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Kursiv - Leseempfehlung von Harald Welzer

Es sind die Erinnerungen deutscher Kriegsgefangen, die Harald Welzer mit seinem Co-Autoren Sönke Neitzel in "Soldaten" in diesem Jahr herausgebracht hat. Seine Buchempfehlung dreht sich um das knappe Gut Erdöl.

Von Melanie Longerich | 28.11.2011
    Es ist früher Vormittag am Stadtrand von Potsdam. Harald Welzer steht in der Haustür und bittet hinein. Reduziert ist es hier in seinem Passivhaus: grauer Steinboden, Holztreppen, viel Weiß - und Raum für den Blick, der durch die großen Fenster bis in den Garten wandert. Seit diesem Sommer lebt der Sozialpsychologe vom Kulturwissenschaftlichen Institut Essen, kurz KWI, hier bei Potsdam.

    Der 53-Jährige hochgewachsene Mann mit dem halblangen Haar führt in sein Arbeitszimmer. Auf einem großen Tisch: Kopien, Kladden, Kugelschreiber- und ein Weinmagazin. Vor dem schmalen Bücherregal an der Wand stapeln sich Ausgaben von "Soldaten": Der Bestseller aus diesem Frühling, den Welzer mit dem Historiker Sönke Neitzel geschrieben hat. Gemeinsam haben sie dafür 150.000 Seiten Abhörprotokolle von deutschen Soldaten in britischer und US-amerikanischer Kriegsgefangenschaft ausgewertet. Von dem gigantischen Erfolg waren sie beide überrascht, sagt Harald Welzer und wippt entspannt in dem schwarzen Hängestuhl. Doch nicht nur vom Erfolg - auch von der Lesart:

    "Die Wehrmacht kommt bei uns, wenn man es lässig sagen will, besser weg als wir es uns angewöhnt haben die letzten fünfzehn, zwanzig Jahre die Wehrmacht zu sehen. Witzigerweise kam das in den ganzen Rezensionen, Berichten und Artikel überhaupt nicht vor. Was vorkam war eben jene Lesart, die Wehrmacht war unglaublich brutal, weil wir eben auch in diesen Abhörmaterialien so spektakuläre Zitate haben, wo tatsächlich eine unendliche Brutalität zum Ausdruck kommt. Aber Krieg ist nun mal brutal und man sollte sich nicht darüber wundern, wenn dann diejenigen, die ihn führen, sich gegenseitig solche Erzählungen vorerzählen."

    Harald Welzer braucht Bücher, täglich, und in Mengen - obwohl er selbst nicht so viele hat. Ein Regal ist Kunstbüchern reserviert und eines der Wissenschaft. Statt Bücher zu sammeln, schreibe er sie lieber selbst, sagt er. Wenn Welzer liest, sitzt er meist im Zug. Dann liest er oft mehrere Bücher gleichzeitig - und die quer. Stellen, die er später auswerten will, werden mit einem Eselsohr markiert. Da ist er altmodisch, sagt er. Welzer kommt zwar aus der Gewaltforschung, doch irgendwann habe sich da einfach die Frage gestellt, wie Umweltveränderungen und Gewaltpotenzial zusammenhängen. 2008 erschien sein Buch "Klimakriege". Seitdem schreibt er immer wieder über das Thema. Ebenfalls im Frühling erschien das Buch "Perspektiven einer nachhaltigen Entwicklung", in dem Welzer und der ehemalige Topmanager Klaus Wiegandt, renommierte Wissenschaftler einluden, sich Gedanken über die Welt von 2050 zu machen:

    "Wenn ich also wie im vergangenen Jahr und wie im Jahr davor, dieses Buch über Kriegsgewalt mache, dann lese ich natürlich Texte in diesem Zusammenhang, wenn ich etwas mache über Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit mache, dann lese ich die entsprechenden Veröffentlichungen in dem Feld. Ich bin in dem Sinne ein professioneller Leser, ich lese das Zeug ja nicht aus Vergnügen, sondern weil ich es brauche. Wenn es dann vergnüglich wird, umso besser, doch das ist relativ selten."

