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Kunstgeschichte
Die Welt im imaginären Museum

In seinem Buch "André Malraux und das imaginäre Museum" geht der Kunsthistoriker Walter Grasskamp dem Phänomen der reproduzierbaren Kunst nach. In der Erfindung der Fotografie sieht er dabei ein Schlüsselereignis.

Von Thomas Palzer | 22.10.2014
    2004 publizierte der Kunsthistoriker Walter Grasskamp ein schmales Buch mit dem Titel "Das Cover von Sgt. Pepper. Eine Momentaufnahme der Popkultur". In dem Essay beschäftigt sich der Autor ausführlich mit einer Ikone der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Nun hat er sich einer weiteren Ikone zugewandt - dem imaginären Museum und der Handvoll mit diesem Begriff standardmäßig verknüpften Fotografien. Das Buch trägt den Titel: "André Malraux und das imaginäre Museum. Die Weltkunst im Salon."
    Die Fotoserie, die der Essay in sein Zentrum rückt, ist am 19. Juni 1954 in der Illustrierten "Paris Match" im Zusammenhang mit einer Reportage über den Schriftsteller veröffentlicht worden. Autor dieser Fotoreportage ist der französische Fotograf Maurice Jarnoux. Ausführlich, kenntnisreich und mit Witz legt Grasskamp dar, wie die Bilderserie für einen späteren Betrachter inszeniert wurde und woher die Inspirationen dafür kamen. Die Reportage sei zwar, wie der Autor lakonisch bemerkt, aus der "Vogelperspektive" aufgenommen, allerdings sei sie aus der "Froschperspektive geschrieben". Eine Hagiographie.
    Die beeindruckend feinkörnigen Fotos einer 6 x 6- oder gar Plattenkamera zeigen den Kunsthistoriker André Malraux in der Rolle seines Lebens, einer Art "Heldenrolle", imperial über vor ihm auf dem Boden ausgebreitete lose Seiten eines Kunstbildbands gebietend. Es handelt sich dabei um die Fahnen seines damals aktuellen Buchs, um den zweiten Band der Trilogie zum Imaginären Museum. Dargestellt wird, wie Grasskamp treffend bemerkt, eine Art "Bildungsandacht": Der Hauptdarsteller Malraux lehnt - elegant gekleidet, die obligatorische Zigarette steckt lässig im Mundwinkel – an einem Doppelflügel mit tiefschwarz spiegelndem Lack, Requisit der Repräsentation schlechthin.
    "Dieses Bild kennt jeder Kunsthistoriker. Man begegnet ihm, wie ich dann feststellte habe in den vier Jahren, die ich an dem Buch gearbeitet habe, praktisch überall und erst recht jetzt im Internet so häufig, dass man merkt, es ist ein sehr beliebtes Selbstverständigungsbild für Kunsthistoriker. Aber ich habe nirgendwo gefunden: Wann ist es gemacht worden? Wer hat es gemacht? Was zeigt es? Wer hat es veranlasst? Und vor allen Dingen die Frage hat mich beschäftigt: Warum findet man das so gut?"
    André Malraux ist zu dieser Zeit bereits erfolgreicher Schriftsteller mit Erfahrung auf der politischen Bühne unter de Gaulle. Als dieser sich aus der Politik bis zum Jahr 1958 zurückzieht, wendet sich Malraux seiner alten Leidenschaft zu – der Kunst. Schon Mitte der 20er Jahre war er mit einem Kunstraub hervorgetreten, den er, um sich finanziell zu sanieren, an einem Tempel in Kambodscha begangen hat - und der ihm eine Gefängnisstrafe in Phnom Penh einbringt, die aber aufgrund des Einspruchs bekannter französischer Schriftstellerkollegen schließlich reduziert und zur Bewährung ausgesetzt wird. Und nun die Reportage für die Illustrierte 'Paris Match'. Malraux weiß die Medien geschickt für sich zu nutzen. Obwohl er noch nicht einmal Kunstgeschichte studiert hat, gibt er sich auf den Fotos souverän als Kurator einer 'Weltkunst', deren Existenz er mit einer Buchtrilogie gerade propagiert. Sie trägt den Titel 'Le Musée imaginäre de la sculpturemondiale'.
    "Und so habe ich das Buch eigentlich nur gemacht, weil ich lieber das Buch gelesen hätte, dass es schon gegeben haben könnte, haben sollte. Das passiert ja oft so, dass man etwas wissen will bei einem Sachverhalt, und sucht das Buch, in dem das da stehen könnte, und das Buch gibt's dann nicht, und dann muss man selber ran. Ich wollte aber eigentlich nur einen Bildessay machen.
    Bilder aus ihrer lokalen Gebundenheit lösen und kombinierbar machen
    "Weltkunst" lautet das Zauberwort - und ist, pragmatisch betrachtet, zunächst einmal eine Frage des Maßstabs. Bildwerke aus allen Kontinenten und aus drei Jahrtausenden müssen aus ihrer lokalen Gebundenheit gelöst, in ein neues, gemeinsames Format übersetzt und untereinander beliebig kombinierbar gemacht werden. Und genau das leistet der Verbund von Fotografie und Buch. Auf dem Papier von Bildbänden versammeln sich fotografische Reproduktionen und erlauben somit, dass der Betrachter beim Durchblättern vor seinem geistigen Auge ein Museum der Weltkunst imaginiert. Erleichtert wird das durch die damals in Kunstkreisen breit diskutierte und Volkskundlern bzw. Anthropologen entliehene These einer allgemein menschlichen Spiritualität, die an verschiedenen Orten gleiche Formen hervorgebracht habe.
