Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Kursiv: Kontrolle der Subjektivität

Dürfen betroffene Juden über die Shoah forschen? Der israelische Historiker Saul Friedländer, dessen Eltern in Auschwitz zu Tode kamen, hat diese Frage für sich mit "Ja" beantwortet. Und er hat damit Maßstäbe in der Geschichtsschreibung gesetzt.

Von Stephan Detjen | 30.08.2010
    1987 veröffentlichten die "Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte", eine der angesehensten Fachpublikationen der deutschen Geschichtswissenschaft, einen Briefwechsel zwischen dem damaligen Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, Martin Broszat und dem in Berkley lehrenden Historiker Saul Friedländer. Die beiden Wissenschaftler trugen darin eine Auseinandersetzung über die Frage aus, wie eine Geschichtsschreibung über die Ermordung der europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg angelegt sein und welche individuellen Voraussetzungen der Historiker dafür mitbringen müsse. Broszat stellte darin die These auf, Friedländer sei als Nachfahre jüdischer Opfer des NS-Terrors nicht in der Lage, die notwendige Distanz zu den Ereignissen aufzubringen.

    "Er gab mir den letzten Stoß, um diese Arbeit anzufangen, als er schrieb, dass wir – also die Opfer – eine Art mythische Erinnerung an diese Vergangenheit haben, die im Gegensatz steht zur rationaleren deutschen Geschichtsschreibung"," erinnerte sich Friedländer vor vier Jahren, als er sein großes Lebenswerk, die zweibändige Geschichte über "Das Dritte Reich und die Juden", abgeschlossen hatte.

    ""Die Schwierigkeit ist ja selbstverständlich. Aber jeder, der darüber schreibt – jeder deutsche Historiker, und sicher meine Generation und auch jeder polnische Historiker, litauische, russische oder amerikanische und so weiter, ist ja auch irgendwie subjektiv von seinem Gesichtspunkt wegen der Natur dieses Ereignisses. Und das Problem ist ja nicht die Subjektivität. Die ist ja selbstverständlich, sondern die Kontrolle der Subjektivität."
    Saul Friedländer hatte sich einer tief reichenden Selbstergründung unterzogen, bevor er sich daran machte, das Große und Ganze der Judenvernichtung in den Blick zu nehmen. Zehn Jahre vor dem ersten Band seiner Geschichte des "Dritten Reichs und der Juden", 1977, war seine autobiografische Reflexion "Wenn die Erinnerung kommt ..." erschienen. Der Historiker richtete den Blick darin auf die eigene Geschichte als Teil der großen Katastrophe. Es ist die Geschichte des Knaben Pawel Friedländer, der in Prag als Spross großbürgerlich-säkularer Juden heranwächst und 1942 in Frankreich von seinen Eltern unter dem Namen Paul-Henri in einem katholischen Internat in Sicherheit gebracht wird. Die Spur der Eltern endet wenig später in Auschwitz. Friedländer wird katholisch erzogen und steht nach dem Krieg kurz davor, Priester zu werden, als er im Dialog mit einem Jesuiten seine jüdische Identität rekonstruiert. Aus Paul wird Saul Friedländer. Der schmale Erinnerungsband ist ein Schlüssel zum wissenschaftlichen Werk Friedländers. Für den Autor selbst öffnete die Beschäftigung mit dem eigenen Schicksal die Augen für die blinden Flecken der bis dahin vorherrschenden Perspektiven der Geschichtsschreibung:

    "Diese Art – auf englisch – 'business as usual history' ist einfach falsch als historische Methode für solche extremen Ereignisse mit solchen ungeheuren menschlichen Massenermordungen und menschlichem Leid."
    Historiker wie Raul Hilberg in seiner monumentalen, 1961 auf deutsch erschienenen Darstellung des Judenmords, hatten sich ganz auf die Beschreibung der nationalsozialistischen Mordmaschinerie, ihres Funktionierens und der dahinter liegenden Triebkräfte und ideologischen Motive konzentriert. Friedländer dagegen nahm auch die Opfer in den Blick. In den zwei Bänden seiner Geschichte über das "Dritte Reich und die Juden" webt Friedländer Auszüge aus Briefen, Tagebüchern und Notizen in die chronologische Schilderung der Verfolgung, Deportation und Vernichtung der europäischen Juden ein. Das Narrativ, das so entsteht, wechselt auf eine ganz natürlich erscheinende Weise zwischen wissenschaftlicher Abstraktion und der Konkretisierung individueller Erfahrung. Zahlreiche Stimmen werden immer wieder an verschiedenen Stellen der Chronologie eingefügt – bis die meisten Spuren in den Todeslagern und Erschießungsplätzen enden.

    "Das sind gerade die Stimmen eines Moshe Flinkers oder eines Mädchens, das aus Drancy 43 deportiert wurde und die schrieb an ihren Vater, der noch in Paris lebte, einen letzten Brief und sagt: morgen fahre ich und ich habe gut gegessen, mach Dir keine Sorgen, lieber Papa, ich komme bald zurück und küsse dich, deine Tochter Louise. Louise Jacobson. Nach Auschwitz, selbstverständlich, und sogleich vergast, also wenn man das liest, ist man wirklich – fertig."

    Saul Friedländer und Orna Kenan: Das Dritte Reich und die Juden 1933-45. Der Band mit 525 Seiten ist in der Beckschen Reihe erschienen und kostet 14,95 Euro,ISBN 978-3-406-60654-0. Stephan Detjen renzensierte.