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Kurt Andersen: "Fantasyland"
USA leiden unter Realitätsverlust

Dämonen, Kreationisten und der Antichrist: Die USA sind auf dem Irrweg. Das zumindest behauptet Kurt Anderson, der in seinem neuen Buch "Fantasyland" einen gefährlichen Hang zum Post-Faktischen in der amerikanischen Bevölkerung ausmacht und historisch belegt, dass alles schon vor 500 Jahren begann.

Kurt Andersen im Gespräch mit Gabriele Riedle | 28.10.2018
    Evangelikale in Kalifornien
    Evangelikale haben sich im März 2016 vor dem Kapitol in Sacramento, Kalifornien versammelt (imago stock&people)
    Ein "Fantasyland" - in das haben sich die USA verwandelt, kopflos und verrückt. So zumindest sieht es Kurt Andersen. Zwei Drittel der Amerikaner glauben, dass Engel und Dämonen über ihr Leben bestimmen. Ebenfalls zwei Drittel halten die Genesis der Bibel für einen Faktenbericht über die Entstehung der Welt. Und der Antichrist steht auch hoch im Kurs, ob in Gestalt von Barack Obama oder in der Hillary Clintons. Eine Nation, die an ewig unaufhaltbaren Fortschritt, an Demokratie, Freiheit und Toleranz glaubte, ist auf dem Irrweg und gerät immer tiefer in den Tunnel von Post-Wahrheiten und Fantasie. Kurt Andersen führt die Gründe dafür 500 Jahre weit zurück in die amerikanische Geschichte. Gabriele Riedle hat Kurt Andersen zum Gespräch in Brooklyn getroffen.
    Kurt Andersen ist Autor und lebt in New York. Sein Buch "Fantasyland - 500 Jahre Realitätsverlust: Die Geschichte Amerikas neu erzählt" erscheint im September bei Random House.