    "Der wichtigste Querschläger war das Thema der Weltkunst. Da kam man jetzt nicht drumrum, denn auf dem Boden liegt das "La Museé imaginaire de sculpture mondiale", das "imaginäre Museum der Weltskulptur" – und schon ist man in der aktuellen Debatte um Globalisierung, um Kunstwissenschaft und globale Kunst, globale Märkte. Und dann wurde mir klar, dass in dem Foto eine Momentaufnahme des Weltkunstgedankens zu sehen ist. Und das ist ja auch das Genie von Malraux, dass er so etwas visualisieren konnte. Und dann kam ich in diese Weltkunstdebatte - die ich gerne umgangen hätte, weil sie ist so unhistorisch -, bis ich irgendwann dann die Kurve kriegte und merkte: Es geht hier nicht um eine Theorie der Weltkunst, sondern es geht um eine Praxis der Medialisierung von Weltkunst. Es geht um Bücher.
    "Malraux ist ein äußerst begabter Selbstdarsteller. Liegt ihm auf der Fotografie von Jarnoux gewissermaßen die Kunst der Welt zu Füßen, weiß sich sein 'Imaginäres Museum' des Beistands Hegels zu versichern, erspart dieses doch dem Betrachter" vor einem Madonnenbildnis die Knie zu beugen "wie Hegel die entscheidende Qualität moderner Kunstrezeption bestimmte."
    Unterstreicht das Sonnenlicht die Tiefe, so markieren die Vorhänge die Höhe des Raumes, ebenso wie der Handlauf, der die Größe einer mehrstöckigen Halle aufscheinen lässt, die auch eine Galerie aufweist, also nicht nur ein Musikzimmer ist, sondern auch eine Bibliothek. Auf dem Doppelflügel steht ein Blumenstrauß, weitere Andrucke liegen herum, eine aufgeschlagene Mappe ist zu sehen sowie ein kleiner Stapel leicht gewellter Fotoabzüge und eine irgendwie unpassend erscheinende Stofftasche.
    Türen zu einem neuen Weltverständnis
    Grasskamp analysiert nach den Regeln der Kunst die Arbeit des Fotografen. Pointiert fasst er die Bilderserie zusammen:
    "Europäische Kunstreligion wird vor der profanen Fotografie eines heidnischen Werks praktiziert."
    Mit dem Bildtheater eines 'imaginären Museums der Weltskulptur' reagiert Malraux auf das anbrechende Zeitalter der massenhaften Bildreproduktion – und tritt damit in die Fußstapfen von Walter Benjamins 'Kunstwerk'-Aufsatz, der 1936 auf französisch erschienen ist - elf Jahre, bevor Malraux zum ersten Mal mit dem Begriff des 'imaginären Museums' an die Öffentlichkeit tritt. Es ist kein Geheimnis, dass Malraux sehr wohl Benjamins Aufsatz gekannt und auf ihn auch Bezug genommen hat – allerdings nur kurz und beiläufig und eher so "wie auf eine Parallele zu eigenen Gedanken, denn als Verweis auf eine Anregung oder gar Inspirationsquelle."
    Grasskamp zeigt aber, das sowohl Benjamin wie Malraux vermutlich von einem wegweisenden Aufsatz Paul Valérys zum Thema Reproduzierbarkeit der Kunst inspiriert worden sind. 'La conquête de l'ubiquité' – die "Eroberung der Allgegenwart" - hatte dieser 1928 erstmals publiziert - und 1934 druckt Gallimard den Essay noch einmal nach – just jener Verlag, bei dem Malraux bekanntlich beschäftigt war. Die entscheidende Geburtsstunde für das imaginäre Museum erkennt Grasskamp jedoch in einer Begegnung Malraux' mit Alfred Salmony, dem damaligen Direktor des Kölner Museums. Der bereitete nämlich gerade eine Ausstellung vergleichender Kunst vor, und Clara Malraux, in deren Memoiren mit dem Titel "Als wir zwanzig waren" Grasskamp den Beleg für seine These aufgestöbert hat, heißt es, dass Salmony ihr und ihrem Mann André "die Tür zu einem neuen Weltverständnis geöffnet habe."
    André Malraux' hat mit seiner Trilogie zu einem Imaginären Museum nicht nur die Universalisierung des europäischen Kunstbegriffs propagiert, sondern darüber hinaus klar gemacht, aus der Kunstgeschichte sei "eine Geschichte des Photographierbaren geworden."
    Museum und Enzyklopädie waren die wichtigsten Werkzeuge der Aufklärung, um sich Welt anzueignen. Malraux hat mit 'dem imaginären Museum' der Idee von einem mobilen, tragbaren Museum zum Durchbruch verholfen. Heute haben wir die Kunst der Welt auf allen netzfähigen Geräten immer und überall dabei.
    Walter Grasskamp: "André Malraux und das imaginäre Museum. Die Weltkunst im Salon"