    Harald Welzer mag Autoren, die kompakt, mit klarer Sprache - und am besten auch mit einem Funken Humor, schwierige Themen verständlich rüberbringen. Doch das ist bei deutschen Wissenschaftlern selten:

    "Dafür sind diese Wissenschaften auch nicht da, sich in Diskursanalysen und in der Entwicklung immunisierender Fachsprachen zu ergehen, sich selber alle gegenseitig unheimlich toll zu finden, dabei im Grunde genommen einen Leserkreis von 17 Leuten, - davon sind dann acht Doktoranden, zu haben. Das kann meines Erachtens nach nicht sein - und zumal in Zeiten, in denen man sich den Luxus nicht erlauben kann, an der Wirklichkeit vorbeizugucken."

    Und die Wirklichkeit sei eben, dass die Welt, gerade den Bach runtergeht, sagt er. Ein Autor, der das in diesem Jahr besonders anschaulich beschreibt, ist der Schweizer Journalist und Historiker Marcel Hänggi. "Ausgepowert, das Ölzeitalter als Chance", heißt sein aktuelles Buch. Für Welzer das eindrücklichste Buch in diesem Jahr:

    "Es ist ein Buch, das man im Grunde genommen jedem empfehlen kann, der sich über den Zustand der Welt mal ein paar Stunden Gedanken machen möchte und das oberhalb des Niveaus von Zeitungsartikeln."

    Harald Welzer hat sich die schmale Lesebrille auf die Stirn geschoben und sucht sein Lieblingszitat. Was er an dem Buch besonders schätzt? Marcel Hänggi beschreibt ganz konkret, wie sich die Gesellschaft verändern muss, um die Zukunft zu meistern:

    Und ein Beispiel ist, wenn er zum Beispiel sagt: 'Wir werden die Form der Nahrungsproduktion, wie wir sie gegenwärtig betreiben, ohne Erdöl nicht aufrechterhalten können, aber das heißt nicht, dass sich nicht genug Nahrung für alle produzieren ließe.' Wir werden den motorisierten Massenindividualverkehr nicht aufrechterhalten können, aber das heißt nicht, dass wir deshalb weniger mobil werden müssten. Wir werden die Konsumgesellschaft und die Wachstumswirtschaft aufgeben müssen, aber das heißt nicht, dass die Lebensqualität sinken muss. Wir werden wieder mit so wenig Energie auskommen müssen, wie etwa vor 50 Jahren.

    Marcel Hänggi plädiert in seinem Buch dafür, den Wandel zu gestalten - und - wie Welzer sagt - "den ganzen Konsum- und Wohlstandsquatsch zu vergessen." Kurztrips mit dem Flieger auf die Balearen sind dann nicht mehr drin:

    "Aber das ist ja dann eine Frage der kulturellen Entwicklung, ob man das als Gewinn oder Verlust bezeichnet. Denn so toll ist es ja nicht, sich durch die Sicherheitsschleusen an irgendwelchen Flughäfen zu quetschen, sich in diese demütigenden Kisten zu setzen und sich irgendwohin shuttlen zu lassen und dort mit denselben Leuten auszusteigen und den Urlaub zu verbringen. Das bringt's ja alles nicht."

    Denn Wachstum ist nicht die Lösung - sondern das Problem, sagt Harald Welzer und stellt Marcel Hänngis Buch ins Regal. Was er als nächstes liest? Harald Welzer überlegt. Mal schauen, was die Kollegen so schreiben. Der Briefträger jedenfalls hat den Nachschub schon vor die Tür gelegt.

    Marcel Hänggi:
    Ausgepowert - Das Ende des Ölzeitalter als Chance. Rotpunktverlag, 368 Seiten, 28,00 Euro, ISBN: 978-3-858694461