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Kunst und Liebe in Zeiten des Krieges

Die russische Literatur des 20. Jahrhunderts bietet immer wieder Überraschungen. Die Novelle "Die Manon Lescaut von Turdej" von Wsewolod Petrow gehört dazu. So eine Liebesgeschichte in Kriegszeiten, wie Petrow sie erzählt, habe man noch nie gelesen.

Von Uli Hufen | 12.09.2013
    Aus den Erzählungen meiner Mutter über die Ankunft sowjetischer Soldaten 1945 in Gotha haben sich mir zwei Bilder für immer eingeprägt: Kahlgeschorene, asiatisch aussehende junge Männer liegen rauchend auf einer Wiese am Straßenrand. Ein sowjetischer Offizier betritt eine deutsche Wohnung, sieht das Klavier, setzt sich hin und spielt eine Sonate.

    Einem solchen Offizier begegnen wir in Wsewolod Petrows Novelle "Die Manon Lescaut von Turdej". Nicht in Deutschland allerdings, sondern in einem Lazarettwaggon, der irgendwo in Russland auf dem Weg zur Front ist. Welches Kriegsjahr man schreibt, ob die Rote Armee auf dem Rückzug ist oder angreift, wir erfahren es nicht. Wir erfahren stattdessen: Unser Mann liest Goethes Werther auf Deutsch, leidet unter einem schwachen Herzen und Atemnot, macht sich philosophische Gedanken über Leben und Tod, spricht ein gediegenes Russisch ohne Flüche und hält sich von den einfachen Soldaten und Krankenschwestern fern.

    Keine Spur von heroischen Partisanen und Soldaten
    Warum? Aristokratische Kühle. Hochmut. Schüchternheit. Das schiere Un-vermögen, mit weniger gebildeten Menschen zu sprechen. Ein über Generationen antrainierter Horror vor der Vulgarität des Seins und der Massen. Doch dann verliebt unser Offizier und Gentleman sich in die junge Krankenschwester Vera Muschnikowa.

    Ich sah Vera erst da zum ersten Mal wirklich. Sie hatte einen leicht dunklen Teint, kleine, dunkle, bisweilen grüne Augen, eine rätselhafte Ähnlichkeit mit Marie-Antoinette, geschwungene Lippen; ein entzückendes Gesicht, konturiert von einer reinen und fast schon abstrakten Linie. In ihrem Blick lagen Ungestüm und Raffinesse: ein Antlitz aus einem Gemälde von Watteau.

    Die russische Kriegsliteratur ist voll von heroischen Partisanen und Soldaten. Aber sie kennt durchaus auch Liebessujets. Das berühmteste Gedicht aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs ist ein Liebesgedicht, Konstantin Simonows "Wart auf mich". Das berühmteste Lied jener Jahre, Klawdija Schulschenkos Romanze vom "Blauen Tüchlein" ist ebenfalls ein Liebeslied. Aber eine Liebesgeschichte in Kriegszeiten wie Wsewolod Petrow sie in seiner Novelle erzählt, so eine hat man noch nie gelesen.
    Das fängt mit dem schwächlichen Intellektuellen als Held an, der auch nie irgendwelche Anstalten macht, sich vom Feuer des Krieges zu einem anderen, besseren Menschen umschmieden zu lassen. Er ist so, wie er ist, und will so schnell wie möglich zurückkehren in sein durchgeistigtes Leben mit Büchern und Gemälden. In der sowjetischen Kriegsliteratur jener Jahre hatte so einer keinen Platz. Ob das in der amerikanischen, britischen oder deutschen Kriegsliteratur der Zeit anders war, darf im Übrigen bezweifelt werden.

    Der sowjetische Staat interessiert Petrow überhaupt nicht
    Ebenso erstaunlich und berührend ist, was Petrow alles auslässt: Der sowjetische Staat zum Beispiel interessiert Petrow überhaupt nicht. Er existiert nicht. Auch der Krieg selbst ist in Petrows Geschichte nur ein dramatischer Hintergrund, jedenfalls bis kurz vor Schluss, als er blutig ins Geschehen eingreift. Wer sich für Waffen, Schlachten und Partisanen interessiert oder für Strategie und Taktik der Roten Armee, der muss andere Bücher lesen. Petrow interessiert sich für die Kunst und für die Liebe. Und er tut das auf eine Weise, die am ehesten an die dauernden Ohnmachtsanfälle, Gefühlsverwirrungen, hochemotionalen Dialoge und ewig feuchten Handflächen der Helden von Dostojewskij oder Turgenjew erinnert.

