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Kunstwissenschaft
Tribunal über die Wirklichkeit? Das Dokumentarische in der Kunst

Zunächst wirkt die Frage nach dem Dokument auf den Kunstwissenschaftler Daniel Hornuff irgendwie anachronistisch: "Ist das Dokument nicht längst tot? Hat die Postmoderne in ihrem Drang, alles in Anführungszeichen und in die Tonlage der Ironie zu setzen, das Dokument nicht längst zu Grabe getragen?"

Von Daniel Hornuff | 10.08.2014
    PD Dr. Daniel Hornuff steht am Pult auf einer Bühne.
    PD Dr. Daniel Hornuff, akademischer Mitarbeiter für Kunstwissenschaft und Medientheorie (BR / Stefanie Ramb)
    Kein Mensch glaubt doch mehr an das Dokument als ein Ding, das aus sich selbst heraus eine Bedeutung erzeugt, um auf so etwas wie das Eigentliche oder das Tatsächliche zu verweisen." Derartige Zuordnungen sind heute fremd geworden, der Status eines Dings ergibt sich vor allem aus seiner Einbettung in einen Ort, in ein Medium, in eine Handlung, in eine Situation, in eine bestimmte Kultur oder in eine konkrete historische Konstellation.

    Nichts ist allein aus sich selbst heraus. Schon gar nicht ein Dokument. Allenfalls dokumentiert es noch eine letzte Sache: sich selbst! Doch nie zuvor war das Dokumentarische in der Kunst so präsent wie heute. Nicht mehr der Gestus der Anklage spielt dabei die erste Rolle, es sind raffiniertere und sogar ironische Formen dokumentarischer Kunst beobachtbar.
    Daniel Hornuff, geboren 1981, ist akademischer Mitarbeiter für Kunstwissenschaft und Medientheorie. Er hatte Lehraufträge an den Universitäten München, UdK Berlin, Wien, Mozarteum Salzburg, Tübingen und an der Bayerischen Theaterakademie August Everding. 2013 legte er seine Habilitation mit einer Arbeit über die Kultur der Schwangerschaft und venia legendi für das Fach Kunstwissenschaft vor.

    Lesen Sie hier das ganze Manuskript:
    Auf dem Forum Essay über Formen des Dokumentarischen im Mai dieses Jahres in München hielt der Kunstwissenschaftler Daniel Hornuff einen Vortrag über dokumentarische Formen in der bildenden Kunst. Hornuff, geboren 1981, ist Akademischer Mitarbeiter für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Nach Lehraufträgen in München, Berlin, Salzburg und Tübingen legte er 2013 seine Habilitation mit einer kunstwissenschaftlichen Arbeit über die Kultur der Schwangerschaft vor. Auf dem Forum Essay stand die Fragestellung "Tribunal über die Wirklichkeit" als Titel über seinem Vortrag.
    Hören Sie zwei kurze Gesprächsausschnitte mit Daniel Hornuff über dokumentarische Formen in der Kunst und im Anschluss seinen Vortrag.
    "Ich glaube, die bildende Kunst hat den Vorteil, mit den dokumentarischen Formen zu spielen, und ich erinnere mich an ein Zitat von Walker Evans, dem Fotografiekünstler, der wurde am Ende seines Lebens gefragt; "Ja, was haben Sie eigentlich gemacht? Sind das Dokumente, was Sie gemacht haben?" Und er hat gesagt: "Nein, also Dokumente, fotografische Dokumente produziert im Grunde genommen nur die Polizei bei Tatorten. Was ich gemacht habe, ist eine dokumentarische Ästhetik zu entwickeln." Und für den Unterschied zu sensibilisieren ist die bildende Kunst ein wunderbares Spielfeld.
