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Kurden-Konflikt
Erdogan wettert gegen türkische Akademiker

Eine Gruppe von türkischen Akademikern hat die Regierung in Ankara aufgerufen, die Gewalt zu beenden und den türkisch-kurdischen Friedensprozess wieder aufzunehmen. Das sorgte für ein politisches Erdbeben - allerdings sind die Unterzeichner des offenen Briefs nun starken Repressalien ausgesetzt.

Von Luise Sammann | 18.01.2016
    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hält eine Rede, hinter ihm sind zwei türkische Flaggen zu sehen.
    Erdogan wettert gegen kritische Akademiker zum Kurdenkonflikt - den Akademikern drohen nun Verhaftungen und Disziplinarmaßnahmen. (picture alliance / dpa / Turkish President Press Office)
    Die Türkin am Telefon möchte nicht, dass ihr Name veröffentlicht wird. Ein Interview? Unmöglich. Sie habe Istanbul vorübergehend verlassen, sagt sie, aus Angst. "Hure", "Terroristin", "Verräterin" – als sie die Beschimpfungen aufzählt, die sie in den letzten Tagen über Twitter erreicht haben, bricht die Universitätsdozentin in Tränen aus:
    "Wir glauben, dass für einige unserer Mitglieder tatsächlich Lebensgefahr besteht."
    Erklärt Turgut Yokus von der türkischen Lehrergewerkschaft. Die Angst der Dozentin sei berechtigt.
    "Manche fanden die Türen ihrer Büros gekennzeichnet vor, andere wurden bedroht oder von der Uni geschmissen. Die Regierung muss so schnell wie möglich etwas tun, um zu verhindern, dass noch Schlimmeres passiert."
    1128 Akademiker unterzeichneten offenen Brief
    Doch gerade auf die Unterstützung ihrer Regierung können die 1128 türkischen Wissenschaftler der Initiative "Akademiker für den Frieden" nicht zählen. Ende vergangener Woche meldeten sie sich mit einem offenen Brief zu Wort, in dem sie die Regierung in Ankara aufforderten, die Gewalt im Südosten des Landes zu beenden und den im Sommer gescheiterten Friedensprozess mit den Kurden wieder aufzunehmen.
    Der türkische Staat verurteile Zivilisten durch wochenlange Ausgangssperren zum Verhungern und Verdursten. Wie im Krieg würden in den Kurdengebieten ganze Viertel und Stadtteile mit schweren Waffen angegriffen.
    "Als die Akademiker dieses Landes", so Isil Ünal, Pädagogikprofessorin aus Ankara, "werden wir nicht schweigen und uns nicht zu Komplizen derer machen, die dieses Massaker begehen."
    Die Erklärung löste ein politisches Erdbeben in der Türkei aus. Geschlagene 30 Minuten lang beschimpfte Staatspräsident Erdogan die Unterzeichner am Sultanahmetplatz in Istanbul, wo er eigentlich der Opfer des jüngsten Terroranschlags gedenken wollte. "Diese sogenannten Intellektuellen sind keine Erleuchteten", sondern "dunkle Kräfte und Verräter", wetterte er und unterstellte den Wissenschaftlern, die verbotene PKK zu unterstützen.
    "Wir akzeptieren unterschiedliche Meinungen, selbst wenn wir sie nicht teilen. Aber diese sogenannten Akademiker zwingen der Öffentlichkeit die Lügen und die Propaganda von Terroristen auf. Es besteht kein Unterschied, ob jemand Kugeln im Namen einer Terrororganisation schießt oder ob er Propaganda für sie macht."
    Markige Sprüche Erdogans kommen an
    Erdogan mag als Staatspräsident umstritten sein. Doch mit markigen Worten wie diesen stößt er selbst im Lager der AKP-Gegner auf offene Ohren. Denn beim Thema Kurdenkonflikt rückt die sonst so tief gespaltene türkische Gesellschaft zusammen. Wer für die Kurden Partei ergreift, gilt als Vaterlandsverräter, den es zu bestrafen gilt.
    Unverzüglich forderte die türkische Hochschulbehörde Disziplinarverfahren gegen die Akademiker. Mehrere wurden bereits vom Dienst suspendiert, Dutzende am Freitagmorgen wegen "Beleidigung der türkischen Nation" festgenommen. AKP-nahe Medien riefen die türkischen Studenten auf, unterzeichnenden Lehrern den Respekt zu verweigern und ein bekannter Mafiaboss und Erdogan-Unterstützer kündigte per Twitter an, man werde "das Blut dieser Leute eimerweise verschütten".
    "Ich habe mich oft gefragt, warum unsere Wissenschaftler nicht ihre Stimme gegen den Kurs erheben, den unser Land eingeschlagen hat."
    Akademiker stehen zu ihren Unterschriften
    Sagt Turgut Yokus von der Lehrergewerkschaft in Istanbul. Spätestens jetzt stellt sich diese Frage nicht mehr.
    "Egal, ob Akademiker, Wirtschaftsunternehmer oder Journalist. Abweichende Stimmen werden in unserem Land einfach nicht mehr toleriert. Das ist das Ergebnis des Ein-Mann-Systems, das hier inzwischen herrscht."
    Die Initiative "Akademiker für den Frieden" dürfte für viele ihrer Mitglieder das Ende ihrer wissenschaftlichen Karriere in der Türkei bedeuten. Doch trotz Haftbefehlen und Morddrohungen legte sie inzwischen mit einer zweiten Erklärung nach.
    Die Unterzeichnenden stünden weiter zu ihren Unterschriften, verkündeten sie am Freitag. Und ihre Zahl sei inzwischen auf mehr als 2000 gewachsen. Ein Erfolg – auch, wenn Frieden in der Türkei weiter nicht in Sicht ist. Im Gegenteil. Erdogan kämpft nun an zwei Fronten: hier die Kurden, dort die Akademiker.