    "Sie geben irgendwie komische Küsse, von denen man sterben kann", sagte Vera.

    Kunst und Liebe, davon handelt die "Manon Lescaut von Turdej", Kunst und Liebe sind stärker und wichtiger als Staat und Krieg. Sie sind absolut und ewig. Vor allem wenn man sie so schön in eins weben kann, wie der feinsinnige Erzähler:

    "Vera ist aus dem Stamm der flammenden Menschen, die außerhalb der Form leben", antwortete ich.
    "Was denn für flammende Menschen?"
    "Ich glaube, das ist klar, wenn man von Genies spricht", sagte ich. "Goethe, Mozart, Puschkin, das sind makellose Menschen, vollkommene Menschen. In ihnen wird alles durch die Form bestimmt. ... Shakespeare und Michelangelo dagegen lodern, mit Fehlschlägen und Abstürzen, aber sie zerreißen irgendwie die Form und brechen zur Zukunft durch. Das sind die unvollkommen Genies, die über den vollkommenen stehen. ... Auch Manon Lescaut zerreißt fortwährend die Form."
    "Und auch Vera?"
    "Auch Vera ist außerhalb der Form. Sie gleicht einer Kerzenflamme: Sie flackert hin und her, und wahrscheinlich reicht ein bloßer Hauch, um sie zu löschen."


    Wsewolod Petrow war, die Beschreibung von Veras Gesicht und viele andere Referenzen deuten es an, von Beruf Kunstwissenschaftler. 1912 geboren, entstammte er einem uralten russischen Adelsgeschlecht. Vor allem aber war er Teil jener aristokratischen Sankt Petersburger Geisteswelt, die Wladimir Nabokow, Osip Mandelstam, Anna Achmatowa, Pawel Filonow, Iosif Brodsky und viele andere weltberühmte Künstler, Dichter und Wissenschaftler hervorbrachte. Anna Achmatowas Ehemann, der Kunstwissenschaftler Nikolaj Punin war Petrows Lehrer und Vorbild.

    Eine flatterhafte, lebenslustige Heldin kam nicht infrage
    Petrow ging im Salon des Dichters Michail Kusmin ein und aus, war mit dem Dichter Daniil Charms bekannt, arbeitete am Russischen Museum. In den 30er-Jahren geriet diese Petersburger Geisteswelt immer stärker unter Druck. Für ihr Wissen und Können hatte der stalinistische Staat eventuell noch Verwendung, für ihre Vorstellungen davon, wie das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft geordnet sein sollte, gewiss nicht. Viele emigrierten, viele kamen in den 30er-Jahren um, die anderen versuchten mit Glück und Geschick, ein paralleles, privates Geistesleben neben jenem offiziellen Leben aufrechtzuerhalten, das ihnen vom Staat aufgezwungen wurde.
    Dann kam der Krieg, der große Gleichmacher. Der Kunstwissenschaftler Wsewolod Petrow ging für vier Jahre als Offizier an die Front. Zurück in Leningrad schrieb er 1946 "Die Manon Lescaut von Turdej": Eine Ode an ein unendlich bezauberndes, untreues, verantwortungsloses Mädchen, das, wie der von Liebe verwüstete Erzähler sagt, für die Liebe geboren ist und durch die Liebe lebt. Es dürfte viele Gründe geben, aus denen Petrows Novelle nicht für eine Veröffentlichung in der Sowjetunion der 40er-Jahre infrage kam. Der wichtigste könnte ihre flatterhafte, lebenslustige Heldin gewesen sein. "Die Manon Lescaut von Turdej" wurde 2006 erstmals in Russland veröffentlicht. Die Literatur des 20. Jahrhunderts - wir sind noch immer dabei, sie zu entdecken.

    Wsewolod Petrow: ”Manon Lescaut von Turand”
    aus dem Russischen von Daniel Jurjew
    Weidle Verlag, Bonn 2012
    125 Seiten, 16,90 Euro

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