    Dass es sozusagen ganz sicher Dokumente gibt, aber dass es auch eine dokumentarische Ästhetik gibt, die noch nicht von sich behauptet, Dokumente herzustellen, sondern im Grunde genommen mit der ästhetischen Oberfläche von Dokumenten mit denen zu spielen, und da würde ich sozusagen auch die besondere Rolle der bildenden Kunst sehen. Ob sie das dann mal gelungen oder nicht gelungen ausführt, das müsste man dann natürlich im Einzelfall schauen."
    Und weiter Daniel Hornuff auf dem Forum Essay zu der Frage, wie Wirklichkeit im Dokumentarischen abgebildet werden kann.
    Die konstruierte Wirklichkeit
    "Alles ist Konstruktion, selbst die Wirklichkeit ist Konstruktion, und wenn die Wirklichkeit Konstruktion ist, ist das Dokument erst recht Konstruktion. Und in dem Kontext muss man natürlich auch solche Fotografieprojekte sehen, die Bilder sind niemals O-Töne, sind niemals Texte, sind niemals aus sich selbst heraus ein Dokument. Höchstens ein Dokument für sich selbst. Aber sie sind damit noch kein Verweis auf etwas außerhalb ihnen Liegendes. Und das muss hergestellt werden durch einen Kontext, durch eine Metainformation, durch die Einbettung in einen bestimmten Rezeptionsumraum, wie auch immer.
    Also immer geht es darum, dass auch das Dokument als Dokument beglaubigt werden muss. Dass es letztlich auch inszeniert werden muss. Ich habe heute kein einziges Dokument gesehen, das nicht in irgendeiner Weise inszeniert wurde. Selbst wenn eine Tonspur daruntergelegt wird und man vielleicht dann noch sagen könnte, ja, dann dient die vielleicht eher als Rezeptionseinstieg.
    Nein, das ist schon eine Form der Inszenierung des Materials und dann muss man auch überhaupt keine falsche Scheu haben vor der Inszenierung oder Ästhetisierung oder Stilisierung. Letztlich, wenn alles Konstruktion ist, und das ist, glaube ich, sozusagen ein Fakt oder eine Alltagserfahrung auch, dann werden die Kategorien zwischen dem Wahrheitsanspruch und dem Lügenvorwurf an Dokumente hinfällig und es ist eingebettet in eben das. Wir verhalten uns zu der Wirklichkeit und damit verhalten wir uns auch zu Dokumenten und legen sie gewissermaßen aus."
    Und nun der Vortrag "Tribunal über die Wirklichkeit - Das Dokumentarische in der Kunst" von Daniel Hornuff, gehalten im Auftrag des SWR auf dem Forum Essay 2014:
    "Seien wir ehrlich: Die Frage nach dem Dokument wirkt doch irgendwie anachronistisch. Ist das Dokument nicht längst tot? Hat es die Postmoderne in ihrem Drang, alles in Anführungszeichen und in die Tonlage der Ironie zu setzen, hat sie also das Dokument nicht längst zu Grabe getragen? Kein Mensch glaubt doch mehr an das Dokument als ein Ding, das aus sich selbst heraus eine Bedeutung erzeugt, um auf so etwas wie das Eigentliche oder das Tatsächliche zu verweisen.
    Wahrheitsdiskurse sind die Sache von Nostalgikern. Die meisten haben aber doch längst verinnerlicht, dass sich der Status eines Dings vor allem aus seiner Einbettung in einen Ort, in ein Medium, in eine Handlung, in eine Situation, in eine bestimmte Kultur oder aber in eine konkrete historische Situation und Konstellation ergibt. Nichts ist allein aus sich selbst heraus. Schon gar nicht ein Dokument.
    Allerdings: Unsere Alltagserfahrungen sprechen eine andere Sprache. Sie sind ja geradewegs durchdrungen von Ereignissen und Erlebnissen, in denen sich Dinge von sich aus als "dokumentarisch" zeigen: Wer auf Facebook Freunde besucht, betrachtet deren Bilder wie selbstverständlich als Abdrücke fotografisch fixierter Gesichter oder gar als Spuren eines ganzes Alltags.
