Doch im nächsten Jahr, dem Kulturhauptstadt-Jahr, können die Kämmerer den Rotstift schlecht bei der Kultur ansetzen. Das gäbe schlechte Presse. Außerdem, so sagt Jürgen Fischer, der Programmkoordinator der "Ruhr 2010", wären radikale Kürzungen beispielsweise bei den Bühnen ein Angriff auf die Tradition der Arbeiterbewegung:

    "Es gibt eben nicht sozusagen die Residenzen und die ererbten Hoftheater, sondern alles, was Kultur ist und ja eben auch reiche Infrastruktur ist im Ruhrgebiet, das ist in der Tat im Verlauf von 150 Jahren dann entstanden. Also: Kulturregion aus eigener Kraft, wie wir immer gesagt haben. Es gab ja Zeiten, es gibt schöne Bilder, wo Kohle- und Stahlbelegschaften eine Mark von ihrem Lohn für den Bau des Ruhrfestspielhauses gegeben haben. Man kann schmunzeln darüber, aber das sind schon besondere Geschichten, die vielleicht nur hier geschrieben werden konnten. Die Stadt Gelsenkirchen hat schwere Haushaltsprobleme, weit über das Normalmaß hinaus, und gilt vielen in der Bundesrepublik ja als die Adresse für das menschliche Elend. Und jetzt hat Gelsenkirchen ein Musiktheater, das 'Musiktheater im Revier', und so was erwartet man in Gelsenkirchen erst mal nicht. Dieses Theater ist bei allen Sparbemühungen immer vor die Klammer gezogen, da nimmt niemand Geld weg, weil jeder weiß: Gerade diese Stadt braucht das, um Identität oder Stolz zu haben. Und das ist unter anderem der Grund dafür, dass wir am 8. Januar mit dem ZDF zusammen dort eine große Unterhaltungssendung machen. Von Atze Schröder bis Helge Schneider. Und das wird dann live auch vom ZDF gesendet."

    Wie gesagt: Der Kulturbegriff der "Ruhr 2010" ist weit gefasst. Irgendwo im Mittelfeld zwischen hoher Kunst und dekorativer Trivialität bewegen sich zwei andere Projekte, die dem Kulturhauptstadt-Geschäftsführer Fritz Pleitgen besonders am Herzen liegen, weil sie nicht nur volksnah sind, sondern auch die positiven Bilder aus dem Ruhrgebiet bringen sollen, die dem ehemaligen Fernsehmann Pleitgen so wichtig sind: Die "Schachtzeichen" und das "Stillleben".

    Bei den Schachtzeichen sollen im Mai nächsten Jahres überall dort, wo früher einmal Schächte in die Kohlegruben führten, große, gelbe Ballons in 80 Metern Höhe schweben. Und für das "Stillleben" wird am 18. Juli der Ruhrschnellweg, also die Autobahn 40, die wichtigste Verkehrsader des Ruhrgebiets, gesperrt: Auf 60 Kilometern länge stehen dann 20.000 Biertische, an denen gelesen, gespielt und vor allem gepicknickt werden soll. Der Autolärm, der Sound des Ruhrgebiets, hat dann für sechs Stunden Pause. Fritz Pleitgen:

    "Das ist ein Traum! Es ist ein Traum Vieler, dass man diese Autobahn einmal ganz anders nutzt. Diese Autobahn ist ja fast der Inbegriff des Ruhrgebiets als eine Ost-West-Traverse. Dieser 18. Juli 2010 auf der A 40 kann als emotionaler Gründungsmoment der neuen Metropole Ruhr empfunden werden. Das wird ein besonderes Ereignis werden und es schafft Bilder – das ist für mich ganz wichtig, damit mal andere Bilder vom Ruhrgebiet um die Welt gehen werden. Damit dieses alte Image sich endlich allmählich mal in Luft auflöst."
    Kritiker halten diese populären Aktionen für wenig kunstsinnig, eher für populistisch. Für die Organisatoren der "Ruhr 2010" fallen sie unter die Rubrik "Alltagskunst". Der größte Vorteil von "Stillleben" und "Schachtzeichen" aber ist: Sie finden tatsächlich statt. Einem anderen Vorzeigeprojekt der Kulturhauptstadt Europas 2010, der "Zweiten Stadt" wird das nicht vergönnt sein.

