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Kunst von Terre Thaemlitz
Die Last mit der Lust

Reproduktion halten manche für Sinn und Zweck menschlichen Daseins – Terre Thaemlitz setzt die Performance "Deproduction" dagegen: Die queere Künstlerin hält die Familie für ein Auslaufmodell, Liebe für einen Mythos. Das provoziert – in alle Richtungen.

Von Peter Backof | 14.07.2017
    Terre Thaemlitz mit ihrer / seiner Performance "Deproduction", 2017, in der Tofufabrik Kassel im Rahmen der documenta 14.
    Terre Thaemlitz mit ihrer/seiner Performance "Deproduction" auf der documenta 14. (Mathias Völzke)
    Rund 300 Gäste drängen sich in den – relativ kleinflächigen und modern überhohen – Raum: So gut war die Kölner Christuskirche in Gottesdiensten vermutlich selten besucht: Terre Thaemlitz bringt die 90-minütige Audio-Video- und Text-Installation "Deproduction" in den Sakralraum. Ein Publikum im Alter von 25 bis 50 interessiert das: akademisch, urban, hip bis queer.
    Fotos und Tonaufzeichnungen zu machen, untersagt Terre Thaemlitz strikt. Naheliegend, bei den angekündigten Inhalten: "Inzest- und Schwulenporno"; es habe Jahre gedauert, das Konzept zu entwickeln, und die Bilder sollen unmittelbar ansprechen und wirken.
    "Die Menschheit ist eine schreckliche Spezies"
    Allzu explizit wird es indes nicht. Es fehlt dieses Animalische, die Dreckigkeit; man sieht eine Stilisierung von Pornos. Dazu raunt es lustgrunzend aus den Lautsprechern im Kirchenraum. Hämmernde Klavierklänge deuten unbedingte Dringlichkeit an. Doch die verpixelten Körper auf dem Videoscreen tun auch das Gegenteil; banal und mechanisch rubbeln sie aneinander herum: der Mensch als triebgesteuertes Wesen.
    "Ich bin Nihilistin", sagt Terre Thaemlitz. "Die Menschheit ist eine schreckliche Spezies. Es gibt da auch nichts zu verbessern oder zu retten. Es gibt nichts zu gewinnen. Ich will aber niemanden bekehren, die Anti-Familie predigen oder eine Anti-Nachwuchs-Kampagne führen."
    Viel nacktes Fleisch
    Trotzdem wirkt das so, im ersten Teil des Abends. Wie eine Aufforderung: Seid nicht fruchtbar! Mehret euch nicht! Terre Thaemlitz steuert den Ablauf von einem Laptop aus, wie von einer Kanzel, und zeigt in der Videoprojektion: Sex erfordert so viel Aufwand in der Anbahnung, bringt so viel Unterdrückung, Gewalt aber auch irgendwann nervtötend redundant wirkende Privatgeschichten mit sich, dass es besser scheint, man ließe das Ganze gleich sein. Auch Terre Thaemlitz' persönlicher Auftritt ist geschlechtlich indifferent, gewissermaßen post-sexuell.
    Soweit das Vorspiel. Auch in der gesellschaftlich organisierten Form von Beziehungen, in Ehe und Familie, hört die Last mit der Lust nicht auf. Im zweiten Teil von "Deproduction" wird es inhaltlich richtig interessant – und provokant, weiterhin als Projektion von viel nacktem Fleisch auf die kahle Kirchenwand.
    Terre Thaemlitz, Deproduction, 2017, Videostill.
    Terre Thaemlitz, Deproduction, 2017, Videostill. (Terre Thaemlitz)
    "Schauen Sie sich aktuell diese Popularität gleichgeschlechtlicher Ehen in der westlichen Welt an!", sagt Thaemlitz. "Das liegt durchaus im Interesse von Staaten, denn: Sozialleistungen werden immer weiter zurückgefahren. Und dann brauchen sie etwas, was die Funktion des sozialen Netzes übernimmt: die Familie! Auch für gleichgeschlechtliche Paare! Die Familie, der Clan, so ein uraltes Sozialmodell wird wieder hervorgekramt und propagiert, auch für die sogenannten sexuellen Außenseiter."
    Zynisch gemeinte Zuspitzung
    "Ehe für alle" – kein Gewinn? Keine Verbesserung der rechtlichen Lage von Schwulen, Lesben, Queers? Auf Nachfrage räumt Terre Thaemlitz ein, dass das eine zynisch gemeinte Zuspitzung sei. Im Rahmen von "Deproduction" sind Demokratie und Familie Gegensätze, die sich ausschließen. Man könne nicht frei sein, gleich sein und leben in einem archaischen und hierarchischen Sozialmodell wie der Familie. Daher – künstlerisch – auch diese weitere Provokation von Thaemlitz:
    "Inzest ist zum Beispiel das letzte sexuelle Tabu. Mich interessiert das Genetische. Dass man sagt: Ich kann nichts dafür, es ist das Blut, das durch meine Adern fließt und mich steuert. Ich entscheide mich nicht dafür, pervers zu sein oder 'zivil ungehorsam'. Es gibt alle möglichen Formen von Sexualität. Nicht über alle redet man. Ich dageben spreche über: Scheinheiligkeit, Widersprüche, Schande."
    Vorbehaltlos und rational. Für ein romantisches Konzept wie "Liebe" ist in "Deproduction" kein Platz. Während sich da unaufhörlich die Körper mechanisch – und nie befriedigt – aneinander abmühen, vermisst man sie fast: Liebe als so ein Narrativ und eine Rettung vor all der Absurdität und dem Nihilismus, der audiovisuell auf einen niederprasselt. Gleichwohl berührt das, und man verlässt eher nachdenklich als angewidert die Veranstaltung.