    Andere verlieben sich im Internet ineinander oder leiten per Doppelklick gleich die ganze Verlobung ein - ohne dass sie ihren Menschen fürs Leben jemals in ihrem bisherigen Leben gesehen hätten. Wie sollte dies ohne ein intuitives Vertrauen auf die dokumentarische Kraft einer medialen Vergegenwärtigung möglich sein?
    Oder, um mit dem Autoren Jan Verwoert zu fragen: "Ist das derzeitige Interesse für Dokumentation nur ein Trend oder das Ergebnis eines längeren Prozesses der Suche nach angemessenen künstlerischen Mitteln zur Darstellung sozialer Inhalte?"
    Ein Blick in die Geschichte
    "Wie so oft bei Fragen, die in Sichtweite zu Grundsätzlichem stehen, lohnt ein Blick in die Geschichte. Und hierbei zeigt sich, dass es gar nicht so sehr die bildende, sondern zunächst einmal die darstellende Kunst des Theaters gewesen war, die dem Denken über das Verhältnis von Kunst und Dokument entscheidende Konturen verliehen hat. Ein besonders produktives Beispiel ist dem Abend des 12. Juli 1925 zu verdanken: Es muss ein wildes, aufpeitschendes, berauschendes Ereignis gewesen sein.
    Denn als sich die Eingangstüren des Berliner Schauspielhauses geschlossen hatten und nachdem das Licht im Zuschauerraum gedimmt worden war, da sei "das Theater [ ... ] zur Wirklichkeit geworden". Wie im Taumel eines orgiastischen Furors habe sich das Haus in "ein[en] einzige[n] große[n] Versammlungssaal, ein einziges großes Schlachtfeld, eine einzige große Demonstration" verwandelt.
    So tönen sie, die vom Klassenkampf erhitzten Worte Erwin Piscators. Der dominierende Regisseur des proletarischen Theaters zur Zeit der Weimarer Republik war hingerissen von der Wirkung, die sein neuestes Werk auf die versammelte Masse entfacht hatte.
    Die gemeinsam mit dem Dramaturgen und Schriftsteller Felix Gasbarra entwickelte Revue "Trotz alledem!" hatte soeben den Parteitag der KPD eröffnet - und neben Piscator auch etliche parteinahe Theaterkritiker in geradezu ekstatische Zustände versetzt. Entsprechend lesen sich ihre Besprechungen wie nachträgliche Werbeschriften: "Spiel und Wirklichkeit" seien "in einer ganz sonderbaren Weise ineinander über[gegangen]". Und weiter: "Du weißt oft nicht, ob du im Theater oder in einer Versammlung bist, du meinst, du müßtest eingreifen und helfen. [ ... ] Das Publikum fühlt, dass es hier einen Blick in das wirkliche Leben getan hat"."
    Einschleusung der Wirklichkeit in die Kunst
    "Der Blick in das wirkliche Leben - das war Piscators stärkste Waffe gegen eine vom Bürgertum ausgehöhlte Theater- und Kunstform, die sich vom Leben abgewandt hatte und sich nur noch in Selbstbezogenheit zu üben schien. Denn nach Piscator sollte nicht Kunst um der Kunst willen, sondern Kunst um des Lebens willen das Ziel allen künstlerischen Schaffens sein.
    Und für Piscator bedeutete dies: Durch einen geradezu inflationären Einsatz dokumentarischen Materials sollte die Wirklichkeit von draußen in das Spiel drinnen eingeschleust werden. Die als entfremdend empfundenen Verhältnisse des Lebens von der Straße sollten in den Theaterinnenraum einströmen, um dort in ihre Einzelteile zerlegt, neu kombiniert und als flammender Appell der Klasse der Arbeiter kredenzt zu werden.