    "Die zweite Stadt" sollte eine Dauerausstellung in einem alten Schacht der Zeche "Zollverein" werden, 1000 Meter unter Tage. Doch als es quasi schon fünf nach zwölf war, stellte sich heraus, dass die Grundwasserpumpen der alten Zeche voraussichtlich 2015 abgeschaltet werden und die Stollen anschließend mit Wasser volllaufen. Eine Nutzungsdauer von höchstens fünf Jahren allerdings war angesichts der Kosten von siebeneinhalb Millionen Euro nicht vermittelbar. Das Vorzeigevorhaben wurde abgeblasen, das Image der "Ruhr 2010" bekam tiefe Kratzer.

    "Im Grunde war es nur ein Projekt, das wir abgesagt haben. Aber es gehört nun mal in die Medienwelt, dass dieses Projekt immer wiederholt wird und dann erscheint es, als ob 30 oder 40 Projekte abgesagt worden wären. Aber ich komme ja aus der Branche, das muss ich mit Fassung tragen. Das ist das einzige Projekt, was geplant war und das wir absagen mussten. Alle anderen Dinge haben wir bislang verteidigen können."
    Verteidigt werden müssen die Dinge vor allem gegen die latente Geldnot der Kulturhauptstadt Europas 2010: Bund, Land und die Ruhrgebietsstädte haben eine sogenannte "Grundfinanzierung" von 48 Millionen Euro bereitgestellt, Sponsoren geben rund neun Millionen Euro. Und die EU, die den stolzen Kulturhauptstadt-Titel verleiht, gibt gerade einmal 500.000 Euro Zuschuss. Ein Witz, findet Lars-Ludwig von der Gönna.

    "Das ist ja ungefähr so, als würde man jemandem einen Eimer Wasser schenken, um ein Schwimmbad zu gründen. Also ich finde das schon kurios. Ich glaube, man hat da am Anfang eine riesige Torte ankommen sehen und jetzt sind alle enttäuscht, dass die Stücke für jeden Einzelnen doch sehr klein geworden sind."

    Alles in allem hat die "Ruhr 2010" rund 60 Millionen Euro zur Verfügung. Damit sei eine Kulturhauptstadt unterfinanziert, so bemängelten Kritiker schon früh und verwiesen auf den deutlich höheren Etat der diesjährigen Kulturhauptstadt Europas Linz in Österreich.
    Fritz Pleitgen wiederum verweist darauf, dass sich die Welt seit der Ernennung von Linz zur Kulturhauptstadt weitergedreht habe:

    "Linz hat einen Etat von 73 Millionen Euro, aber Linz ist auch gestartet, bevor die Finanzkrise zugeschlagen hat. Wir wollen uns da nicht beklagen. Es ist fast typisch für das Ruhrgebiet, dass es eben in schwierigen Situationen sich bewähren muss, obwohl, wie man so schön sagt, viele der großen Projekte sehr auf Kante genäht sind. Ich habe wirklich eine Menge schlafloser Nächte gehabt, weil man sich gefragt hat: Schaffen wir das nun oder schaffen wir das nicht? Es dürfen also nicht allzu viele unvorhergesehene Ereignisse eintreten. Wir haben diese Puffer nicht, um dann in Notfällen etwas abzufangen. Aber wir sind es einfach der Bevölkerung schuldig, dass wir Risikobereitschaft und Wagemut zeigen."

    Hans-Heinrich Große-Brockhoff sieht auf den ersten Blick nicht aus wie ein Mensch, der Risikobereitschaft und Wagemut im Umgang mit öffentlichem Geld schätzt. Das kann er sich schon von Amts wegen nicht leisten. Denn Hans-Heinrich Große-Brockhoff ist der für Kulturangelegenheiten zuständige Staatssekretär der Düsseldorfer Landesregierung und weiß aus Erfahrung, dass Ausgaben für Kultur immer unter einem besonderen Erklärungszwang stehen. Aber für die "Ruhr 2010" habe das Land gerne und reichlich Geld gegeben, sagt er – viel mehr, als der offizielle Etat der Kulturhauptstadt widerspiegele.

    "Man muss immer achtgeben, dass man nicht Äpfel mit Birnen vergleicht: Wir geben als Land zum Beispiel außer den zwölf Millionen, die wir in die Gesellschaft hinein geben, noch weitere 108 Millionen, insgesamt also rund 120 Millionen, aus Anlass der Kulturhauptstadt für besondere Projekte, die wir zusätzlich fördern, für Bauvorhaben et cetera, aber keineswegs nur für Bauvorhaben, sodass das Gesamtvolumen schon erheblich höher ist als in Linz. Es ist aber richtig, dass wir in der Tat für eine Stadt, eine Region eben, eine Metropole Ruhr mit 53 Kommunen einen relativ sparsamen Etat haben, mit dem wir aber, so meine ich, gut umgegangen sind. Ich bin sicher, er wird eine hohe Wirksamkeit entfalten und außerdem nachhaltig sein."

