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Kursiv: "Ein Mädchen nicht von dieser Welt"
Vor den Nazis im Wald verstecken

Über 40 Romane hat Aharon Appelfeld geschrieben, und immer wieder verarbeitet er darin seine Kriegs- und Nachkriegserinnerungen. Das gilt auch für sein neustes Buch mit dem Titel "Ein Mädchen nicht von dieser Welt". Appelfeld erzählt die Geschichte zweier Jungen, die sich vor den Nazis im Wald verstecken – so wie der Autor selbst es einst tat.

Von Monika Dittrich | 30.11.2015
    Ein Plätzchen-Ausstecher in Form eines Hakenkreuzes
    Plätzchen mit Aufstecker in Hakenkreuz-Form: Ahron Appelfeld erzählt in seinem Roman autobiografisch von seiner Zeit als verfolgter Jude. (picture alliance / dpa / Foto: Jörg Carstensen )
    Dieses Buch ist vieles zugleich: ein Märchen, ein Stück Lebensgeschichte des Autors, ein bisschen Abenteuerroman und vor allen Dingen ein Lehrstück über Freundschaft und das Überleben in der Natur. Die Geschichte handelt von Adam und Thomas. Beide sind neun Jahre alt. Sie gingen in die gleiche Klasse, doch dort hatten sie sich nicht viel zu sagen.
    Sie sind überrascht, als sie einander im Wald begegnen – die Mütter haben ihre Jungen dorthin gebracht – fort aus dem Getto, wo das Leben für die jüdischen Familien immer schwieriger geworden ist. Im Wald sollen sich die Kinder vor den Nazis verstecken, am Abend wollen die Mütter sie wieder abholen. Doch die Kinder warten vergeblich, zur Nacht bauen sie sich ein Nest in einer Baumkrone.
    //Das Morgenlicht weckte sie.
    - "Unsere Mütter sind nicht gekommen", stellte Thomas fest, noch sehr verschlafen.
    - "Sie werden kommen. Aber bis dahin müssen wir unser Nest weiter ausbauen."//
    Die beiden Hauptfiguren sind höchst unterschiedlich: Adam, der Naturbursche, der die Sprache der Tiere versteht und sich vor nichts zu fürchten scheint, der immer optimistisch bleibt. Und der nachdenkliche Thomas, belesen und klug, aber kurzsichtig und zweifelnd. Einer, der die Natur bedrohlich findet und sorgenvoll in die Zukunft blickt.
    //"Ich habe Angst", gab Thomas zu. "Warum habe ich immer Angst?"
    "Du brauchst keine Angst zu haben, im Wald finden wir alles, was wir brauchen. Wir werden noch mehr gute Sachen entdecken, die es hier gibt. Gestern haben wir einen ersten, wichtigen Schritt gemacht, wir haben uns ein Nest gebaut."//
    Im Wald freunden sich die Jungen an, sie vertrauen einander und trösten sich, wenn die Sehnsucht nach der Geborgenheit ihrer Familien unerträglich wird oder sie aus ihren wirren Träumen erwachen.
    //Thomas träumte, er läge im Bett, und seine Mutter läse ihm aus "Demian" vor, einem Buch von Hermann Hesse. Abends, vor dem Einschlafen, war ihre Stimme immer weich und ruhig, und er hörte gespannt der Geschichte zu.
    Plötzlich kam er auf die Idee, seine Mutter zu fragen: "Warum hast du mich in den Wald geschickt? Wolltest du, dass ich dort erwachsen werde?"
    Die Mutter sah ihn verwirrt an, sie sagte: "Mir blieb nichts anderes übrig. Ich hatte Angst, dass sie dich schnappen."
    Und Thomas fragte: "Wohin schicken sie die Kinder und die Alten?"//
    An keiner Stelle ist ausdrücklich von Konzentrationslagern, Deportationen, von Mord und Totschlag die Rede. Und doch ist der Holocaust in diesem Roman eine ständig spürbare Kulisse, vor der sich die ganze Geschichte entfaltet. Die Dialoge der Jungen wirken erwachsen und hellsichtig – sie sind wie ein philosophisches Zwiegespräch: über das verlorene Vertrauen in die Welt, über Gerechtigkeit, Freundschaft, göttliche Botschaften und einen fast irrationalen Überlebensinstinkt. Der Krieg spielt sich scheinbar in der Ferne ab, von wo Thomas und Adam Schüsse hören, sie hoffen auf die näher rückende Rote Armee. Und hin und wieder versorgen sie Verletzte, die sich durch den Wald schleppen.
    //"Ist es nicht seltsam, dass wir im Wald leben, ohne Eltern und ohne Freunde? Haben wir denn etwas Böses getan? Ich habe das Gefühl, als wäre es eine Strafe. Mir ist nur nicht klar, wer uns bestraft und wofür", sagte Thomas.
    "Wir sind Juden", sagte Adam in einem Tonfall, als wäre damit alles erklärt.
    Thomas ließ aber nicht locker. "Was haben die Juden denn Böses getan, dass man sie bestraft?"//
    Traurigkeit und Ungewissheit stehen auf der einen Seite und sind das Bedrückende dieses Romans. Dem gegenüber stellt Aharon Appelfeld eine fast himmlische und unzerstörbare Hoffnung. Da ist nämlich "ein Mädchen nicht von dieser Welt", wie es im Titel heißt: Mina, mit der Thomas und Adam ebenfalls früher zur Schule gingen. Sie ist in diesem Roman eine engelsgleiche, mystische Figur, ein Hirtenmädchen, das gefoltert wird. Es spricht kein Wort – doch es versorgt die Jungen mit Brot, Käse und Milch und ermöglicht nur so ihr Überleben im Wald.
    //"Gott hat uns Mina geschickt, um uns vor dem Hunger zu retten", sagte Adam.
    "Weiß ein Bote, dass er ein Bote ist? Oder handelt er vielleicht nur unbewusst?", fragte Thomas so, wie sein Vater gefragt hätte.//
    Aharon Appelfeld musste sich selbst als Kind in den ukrainischen Wäldern vor den Nazis verstecken, wie es Klappentext des Buches heißt. Diese märchenhafte Erzählung hat also etwas Autobiografisches. Es ist ein berührender Roman, der auch junge Leser ansprechen wird – nicht nur, weil die Protagonisten Kinder sind. Sondern auch wegen der klaren und eleganten Sprache: Appelfeld verzichtet auf jeden Schnörkel und jeden überflüssigen Einschub. Seine Sätze brennen sich mit Wucht ins Gedächtnis. Es ist ein Buch für junge Leser – und für alle anderen auch.
    Buchinfos:
    Aharon Appelfeld: "Ein Mädchen nicht von dieser Welt", Rowohlt Berlin, Übersetzung: Mirjam Pressler, 128 Seiten, Preis: 18,00 Euro, ISBN: 978-3-87134-788-7