    Ein Mix aus "authentischen Reden, Aufsätzen, Zeitungsausschnitten, Aufrufen, Flugblättern, Fotografien und Filmen des Krieges und der Revolution, von historischen Personen und Szenen" bevölkerten fortan Piscators Szenen. Es ging Piscator um den möglichst vollständigen Ausschluss alles Erfundenen, bloß Erdachten, nur Fiktionalisierten. Fantastik war die Sache der Großindustriellen. "Der Beweis, der überzeugt, kann sich nur auf eine wissenschaftliche Durchdringung des Stoffes aufbauen", erklärte Piscator stattdessen wenige Jahre später programmatisch.
    Besondere Bedeutung kam dem Einsatz des Films zu. In ihm sah Piscator die einmalige Möglichkeit, das wissenschaftliche Dokument um die Zusatzpotenz einer wirkungsästhetischen, szenischen Wucht zu erweitern.
    Zieht man einige jener wohlgesonnenen Kritiken hinzu, die die Piscator-Aufführungen in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre begleitet haben, so scheint sich die gewünschte Verschränkung von Dokument und Versinnlichung tatsächlich eingestellt zu haben: Berichtet wurde von einem regelrechten Aufbrüllen im "Zuschauerraum [...] vor Schmerz und Selbstanklage".
    An anderer Stelle ist zu erfahren, wie sogar ganze "Kräfte wuchsen", und einige fühlten sich nach den Aufführungen, "als habe man gebadet". Wieder andere gaben an, dass die Piscator-Spektakel aus schriftlichen, akustischen und filmischen Dokumenten eine "höchst innerliche Wirkung - Gesinnung" ausgestrahlt hätten, sodass am Ende eines solchen Theaterdröhnens regelmäßig "die Begeisterung [...] allgemein" geworden sei: Alles löse "sich brausend in der 'Internationalen' aus"."
    Die Ausleuchtung des im Dunkeln Wirkenden
    "Machen wir einen historischen Sprung über den Zweiten Weltkrieg und die unmittelbare Nachkriegszeit hinaus und gehen hinein in den Beginn der 1960er-Jahre - in jene Jahre also, in denen eine zeitlich und personell klar begrenzte Gruppe Theaterschaffender ein "Theater der Berichterstattung" erneut für unumgänglich hielt. Jedoch nicht der Klassenkampf, sondern der Kampf gegen die verdrängte Nazi-Vergangenheit, der Kampf gegen das "Schweigen" bildete nun die Hintergrundfolie, vor der ein Dokumentarisches Theater entfaltet wurde.
    Am einzelnen Dokument das Übergeordnete aufzeigen, am Individuellen Prinzipielles sichtbar machen, die Form bearbeiten, den Inhalt aber mit einem künstlerischen Berührverbot belegen: So erhofften sich die Dokumentaristen um Piscator die Befreiung von "bedrückenden" Zuständen und eine Ausleuchtung des im Dunkeln Wirkenden.
    Peter Weiss' Dokumentartheaterstück "Die Ermittlung" aus dem Jahr 1966, ausschließlich arrangiert aus Protokollabschriften des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, dessen Beobachter Weiss gewesen war - als dieses Ermittlungsstück seine Arbeit aufnahm, da ermittelte das Künstlersubjekt selbst. An der Figur des Autors hatte sich die ontologische Qualität des Dokuments zu beweisen. Die moralische, soziale und politische Integrität des Künstlers war es, aus der heraus der Anspruch auf eine Tribunalisierung der Kunst abgeleitet wurde."
    Die Ästhetik des Dokumentarischen
    "Im politischen Zeittheater der 1920er-Jahre und im Dokumentarischen Theater der 1960er-Jahre finden sich also bereits viele Argumente einer Auseinandersetzung, die sich auch heute wieder dem Verhältnis von Kunst und Dokument widmet. Wie kann ich, so fragten die Dokumentaristen, durch den Einsatz von Dokumenten ein fiktionales Setting beglaubigen? Und welchem Zweck soll diese Beglaubigung dienen: Soll sie nur bewahrheiten und eine Sache als unleugbar ausweisen?