    "Nachhaltigkeit" ist ein Wort, das alle an der "Ruhr 2010" Beteiligten immer wieder benutzen. Was sie damit sagen wollen ist: Das Geld für die Kulturhauptstadt und die vielen damit verbundenen Immobilien – vom Kunstmuseum Küppersmühle in Duisburg bis zum Emil-Schumacher-Museum in Hagen, vom Dortmunder Medienkunstquartier "U" bis zur Kunstinsel in der Emscher – sei auf lange Sicht lohnend angelegt. Fritz Pleitgen, der Geschäftsführer der "Ruhr 2010":

    "Wir glauben, dass Kultur die Menschen und auch die Gesellschaft inspiriert, Inspiration schafft Kreativität und Kreativität produziert auch Arbeitsplätze. Und das ist auch das, was die Europäische Kommission von uns erwartet: Wir sollen die Kulturwirtschaft ankurbeln oder eher dort Impulse setzen, wir sollen den Kulturtourismus fördern, wir sollen Programme für junge Menschen und insbesondere für Kinder schaffen – all das versuchen wir zu erfüllen."

    Doch in Zeiten der Krise kann sich die Kulturhauptstadt nicht der Diskussion entziehen, wie viel Geld für Schöngeistiges eigentlich angemessen ist – gerade im chronisch armen Ruhrgebiet. Fritz Pleitgen bekommt hörbar schlechte Laune, wenn ihn diese Diskussion erreicht:

    "Kultur ist sozial! Und ich wehre mich dagegen, Kunst gegen Soziales auszuspielen. Wenn wir uns auf dieses Niveau begeben, dann können wir uns als aufgeklärte Gesellschaft aufgeben."
    Auch der Kulturjournalist Lars-Ludwig von der Gönna hält es für falsch, einen Antagonismus zwischen Kultur und öffentlicher Daseinsvorsorge zu konstruieren – Kultur sei Bestandteil der Daseinsvorsorge, nicht deren Konkurrentin. Dass darüber dennoch debattiert werde, sei allerdings nachvollziehbar – erst recht, wenn die Ruhrgebietsstädte hinter den Kulissen der Kulturhauptstadt kräftig um die Zusatzkosten für manches Projekt der "Ruhr 2010" zankten:

    "Wir haben Schwimmbäder, in denen die Badetemperatur runtergeregelt wird, um Stellen hinter dem Komma zu sparen. Wir haben Stadtteilbibliotheksschließungen. Wir haben ganze Behörden, die für 14 Tage in Ferien geschickt werden, um Geld zu sparen – in Dortmund etwa. Und ich glaube, dass die Bemühungen, da noch Geld reinzuspritzen, als ehrenwert empfunden werden müssen, dass aber gerade der kleine Mann sehr empfindlich ist, wenn er sieht, wie dieses Geld verwaltet wird und zu welchen Projekten es führt. Das ist überhaupt keine gute Debatte. Dass wir die führen müssen – der abrieselnde Putz im Kindergarten gegen die Parzival-Aufführung – die ist schädlich. Wir müssen uns aber fragen, warum die möglich ist. Und diese Region macht sie möglich, weil sie völlig bankrott ist. Wenn eine Stadt wie Bochum ein Loch von hundert Millionen im Etat hat, dann können die nicht mal mehr Kleinigkeiten zur Verfügung stellen. Das führt jetzt aktuell zu einer ganz absurden Debatte: Das bekannteste von den noch überlebenden Projekten, die Tafel auf der A40, diese nicht enden wollende Festmeile, da streiten sie sich jetzt hinter den Kulissen, wer den Müll danach wegmacht. Bochum sagt: Wir haben kein Geld. Mülheim sagt: Wer die Musik bestellt, der muss sie auch bezahlen. Das sind mal eben 200.000 Euro – ich frage mich, in welchem Etat die im Moment stehen. Das erzählt aber auch die Geschichte von einer Region, die sich als ein 'Wir' verkauft, aber wenn man genau hinschaut, dann sind die Mauern zwischen den Städten leider sehr, sehr hoch."