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Kupferstichkabinett Berlin
Eine Kunstform neu entdecken

Das Kupferstichkabinett in Berlin ist weltbekannt als eines der größten seiner Art mit einer halben Millionen Kupferstichen und Zeichnungen. Für seine Sonderschau zur Zeichnung des 19. Jahrhunderts musste das Museum kein einziges Werk aus anderen Galerien ausleihen. Eine Ausstellung, die einen neuen Blick auf eine damals eher verkannte Kunstform bietet.

Von Carsten Probst | 24.09.2016
    Blick auf den Eingangsbereich des neuentstandenen Kulturforums im Bezirk Tiergarten, nahe dem Potsdamer Platz. In dem Museumskomplex sind die Gemaeldegalerie, das Kupferstichkabinett, die Kunstbibliothek und das Kunstgewerbemuseum untergebracht.
    Das Kupferstichkabinett ist Teil des Kulturforums in Berlin. (Imago / Jürgen Ritter)
    Der in Danzig geborene Maler Eduard Hildebrandt war ein wahrer Weltreisender. Zwischen 1844 und 1862 unternahm er von Berlin aus insgesamt sechs große Touren, die ihn unter anderem an das Nordkap, nach Brasilien, Nordamerika und an die westafrikanische Küste, später auch nach Indien und China führten. Tausende Reisezeichnungen sind das Ergebnis dieser Expeditionen, die Teils von Alexander von Humboldt und dem preußischen Königshaus mitfinanziert wurden.
    Um ein möglichst hohes Maß an realistischer, auch wissenschaftlich verwertbarer Wirkung zu erzielen, aquarellierte Hildebrandt viele dieser Zeichnungen, deren prachtvoller Detailentwicklung man sich heute kaum entziehen kann. Eine enge, mit chinesischen Schriftbändern verhangene Gasse in Canton, ein Blick auf den Taj Mahal im indischen Agra, eine wild-tropisch anmutende Küstenlandschaft in Birma.
    An ihnen macht Heinrich Schulze-Altcappenberg, der Direktor des Berliner Kupferstichkabinetts, den Bedeutungswandel fest, den Zeichnungen des 19. Jahrhunderts bis heute durchgemacht haben:
    "Das wurde seit hundert Jahren nicht ausgestellt. Es wurde ein bisschen ethnologisch vergraben. Das ist nicht negativ. Aber damals hat man es negativ gesehen. Das war kein Kunstwerk, sondern das war ein ethnologisches Illustrationsstück. Heute dreht man das alles wieder um, entdeckt auch dann die Modernität, die Neuheit in diesem Gedanken."
    Möglichst realistische Eindrücke von der Fremde
    Aus heutiger Sicht trägt Hildebrandts Bemühen um möglichst realistische Eindrücke von der Fremde Züge von Konzeptkunst. Denn die vermeintliche Realität, die sich so prachtvoll auf seinen Papieren zusammenfügt, ist natürlich handgearbeitet aus lauter feinsten Linien und Aquarellpinselstrichen, die für sich genommen einem höheren Zweck dienen. Die 130 Arbeiten dieser Ausstellung, so unterschiedlich die persönliche Handschrift der Künstler zwischen Caspar David Friedrich und Vincent van Gogh jeweils auch sein mag, verbindet eben genau dieser inhärente Selbstzweck der Zeichnungen, die sie zu einem ganzen eigenen, auf die Moderne vorausweisenden Medium macht.
    "Wir haben diesen ganzen Aspekt der Skizze, der Skizzenbücher, der Kartons, der ehemaligen Funktion und der vorbereitenden Funktionen von Zeichnungen ganz herausgelassen. Was Sie hier sehen, sind alles autonome, finale Zeichnungen, auch wenn zum Teil der Charakter skizzenhaft ist. Aber hier gibt es keine Idee mehr dahinter. "
    Ein Höhepunkt neben Auszügen aus Hildebrandts Weltreisezyklen ist der Lebensalterzyklus von Caspar David Friedrich von 1803, den die Staatlichen Museen vor zehn Jahren erworben haben, nachdem man siebzig Jahre glaubte, sie seien im Krieg verloren gegangen. Lebensalter, Tages- und Jahreszeiten werden in diesen früher einmal vier Einzelbildern zusammen gedacht, gleichsam wie in einem frühen gezeichneten Manifest der norddeutschen Romantik. Ein weiterer Höhepunkt sind die Tierzeichnungen aus dem Kinderalbum von Adolph Menzel aus den 1880er-Jahren.
    "Hegel spricht von der romantischen Kunstform, das ist die Kunstform, wo Subjektivität mit hineinkommt, die sich löst von ehemaligen Definitionen.
    Und wir haben das etwas übertragen und reden in diesem Zusammenhang von der Kunstform der Zeichnung, das zeigt den großen Anspruch, der tatsächlich hinter diesen Zeichnungen auch steckt."
    Spiel mit der realen Anschauung als Leitgedanke
    Das Spiel mit der realen Anschauung zieht sich als Leitgedanke durch diese Emanzipationsbewegung der Zeichnung – und verbindet die konzeptuelle Strenge Friedrichs oder Blechens mit dem Übergang zur Moderne. Van Gogh, hier mit vier aufschlussreichen Blättern aus der Sammlung, löst die gebundenen Linien nach und nach zu Landschaften auf, in denen der Blick weniger das Motiv, als die tänzerische Textur aus breiten, mit der Rohrfeder gefügten Strichen wahrnimmt.
    Am Ende stehen gerade aufgelöste Formen bei Odilon Redon und insbesondere Giovanni Segantini, der sich 1892 in gewischten, geschabten, dick aufgetragenen Kreidestrichen vor allem von der Textur des Zeichenmaterials tragen lässt.
    Zeichnung als Experimentierfeld
    Die Entwicklung ist nicht immer linear. Die Ausstellung stellt auch ästhetische Korrespondenzen her zwischen dem Ende und dem Anfang des 19. Jahrhunderts und zeigt: Die Zeichnung ist das erste wahre und weit gespannte Experimentierfeld für eine neue Bedeutung des Bildes dann im 20. und 21. Jahrhundert.