    Oder soll die Beglaubigung auch eine Tendenz andeuten: Können Dokumente also Anklage erheben, auf Missstände hinweisen und letztlich Aufklärung im emphatischen Sinne betreiben? Oder sind Dokumente immer auch auf bestimmte Inszenierungen und Arrangements angewiesen, auf eine Ästhetik des Dokumentarischen? Müssen Dokumente nicht auch ihrerseits, gerade im geschützten Raum der Kunst, als Dokumente beglaubigt werden? Gibt es also überhaupt so etwas wie ein letztgültiges Dokument, von dessen Wahrheitsanspruch alle anderen Dokumente und Dokumentarformen abzuleiten wären?"
    "Entsprechend liegt auch der gesamten jüngeren Dokumentarismus-Debatte die Tendenz zugrunde, die Grundsatzfragen von Kunst und Dokument aufzuwerfen. So wird fast permanent in ähnliche Muster sortiert und in stets wiederkehrenden Konstellationen diskutiert, was bereits zur Mitte der 1960er-Jahre als dokumentarisches Allgemeinwissen gegolten hatte."
    Daher lohnt es sich, die Theoriedebatte einmal daraufhin zu befragen, welche Argumente besonders oft, besonders prominent und besonders lautstark vorgetragen oder als ausnehmend dringlich markiert werden. Drei Kategorien lassen sich beobachten. Diese möchte ich Ihnen kurz nennen."
    Fotografie als dokumentarische Herausforderung
    "Also Kategorie 1 würde ich überschreiben mit "Fotografie als dokumentarische Herausforderung der Kunst", Kategorie 2 "Der Künstler als Seismograph" und Kategorie 3 "Das Dokument als Sprungbrett zur Grundsatzdebatte".
    Beginnen wir mit Kategorie 1, der Fotografie als einer dokumentarischen Herausforderung für die Kunst. Hierbei haben wir es mit der wohl beliebtesten Kategorie der Kunst-Dokument-Debatte zu tun. Ihr Wesenskern besteht darin, dass sie zunächst an die Erfindung der Fotografie in den späten 1820er und frühen 1830er-Jahren erinnert. Damit will sie herausstellen, dass durch das neue technische Medium insbesondere die Malerei in ihrer bildnerischen Vormachtstellung relativiert, das heißt unter Konkurrenzdruck gesetzt worden sei. Geläufig ist es dabei geworden, einen der bekanntesten Erfinder der Fotografie, den Briten William Henry Fox Talbot, mit seiner berühmt gewordenen Formel vom "Pencil of Nature", dem "Zeichenstift der Natur", zu zitieren.
    Das Dokumentarische gilt diesem Ansatz als das Non-Fiktionale schlechthin. Dokumentarisch wird an "authentisch" gekoppelt, davon ausgehend, dass der Wirklichkeitsbezug des Dokuments dessen eigentliche Charakteristik bildet.
    Gerade an Talbot ist jedoch zu zeigen, mit welch raffinierten Verfahren das neue Medium Fotografie mit der Suggestion dokumentarischer Leistungskraft nachträglich ausgestattet wurde. In seiner in den Jahren 1844 - 1846 erschienen Publikation unter dem bereits angesprochenen Titel ist zu studieren, wie die 24 darin abgebildeten Fotografien von ihrem Produzenten besprochen und als "Abdrücke" einer aufgefangenen Lichtspur ausgedeutet werden.
