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"Das amerikanische Jahrhundert ist nicht vorbei"

Der Niedergang der amerikanischen Vorherrschaft ist schon oft beschworen worden - doch wer könnte tatsächlich das Erbe der USA antreten? Der 78-jährige Harvard-Politologe Joseph S. Nye fühlt in seinem aktuellen Buch "Is the American Century Over?" den Bewerbern auf den Zahn.

KURSIV International | 15.06.2015
    US-Präsident Obama und Chinas Staatspräsident Xi reichen sich die Hand
    Am ausführlichsten befasst sich Nye mit China, dem er ungeheures Potenzial bescheinigt (picture alliance / dpa / How Hwee Young)
    Erfahrung kann träge machen, weil sie zum immer gleichen Blick auf die Welt ermuntert. Sie kann aber auch zu einer schlicht gelasseneren, beinahe weisen Einordnung der Weltläufe führen. Dieser Idealvorstellung kommt Joseph Nye, legendärer Harvard-Politologe, in seinem neuen Werk "Is the American Century Over?" sehr nahe. Denn Nye hat im Zweifel schon alles gehört und gelesen, was über viele Jahre zu einem möglichen Abstieg der Vereinigten Staaten von Amerika gesagt und geschrieben worden ist. Also beginnt er seine Ausführungen mit dem trockenen Hinweis:
    "Amerikaner machen sich seit sehr langer Zeit Sorgen um ihren Niedergang. Kurz nach der Gründung der ersten Kolonie klagten die Puritaner über den Werteverfall. Im 18. Jahrhundert studierten die Gründerväter den Untergang des Römischen Reiches und befürchteten ein ähnliches Schicksal für die junge amerikanische Republik. Im 19. Jahrhundert stellte Charles Dickens fest, dass Amerika - wenn man auf seine Bürger höre - immer deprimiert sei und immer in einer alarmierenden Krise stecke."
    Wo sind die Konkurrenten einer US-Vorherrschaft?
    Diese Neigung legte sich auch im 20. Jahrhundert nicht, als Niedergangsszenarien populär blieben - etwa nachdem die Sowjetunion den Sputnik ins All schickte, arabische Staaten ein Ölembargo erließen oder Japan wirtschaftlich aufschloss. Nye hat all dies auch als hochrangiger US-Regierungsberater hautnah miterlebt - und warnt daher vor verfrühter Beschwörung des amerikanischen Niedergangs. Kühl seziert er die möglichen Konkurrenten einer US-Vorherrschaft in der Welt, etwa die Europäische Union - und stutzt elegant deren Chancen, die Vereinigten Staaten einzuholen oder gar zu überholen. Nye analysiert etwa mit Blick auf die Europäische Union:
    "Europa muss mit ernsten demografischen Problemen fertig werden. Im Jahr 1900 stellte Europa ein Viertel der Weltbevölkerung. 2060 werden nur noch sechs Prozent aller Menschen dort leben - und rund ein Drittel wird älter als 65 sein. Europa hat zwar zusammen genommen nach den USA den zweitgrößten Verteidigungsetat, aber diese Zahl täuscht, weil die Ausgaben nicht koordiniert sind. Europa gewährt auch die Hälfte der weltweiten Entwicklungshilfe, aber hat damit nicht viel Einfluss in entfernten Regionen wie Asien entfaltet ..., und während 27 der besten 100 Universitäten in der Welt in Europa stehen, geben die USA doppelt so viel von ihrem Bruttoinlandsprodukt für Forschung und Entwicklung aus."
    Ähnliche Aufstiegshürden sieht der Autor für Indien - sozial weiterhin zerrissen -, für Brasilien - schlicht nicht produktiv genug - oder für Russland, dessen demokratisches System nach wie vor in den Kinderschuhen stecke.
    China hat Potenzial, scheitert aber an der "Soft Power"
    Am ausführlichsten befasst sich Nye mit China, dem er ungeheures Potenzial bescheinigt. Doch das Land scheitere bislang an jenem Konzept, für das Nye den Begriff "Soft Power" geprägt hat - also die Fähigkeit, andere Staaten nicht durch Zwang oder Gewalt, sondern durch Attraktivität des eigenen Gesellschaftsmodells zu überzeugen. Nye kritisiert:
    "China hat Milliarden Dollar in eine Charmeoffensive investiert, um seine Soft Power zu erhöhen, aber diese Investition hat sich nur bedingt ausgezahlt. Die Olympischen Spiele 2008 in Peking waren etwa ein Soft-Power-Erfolg, aber kurz darauf schmälerte das harte heimische Vorgehen gegen Menschenrechtsaktivisten diesen Erfolg. China begeht den Fehler zu glauben, dass Soft Power vor allem von der Regierung abhänge. In der heutigen Welt ist aber nicht Information rar, sondern Aufmerksamkeit. Und Aufmerksamkeit erhalten nur glaubhafte Informationen. Staatliche Propaganda ist aber nur selten glaubwürdig."
    Nur weil Nye die Konkurrenten der USA kritisiert, hält er eine überragende Stellung seines Landes in der Zukunft aber nicht für garantiert. Der Politologe sieht sogar einen allmählichen amerikanischen Niedergang als unausweichlich an:
    "Das amerikanische Jahrhundert ist nicht vorbei - wenn man damit eine außergewöhnliche amerikanische Vorherrschaft beim Militär, der Wirtschaft und der Soft Power meint. Aber die Fortsetzung des amerikanischen Jahrhunderts wird anders aussehen als das 20. Jahrhundert. Der amerikanische Anteil an der Weltwirtschaft wird geringer ausfallen als in der Mitte des vorigen Jahrhunderts - und die Komplexität der modernen Welt mit dem wachsenden Einfluss nicht staatlicher Akteure wird es viel schwieriger machen, Einfluss auszuüben."
    Diese entspannten Worte fanden ein breites Echo in den USA - und werden hoffentlich auch im US-Wahlkampf nachhallen, in dem aufgeregte Warnungen vor Amerikas Abstieg bestimmt erklingen werden. Wer einen entspannten, aber ausgesprochen klugen Blick auf die Welt werfen will, dem ist Nyes Buch nur zu empfehlen.
    Joseph S. Nye: Is the American Century Over?
    Polity Press, 152 Seiten, 12,50 Euro, ISBN: 978-0-7456-9006-3