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Kursiv Klassiker: Das Phänomen der Meinungsbildung

Es gibt kaum eine Frau, die mit einer einzigen These für mehr politische Diskussionen gesorgt hat als Elisabeth Noelle-Neumann. Die Gründerin des Allensbacher Instituts für Demoskopie veröffentlichte 1980 eine Abhandlung über das von ihr entdeckte Phänomen der Meinungsbildung.

Von Sabine Pamperrien | 30.09.2013
    Mit ihrem Buch "Die Schweigespirale" gelang Elisabeth Noelle-Neumann 1980 ein wissenschaftlicher Weltbestseller. Noelle beweist die Kausalität zwischen einem Umschwung der öffentlichen Meinung und der Berichterstattung im Fernsehen. Umfragen vor den Bundestagswahlen 1976 hatten zunächst gezeigt, dass die CDU/CSU über einen Vorsprung vor der Koalition aus SPD und FDP verfügte. Doch je näher der Wahltag rückte, für desto wahrscheinlicher hielten die Befragten einen Wahlsieg der SPD/FDP, der dann auch eintrat. Seltsam daran: Die Befragten hatten ihre Wahlabsichten nicht geändert. Warum glaubten sie an den Meinungsumschwung?

    "Ich bestellte in Allensbach eine Auszählung nach viel und wenig Zeitunglesen, viel und wenig Fernsehen. Als das Ergebnis auf dem Tisch lag, sah es so einfach aus wie aus dem Schulbuch. Nur diejenigen, die die Umwelt mit den Augen des Fernsehens häufiger beobachtet hatten, hatten den Klimawechsel wahrgenommen. Diejenigen, die ohne die Fernsehaugen ihre Umwelt beobachtet hatten, hatten nichts vom Klimawechsel bemerkt."

    Es musste einen Grund haben, warum die fernsehaffinen Befragten plötzlich anders urteilten. Umfragen unter Journalisten ergaben die Lösung, meinte die Autorin zu wissen. Denn 70 Prozent der deutschen Journalisten hätten angegeben, Anhänger von SPD oder FDP zu sein, in der Gesamtbevölkerung dagegen nur 50.

    "Es ist so, dass in unserem journalistischen Berufsstand augenblicklich ungefähr fünfzehn Prozent zur CDU tendieren. Wir sollten wissen, dass unsere Bevölkerung einen Anspruch darauf hat, dass sie über die wichtigsten Medien die Politiker und die Probleme aus der Perspektive aller demokratischen Parteien sehen kann."

    Die Einseitigkeit der politischen Berichterstattung ergebe sich schon aus der selektiven Wahrnehmung, konstatierte die Zeitungswissenschaftlerin. Der Vorwurf lautete deshalb nicht Manipulation, sondern mangelnde Pluralität. Für die Medienwirkungsforschung war dieser Befund eine Sensation. Noch herrschte im Bereich der demoskopischen Analyse die Forschung des Amerikaners Paul Lazarsfeld vor. Der hatte in den 40er-Jahren festgestellt, dass der Einfluss der Medien auf die Meinungsbildung eher gering sei. Vielmehr spiegelten Medien die in der Bevölkerung herrschenden Ansichten.

    Die Demoskopin musste deshalb auch klären, wie sich Wähler beeinflussen lassen. Dazu ging sie ganz weit zurück in der Geistesgeschichte, um zu ergründen, was öffentliche Meinung eigentlich ist. Die Autorin entwickelt daraus ihre Theorie von der sozialen Natur der öffentlichen Meinung.

    "Wir untersuchen heute die Neigung des Menschen - wir sprechen von Standhaftigkeit – die Neigung des Menschen, sich in seiner Umwelt nicht allzu sehr zu isolieren. Wir sehen und entdecken heute die soziale Natur des Menschen, die als Thema sehr vernachlässigt worden ist. Diese soziale Natur macht es uns sehr schwer, das Missfallen unserer Umwelt zu ertragen und darum sind wir vorsichtig. Unsere Gesellschaft würde explodieren, wenn wir nicht alle eine soziale Natur hätten, die uns ein bisschen darauf achten lässt, uns nicht zu unbeliebt zu machen."

    Die daraus abgeleitete These ist ganz einfach: Menschen, die ihre eigene Meinung für eine Minderheitsmeinung halten, schweigen viel eher, als sich offen gegen die Mehrheitsmeinung zu positionieren. Grund hierfür sei die Isolationsfurcht, so Noelle-Neumann. Die viel zitierte Schweigespirale entsteht, wo Menschen fälschlicherweise ihre Meinung für eine Minderheitsmeinung halten. Folge: Die öffentliche Meinung gibt nicht die Ansichten der Mehrheit der Bevölkerung wider, wird aber dafür gehalten. Am Ende des Prozesses kommt es zum tatsächlichen Meinungsumschwung, allerdings nicht als Folge rationaler Entscheidungen. Eine Gefahr für die Demokratie, meint die Autorin:

    "Innerhalb von ungefähr nur zehn Jahren nach Ausbreitung des Fernsehens stieg der Anteil von Menschen in unserem Land, die sich für Politik interessieren, nach eigener Auskunft über 50 Prozent. Es ist eine andere Demokratie. Es ist eine Demokratie, die ist beeinflussbarer. […] Wir können nicht feststellen, dass das Wissen heute größer ist als Anfang der 50er Jahre. Was ist aber ein Interesse ohne Wissen? Das ist von mir gesehen eine sehr gefährliche Sache. Nicht unbedingt das Ideal für Demokratie."

    Die Entstehung des Privatfernsehens ist durchaus auf dieses Plazet zurückzuführen. Durch Medien und Wissenschaft ging allerdings zunächst ein Aufschrei. Die Studie sei die unwissenschaftliche Dolchstoßlegende einer Anhängerin der gescheiterten CDU/CSU, lautete der Vorwurf. Der Einfluss des Buchs ist dennoch ungebrochen. Indirekt kann ihm die Abneigung der deutschen Politik gegen plebiszitäre Elemente zugeschrieben werden.

    Die geradezu ängstliche Beobachtung der öffentlichen Meinung ist im politischen Alltag allgegenwärtig. Dabei konnte in späteren Versuchen die Schweigespirale gar nicht nachgewiesen werden. Auch hatte immer einen Hautgout, dass die Autorin intellektuell im NS-Propaganda-System sozialisiert wurde. Die von ihr postulierte soziale Natur der öffentlichen Meinung erhebt das Mitläufertum zum Movens einer Gesellschaft und spricht es damit frei.

    Und der Einfluss der Medien? Heutige Debatten um die Mediendemokratie werden geführt, weil Politik und Medien mit Noelles Begriffsapparat unverdrossen die Macht der Medien propagieren. Den Gesetzmäßigkeiten der vermeintlichen Irrationalität des Wählers kamen bisher aber weder Politik noch Demoskopen auf die Schliche. Dass Noelle-Neumann hierfür einen interdisziplinären Denkansatz gewagt hat, macht ihr Thesenwerk bis heute wegweisend.

    Elisabeth Noelle-Neumann: Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut. Erstveröffentlicht 1980 im Piper-Verlag. Das Buch ist derzeit nur antiquarisch erhältlich.