    Talbot selbst wird damit zum Initiator eines neuen Bildvokabulars, zum Regisseur eines veränderten Bildbegriffs. Letztlich waren es weniger die dokumentarischen Eigenleistungen seiner Bilder als deren spätere semantischen Einkleidungen, die ihnen ein bestimmtes Image, ein neuartiges Bedeutungsspektrum verliehen haben. "Mit seinen Überlegungen zum Abdruck", schreibt der Kunsthistoriker Peter Geimer, "ist Talbot einer der ersten in einer langen Folge von Autoren, die das Wesen der Fotografie nicht - oder nicht ausschließlich - in den formalen und ästhetischen Eigenschaften der mit ihrer Hilfe hergestellten Bilder suchen, sondern im Prozess der Herstellung selbst".
    Wahrheitsversprechen von Bildern
    Dass Talbots Fotografien ihre spezifische Herstellungsweise wohl kaum bis gar nicht anzusehen ist, die Fotografien aber gerade aufgrund ihrer Produktionsart als Dokumente der Wirklichkeit ausgegeben werden, sollte nur umso mehr dafür sensibilisieren, wie umfassend die Wahrheitsversprechen von Bildern Ergebnisse jener Zuschreibungen sind, die auf sie gerichtet werden.
    Deutlich innovativer wirken daher Perspektiven, die etwa der Kunsthistoriker Michael Diers eingebracht hat. In seinen 2006 erschienen Beiträgen zu einer kritischen Theorie des Bildes beschäftigt er sich unter anderem mit der Frage, wie die Grauwerte von Bildern sowohl als Argument als auch Dokument eingesetzt werden können. Damit konzentriert sich Diers auf ein spezielles ästhetisches Merkmal der Fotografie - allerdings mit dem Ziel, dieses nicht isoliert zu deuten, sondern in seinen kunstgeschichtlichen Zusammenhang einzugliedern.
    Diers schreibt: "Mit der Erfindung der Fotografie ist das Bild der Welt 'grau' geworden, und dies weit über jenes Maß hinaus, das die traditionellen graphischen Schwarzweiß-Techniken bis dahin vorgegeben hatten. [ ... ] Der Ubiquität des Schwarzweiß-Bildes korrespondierte dabei die Vorstellung, die Fotografie liefere das authentische und beglaubigte Abbild der Realität. [ ... ] Das Fehlen der Farbe hat geradezu den Nachweis für ein [ ... ] 'wahres' Bild erbracht".
    Es war also gerade kein Mehrwert, sondern, wenn man so will, der ins Grau abgetauchte Wenigerwert der Fotografie, auf den sich die Idee von dokumentarischen Bildern richten ließ. Damit ist ein Gedanke angesprochen, für den viele vor allem heutzutage besonders empfänglich sein dürften: Gerade wenn Bilder weniger bunt, weniger klar konturierend, weniger abbildungstreu im Sinne mimetischer Wirklichkeitswiedergabe auftreten, dann spricht man ihnen doch eine besonders starke Unmittelbarkeit zu. Grauwerte gehören zu den erfolgreichsten Authentizitätswerten.
    Es sind also nicht Aufwallung und Aufbauschung, sondern Entzug und Wegnahme von Sinnlichkeit, die Bilder zu Dokumenten erkalten lassen. Noch immer regiert in solchen Anschauungen die Vorstellung einer aufzeichnenden Maschine, die allein nach rationaler Logik operiert, mechanisch sieht und entsprechend unverfälscht wiedergibt. "Grau" sei "die Farbe der Sachlichkeit", so auch Diers' Einschätzung."
    Der Künstler als Seismograf
    "Nun zur zweiten Kategorie der Kunst-Dokument-Debatte - zur Idee vom Künstler als Seismografen. Eine oft geäußerte Auffassung scheint darin zu liegen, nicht das Medium der Kunst - wie etwa die Fotografie -, sondern den Künstler selbst als das Medium eines dokumentarischen Akts zu betrachten. Es geht diesem Ansatz also darum, zu begründen, warum das Künstlersubjekt, ähnlich dem Dokumentartheater der 1960er-Jahre, eine Instanz ist, in die sich Wirklichkeitserfahrungen besonders unverstellt einprägen können. So sei das Material der Realität in der Konstitution des Künstlers in ihrer ganzen Fragilität und Besonderheit konserviert.
