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Künstler in Griechenland
Überleben in stürmischen Zeiten

Die Lebenssituation der Künstler in Griechenland ist zwar prekär, die Mittel für die künstlerischen Produktionen knapper denn je. Dennoch scheint man die Leiden der Krise als Chance für den strukturellen Neuanfang zu verstehen.

Von Cornelius Wüllenkemper | 02.09.2015
    Im Foyer der Akademie der Künste ist derzeit eine Videoausstellung zu sehen, in der sich Künstler aus Griechenland präsentieren. Die Kinderbuchautorin Rodoula Pappá etwa erzählt aufwendig illustriert die Geschichte eines Vogelkäfigs. Er ist auf der Suche nach Vögeln und verspricht ihnen Sicherheit und Komfort, Wasser und Körner. Doch kein Vogel willigt in das Geschäft ein, lieber bleiben sie arm aber frei. Am Ende wirft der Käfig seine Türen weg und spendet allen Vögeln das, was sie benötigen. Eine Metapher auf die Verhandlungen Griechenlands mit der Troika? Ein Bild für das Spannungsverhältnis zwischen Kunst, Freiheit und finanzieller Sicherheit? Der Musiker und Komponist Michalis Lapidakis überblendet in seiner filmisch-musikalischen Installation "Howl" nach Allen Ginsberg verzerrte Gesichter schreiender Menschen mit Bildern von den Ausschreitungen in Athen und apokalyptischen Szenen von Hieronymus Bosch. Lapidakis, Professor für zeitgenössische Musik an der Universität in Thessaloniki, glaubt keineswegs, dass die katastrophalen Zustände in der kreativen Szene seines Landes auf das Austeritätsdiktat der Politik zurückgehe.
    "Das mag sich komisch anhören, aber für mich hat die Krise bereits vor der jetzigen Krise begonnen. Der überzogene Konsum, diese Verlogenheit der ganzen Situation, das war eine weitaus realere Krise als die Wirtschaftskrise von heute. Das griechische Volk war auf diese Krise moralisch und geistig nicht vorbereitet. Denn früher funktionierte die Kulturszene nach dem Prinzip sehen und gesehen werden. Wir hatten Institutionen, die uns Künstler unterstützt haben. Allen ging es mehr oder weniger gut. Aber das war eine Lüge, die reine Verschwendungssucht. Insofern ist die heutige Krise apokalyptisch. Eine große Lüge wird entblößt. Ich sehe kein verlorenes Paradies hinter uns, es gibt nichts, was ich vermissen würde."
    Die Krise als Chance zum Neuanfang? Der per Video aus Athen zugeschaltete Autor und Theaterregisseur Anestis Azas, der mit Inszenierungen an der Seite von Dimiter Gotscheff und mit dem Kollektiv Rimini Protokoll in Deutschland bereits Erfolge feierte, deutet den griechischen Ausnahmezustand gar als Erlösung aus der Isolation.
    "...weil wir sehr lange in diesem Land ästhetisch isoliert abgekoppelt waren vom ästhetischen Dialog in Mitteleuropa. Dass man jetzt versucht, Projekte im Ausland auf die Beine zu bringen im Ausland, das ist eine gute Sache im Endeffekt. Ästhetisch, was hier passiert, das ist, dass es einfach nicht mehr möglich ist, größere Produktionen zu planen, es ist nicht mehr möglich, mit mehreren Schauspielern zu arbeiten, weil man die nicht mehr bezahlen kann. Große Bühnenbilder, wie man das kennt aus den Theatern in Deutschland und in Mitteleuropa, das ist hier einfach mal unvorstellbar. Man muss auf ganz einfache Formen zurückgreifen."
    Die Krise hat zweifellos ihre eigene Ästhetik. Nicht wenige Künstler in Athen übernehmen für Spottpreise leer stehende Geschäftsräume, neue Lebens- und Kunstkollektive bilden sich. Als "Befreiung vom devoten Kulturkonservatismus" beschrieb die Theaterregisseurin und Schauspielerin Roula Pateraki den Totalausfall der griechischen Kulturpolitik. Wovon aber sollen Künstler in Griechenland leben, wenn der Staat nicht subventioniert und der Bürger immer weniger konsumiert? Eine solide griechische Kulturpolitik habe es seit der Gründung des modernen Staates 1828 nie gegeben, betont Christos Carras, der Leiter des Onassis Cultural Center Athen, der wichtigste Mäzen des Landes. Er sieht Griechenland am Scheideweg: einerseits sei immer weniger Geld vorhanden, andererseits wachse das internationale Interesse daran, wie griechische Künstler mit dem Zerfall umgehen.
    "Jede Zeit bringt ihre Kunst hervor. Derzeit leben wir in einem extremen Ausnahmezustand. Der Staat ist politisch nicht mehr handlungsfähig, und es gibt keine Öffentlichkeit mehr, die vom Staat geprägt würde. Und auch die Rechte des Bürgers werden stark eingeschränkt. Wir stehen vor einem Trümmerberg. Die Rolle der Kunst ist dabei noch wichtiger geworden: die Kunst ist der einzige Ort, an dem sich Menschen mit der jetzigen sozio-politischen Situation auseinandersetzen und so eine Öffentlichkeit schaffen können."
    Wer in der zum Teil ziemlich mäandernden Diskussion in der Akademie der Künste wütende Klagen über fehlende Mittel, das Spardiktat und die Troika erwartet hatte, sah sich weitgehend getäuscht. Die Lebenssituation der Künstler in Griechenland ist zwar prekär, die Mittel für die künstlerischen Produktionen sind zwar knapper denn je. Dennoch scheint man das Leiden als Chance für den strukturellen Neuanfang zu verstehen. Bleibt die Frage, ob das nun als aufrechtes Selbstbewusstsein oder als hilfloses Pfeifen im Walde zu deuten ist.