Ende des Jahres sollen die letzten ausländischen Kampftruppen Afghanistan verlassen, doch Stabilität haben weder die militärische Intervention noch Milliarden Aufbauhilfe dem Land gebracht. Afghanistan ist ein Land der verpassten Chancen, schreibt Anand Gopal:
"Die Taliban haben sich nicht ergeben, sind nicht geschlagen, die afghanische Armee ist schwach und unzuverlässig, die afghanische Regierung hoffnungslos korrupt." (S. 270)
Der amerikanische Journalist macht dafür vor allem die USA verantwortlich. Die größte Interventionsmacht am Hindukusch habe die Afghanen in Gut und Böse, Schwarz und Weiß, Taliban und Nicht-Taliban eingeteilt und sich ihre Verbündeten gegen die radikalen Islamisten nicht genau genug angesehen. Das klingt schon im Titel dieses Tatsachenromans an, den Gopal einem paschtunischen Sprichwort entlehnt hat: "Unter den Lebenden gibt es keine Guten, unter den Toten keine Schlechten".
"Dahinter steckt der Gedanke, dass es keine Helden, keine Retter gibt in diesem Konflikt. Aus Sicht der Afghanen, vor allem auf dem Lande, verursachen die Warlords ebenso Probleme wie die Taliban und die amerikanischen Truppen. Man kann nur versuchen, zu überleben."
Das Schicksal der drei Afghanen, aus deren Sicht Anand Gopal die Geschichte des Afghanistankonflikts erzählt, ist so verworren wie das ihres Heimatlandes. Immer wieder hat er einen Kommandeur der Taliban, einen mit den USA verbündeten Milizenführer und eine Hausfrau, die zur Senatorin in Kabul aufstieg, befragt. Alle entstammen Afghanistans größter Volksgruppe, den Paschtunen. Gopal erzählt ihre Lebensgeschichten durch alle Kriege und Krisen hindurch, die das Land seit 1979 erlebt hat: die sowjetische Invasion, der Bürgerkrieg der Mudschaheddin, das totalitäre Regime der Taliban und die Zeit seit der internationalen Intervention 2001. Milizenführer Jan Mohammad zum Beispiel wurde als Verbündeter der Amerikaner mächtig und reich. Als Gouverneur der Provinz Uruzgan entledigte er sich mit ihrer Hilfe seiner Rivalen, indem er die einfach als Taliban denunzierte.
"Das ist die wahre Tragödie. Bündnisse mit Warlords wie Jan Mohammed belohnten falsche Informationen. Viele Leute starben oder wurden verhaftet, obwohl sie unschuldig waren oder gar pro-amerikanisch oder pro-Karzai gesinnt."
Auch deshalb konnte der afghanische Staat kein tragfähiges Fundament entwickeln, schreibt Gopal:
"Während Warlords wie Jan Mohammed ihre Geschäfts- und Patronagebeziehungen zu den USA ausbauten, hatte die taumelnde Regierung in Kabul keine andere Wahl, als sich ebenfalls an diesem Spiel zu beteiligen. Das Ergebnis war, dass der Staat kriminell wurde, sich zu einem der korruptesten der Welt entwickelte, genauso durch und durch verkommen wie die Kriegsfürsten, die er ausmanövrieren wollte."
Der Taliban-Kommandeur Akbar Gul etwa wollte nach der Flucht der Taliban-Elite ein friedliches Leben beginnen. Als bestechliche Polizisten seine Existenzgrundlage, eine kleine Handy-Werkstatt, zerstörten, wandte er sich wieder den Aufständischen zu.
Am tiefsten berührt das Schicksal der Lehrerin Heela, die vor dem Bürgerkrieg in die tiefste Provinz floh, dorthin, wo Frauen schon immer weggeschlossen wurden. Jeder ihrer zaghaften Versuche, sich ein bisschen persönliche Freiheit in dieser vormodernen Existenz zu erobern, scheiterte. Als Protegé eines einflussreichen Räuberhauptmanns wurde sie nach 2001 zwar auf einen für Frauen reservierten Senatorinnenposten in die Hauptstadt geschickt. Welche Gegenleistungen sie dafür aber erbringen musste, erzählt Anand Gopal leider nicht.
In den USA, der Heimat des Journalisten Gopal, ist vor allem kritisiert worden, dass der ehemalige Korrespondent des "Wall Street Journal" in seinem Buch den Eindruck entstehen lässt, als seien die Taliban lediglich Opfer der Umstände, als sei ihr gewaltsamer Aufstand eine moralisch motivierte Auflehnung gegen einen korrupten Staat. Dabei finanzieren auch die Taliban sich mit Drogengeldern, vor allem greifen sie gezielt Zivilisten an und sind längst für die überwiegende Zahl der Opfer in Afghanistan verantwortlich.
Trotzdem ist "No Good Men Among The Living" eine empfehlenswerte Lektüre. Der Wiederaufstieg der Warlords nach 2001 und dessen destabilisierenden Folgen sind viel zu selten dargestellt worden. Anand Gopal lässt seine Leser verstehen, warum ein Konflikt, der anfangs moralisch eindeutig zu sein schien, sich in eine sich selbst erfüllende Prophezeiung der Gewalt verwandelte.
Anand Gopal: "No Good Men Among the Living. America, the Taliban, and the War Through Afghan Eyes", (American Empire Project), Henry Holt Verlag, 304 Seiten, 19,60 Euro, ISBN: 978-0-805-09179-3.