    In einem zweiten Schritt lässt sich dann argumentieren, dass der Künstler nicht mehr schöpferisch im Sinne einer Kreativitäts- oder Imaginationsleistung arbeitet, sondern dass er lediglich - es mag despektierlich klingen - ausspuckt, was sich in ihm als Erfahrungsschatz abgelegt hat. Seismographisch sensibel zeichnet das Künstlersubjekt Bruchstücke der Realität auf, um diese, vielleicht kombiniert mit bereits abgelegten Erfahrungsstücken, wieder ausgeben zu können. Der Künstler wird damit zu einem arrangierenden Medium einer Wirklichkeit verklärt, die sich selbst nicht äußern kann und daher geradezu notwendig auf die Verdichtungsarbeit des künstlerischen Geistes angewiesen ist.
    Es ereignet sich in diesem Argumentationsgang eine gleich doppelte Künstlermystifizierung: Unter dem Banner, dokumentarische Kunst als Ausdruckskunst eines erlebenden Künstlerindividuums zu fassen, wird der Künstler erst zum Seismografen und dann zum Heilsbringer einer in Schieflage geratenen Wirklichkeit erhöht.
    Er hat also Widersprüchliches in sich zu vereinen: Einerseits soll er die Sensibilität aufweisen, die ihm ermöglicht, viel genauer als andere Personengruppen die Botschaften des herrschenden Zeitgeistes einzufangen. Zugleich aber soll er über genügend Robustheit verfügen, die es ihm gestattet, in den herrschenden Zeitgeist aufklärend und im Idealfall urteilend und verändernd eingreifen zu können.
    Damit sind durchaus prominent besetzte Positionen der modernen Kunstgeschichte aufgerufen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Was ist die surrealistische écriture automatique, das automatische Schreiben, anderes als der Versuch, den Künstler zum Seismografen seiner inneren Traum-, Assoziations- und Gedankenströme zu machen? Was war sie anderes als der Versuch, den Künstler in den Stand zu versetzen, auch hier "in der Form bearbeitet, im Inhalt aber unverändert" einer von ihm erlebten Wirklichkeit zum Ausdruck zu verhelfen? Sie also exakt so zu dokumentieren, wie sie sich in ihm konserviert hat?
    Fotografie als technisches Analogon zum Künstlerbild
    Entsprechend groß fiel die Faszination einiger Surrealisten für das Medium der Fotografie aus. In ihr sahen sie das technische Analogon zu ihrem Künstlerbild. Denn auch die Fotografie konnte, so schienen jedenfalls entsprechende Experimente zu zeigen, Unsichtbares sichtbar werden lassen. "'Damit die unverhüllte, bestürzende Irrationalität gewisser Vorkommnisse zutage tritt'", schreibt André Breton 1937 in "L'Amour fou", "'ist die strengste Authentizität des sie verzeichnenden menschlichen Dokuments unerlässlich'".
    So zeigt sich: Seismografische Qualitäten lassen sich zu gleichen Teilen auf Maschinen wie auf Künstler projizieren. In beiden Fällen wird davon ausgegangen, das künstlerische Dokument als Nachweis einer überalltäglichen Wirklichkeit dingfest machen zu können. Dies kann sowohl die surrealistische Verklärung des Unbewussten als auch die Aktivierung eines gesellschaftspolitischen Kunstengagements betreffen. Nicht von ungefähr kam es, dass Breton ab den 1930er-Jahren, als er um das Überleben seiner Truppe kämpfte, zum Mittel der Politisierung griff - und seine Mannen politisch zu radikalisieren suchte, indem er sie zum Kommunismus bekehren wollte.
    Damit ist auch angeschnitten, was die dritte und letzte Kategorie der aktuellen Kunst-Dokument-Debatte kennzeichnet: nämlich ihr Hang, durch immer wieder neue Bestimmungen einer dokumentarisch agierenden Kunst die Grundsatzfragen der Kunst an sich und des Dokuments an sich zu klären.
    Der Kunstwissenschaftler Tom Holert hat diesen Umstand auf den Punkt gebracht, als er zu bedenken gab, dass "der Griff zu den Rhetoriken, Haltungen, Epistemologien und Ansprüchen des Dokumentarischen [ ... ] ohne einen entsprechenden 'metadokumentarischen' Diskurs, der diesen Griff wiederum thematisiert [ ... ], nicht (mehr) vorstellbar" sei.
    Die Debatte ist also insofern als eine "metadokumentarische" einzustufen, als ihr keine Werkbesprechungen, sondern Diskurs- und Theoriebesprechungen zugrunde gelegt werden. Nochmals mit Holert gesprochen: "Die anhaltende, insistierende Faszination für das dokumentarische Sehen [ ... ] erklärt sich nicht zuletzt durch die metadokumentarische Liebe zur Wahrheit der dokumentarischen Wahrheitsliebe".
    Daraus ergeben sich brisante Fragen: Denn was ist mit einer Debatte gewonnen, die die Charakteristik eines Phänomens einfangen will, zugleich aber genau dieses Phänomen aus den Augen verliert? Offenkundig bleiben zwei Möglichkeiten: Entweder nimmt die Debatte den Abzweig in Richtung einer Grundsatzdebatte - und versucht damit mehr unverbindlich als bestimmend zu klären, um was es sich bei "der" Kunst und "dem" Dokument eigentlich handelt.
    Ein Schuss mehr dokumentarischer Ehrgeiz
    Oder aber sie nimmt den Ausgang in Richtung ihres eigenen Endes - und sieht ein, dass das Aufwerfen von Grundsatzfragen in der Regel Ausdruck einer Verlegenheit ist: Im Gefühl, nicht mehr wesentlich voran zu kommen oder gar schon in Stagnation zu verharren, werden Kunst und Dokument zu Sprungbrettern einer Lust am Allumfassenden.
    Besonders augenfällig wird diese Expansion der Debatte ins Allgemein-Unspezifische an der mittlerweile florierenden Fülle der verwendeten Begriffe: So kreuzen sich mit "Dokument", "Dokumentarismus", "Dokumentalität", "Doku-Fiktion", "dokumentierend"' "dokumentarisch" Begriffswelten wie "Authentizität", "Wahrheit", "Tatsächlichkeit", "Wirklichkeit", "Realität", "Realismus", aber vor allem auch "Zeugenschaft", "Beleg", "Beglaubigung", "Zertifikat", "Belehrung", "Aufklärung" und sogar, wie gesehen, "Anklage", "Verhandlung", "Tribunalisierung" und "Gerichtsbarkeit"."
    "Und damit ist an den Beginn zurückzukehren. Das Gefühl, wonach die Frage nach dem Dokument ein wenig aus der Zeit gefallen sein könnte, ist wohl gar nicht so sehr der offenkundig lebhaften Doku-Szene aus der filmischen wie bildenden Kunstpraxis geschuldet. Jenes Gefühl ist wohl eher Effekt einer Debattenkultur, die das Jeweilige und Spezielle aus dem Blick verliert, um das Allgemeine und große Ganze anvisieren zu können. Ein Schuss mehr dokumentarischer Ehrgeiz stünde also auch der Theorie ganz gut: Um wieder stärker unterfüttern, beglaubigen und nachweisen zu können, was sie als Einsicht herstellen möchte.
    Ich danke Ihnen herzlich."
    Das war der Vortrag "Tribunal über die Wirklichkeit - Das Dokumentarische in der Kunst" von Daniel Hornuff, gehalten im Auftrag des SWR auf dem Forum Essay 2014. Redaktion und am Mikrofon Barbara Schäfer.