    Gabriele Riedle: "Haywired", "übergeschnappt", so bringt das Buch von Kurt Andersen also die Lage der Vereinigten Staaten auf den Punkt. Eine Polemik von ätzender analytischer Schärfe, die die Verwerfungen der Gegenwart miteinander verbindet und bis zu ihren historischen Ursprüngen verfolgt. Was war der Ausgangspunkt für das Nachdenken über das amerikanische Fantasyland?
    Kurt Andersen: Ein Teil meines Antriebs war das Ausmaß, in dem die Rechte in diesem Land den Klimawandel verleugnet und absurden Verschwörungstheorien anhängt, die jahrzehntelang nur ein Randphänomen waren. Der New Age-Glaube in unwissenschaftliche medizinische Behandlungen. Die Missachtung von bewiesenen Fakten und empirisch belegbaren Wahrheiten. Pfingstkirchen, in Zungen sprechen, das Übernatürliche jeden Sonntag im Hier und Jetzt erleben und mein Kind von Dämonen befreien. Die Verrücktheit nach Waffen. Die Leute, die mit ihren halbautomatischen Waffen Rollen spielen und sich als Pioniere, als Cowboys, als Soldaten fantasieren. Ich habe all diese Dinge zunächst für getrennte Phänomene gehalten, aber sie gehören alle zu diesem zutiefst amerikanischen Willen, einfach das zu glauben, was das Gefühl für richtig hält. Dieses Verschwimmen von Realität und Fiktion gibt es auch anderswo, aber wir gehen darin völlig auf. Es gibt bei uns diesen illusorisch-industriellen Komplex, der viel mehr als das Show-Business, Filme, Fernsehen, Video-Spiele und Unterhaltung umfasst.
    Riedle: Der illusorisch-industrielle Komplex beziehungsweise der "fantasy-industrial complex", wie es im Englischen heißt. Eine sarkastische begriffliche Neuschöpfung, die auf den sogenannten militärisch-industriellen Komplex anspielt, mit dem die enge Zusammenarbeit von Politik, Militär und Rüstungsindustrie beschrieben wird. Dabei ist die Politik, neben der Unterhaltungsindustrie, jedoch auch Teil des illusorisch‑industriellen Komplexes. Seit wann ist das so?
    Andersen: Ich habe diesen Wandel der Republikanischen Partei, der politischen Rechten, miterlebt: von einer vernünftigen, konservativen Partei zu einer Partei, die in ihrem Innersten dem Fantastischen und dem Unwahren anhängt, während Fakten keine Rolle mehr spielen. Und Donald Trump verkörpert dies im Extremen. Er hat es geschafft, diesen bereits bestehenden Zustand, in dem jeder selbst bestimmt, was wahr oder unwahr ist, für sich auszubeuten. Aber das Problem bestand vor ihm und wird auch nach ihm bestehen.
    Riedle: Gerade für den Aufstieg Donald Trumps haben viele ökonomische Erklärungen gefunden. Es seien die Verlierer der Globalisierung, die ihn gewählt hätten. Allerdings dienen Trumps Angriff auf ihre Krankenversicherung und seine Steuersenkung für Reiche ganz und gar nicht deren Interessen. Das Buch erklärt Trumps Wahl deshalb lieber mit der langen Geschichte der Vermischung von Realität und Fiktion im Fantasyland Amerika. Und fast erscheint Trump dann als deren neueste und fast schon unvermeidliche Fortsetzung. Doch wann begann diese Geschichte?
    Andersen: Gehen wir zurück zu den ersten Anfängen im frühen 17. Jahrhundert. Da gab es im Norden in New England diese Sekten von religiösen Eiferern, die extremsten der extremen Puritaner aus England, die hierher kamen, um auf die Wiederkehr Christi zu warten, ihr neues Jerusalem und ihren Gottesstaat zu gründen. Im Süden, in Virginia, war die weniger bekannte Gruppe von europäischen Gründern gleichzeitig entschlossen, Gold, Silber und Juwelen zu finden, auch wenn es dort nichts dergleichen gab. Aber immer Neue kamen und starben, suchten nach Gold, auch wenn keines da war. Weil sie unbedingt glauben wollten, dass sie über Nacht reich werden konnten. Die erste Generation weißer Amerikaner waren Fanatiker, die an das Fantastische und Großartige glaubten. Es gab also schon von Anfang an diesen Hang zum aufregend Unwahren. Dieses Land wurde aus dem Nichts erfunden und wie ein Stück Fiktion zusammengedichtet. Alle diese religiösen Leute kamen hierher, bastelten neue Religionen, wie es sie noch nirgendwo gab, was Größe und Einfluss betrifft. Ob es die Mormonen mit zig Millionen weltweit sind, oder später die Pfingstler mit hunderten Millionen weltweit, die Christlichen Wissenschafter, Scientology. Das ist Teil von dem, was wir sind.
    Riedle: Amerika: eine Projektionsfläche für Wunschvorstellungen aller Art. Aber auch ein Territorium zur Verwirklichung von kühnen und durchaus produktiven Neuanfängen, von neuen Ideen, von religiösen und intellektuellen Freiheiten, von Abenteuern mit offenem Ausgang.
    Andersen: Zur amerikanischen Idee gehört von Anfang an: Du kannst aus Europa hierher kommen und Dich neu erfinden. Du gründest neue Siedlungen, gehst nach Westen, findest Gold oder auch nicht - es ging immer um Märchen, die wahr wurden, egal ob religiös oder finanziell. Und dieser endlose Raum ermöglichte großartige Abenteuer.
    Riedle: Auch wenn die ersten weißen Amerikaner selbstverständlich extrem gottesfürchtige Leute waren, tauchten schon bald die ersten Show-Männer auf. Die Geburt der Unterhaltungsindustrie ausgerechnet aus dem Geist des Puritanismus?
    Andersen: Seit Anfang des 18. Jahrhunderts hatten Prediger Erfolg als Entertainer, indem sie Religion zu einer Art von Unterhaltung machten, die es sonst nirgendwo gab - eine sehr amerikanische Erfindung. Damals kam George Whitefield, ein britischer Prediger hierher. Wanderprediger waren neu, Kerle, die umher gingen und christliche Unterhaltung lieferten. Er spielte den Teufel, Jesus, Maria Magdalena, die Apostel und Sünder in der Hölle und veranstaltete großartige Shows.
    Riedle: Im 19. Jahrhundert kamen dann die ersten Zeitungen auf den Markt. Sie setzten vor allem auf spannende Geschichten, egal, ob diese wahr waren oder nicht. Gehört das, was wir heute Fake News nennen, sozusagen zur amerikanischen DNA?
    Andersen: In New York City gab es nun diese sehr billige werbefinanzierte Presse, die zuvor nicht existierte, und die sehr locker mit Wahrheit und Fiktion umging. Eine Zeitung sprach eine ganze Woche über eine neu entdeckte Zivilisation auf dem Mond: Die erste große Fake News-Geschichte. Mit Zeichnungen von fliegenden Bewohnern und ihren Häusern. Jeder glaubte das. Das war von Anfang an Teil unserer Kultur.
    Riedle: Der erste Reality Show-Star war Buffalo Bill, geboren 1846, Bisonjäger, Reiter für den berühmten Pony Express, der Post in hoher Geschwindigkeit quer durch Amerika schaffte. Vor allem jedoch war Buffalo Bill Scout für die US Army im Kampf gegen die Indianer.
    Andersen: Er verkörperte die frühe Besiedelung des Westens. Irgendwann in den 1870er‑Jahren wurde er von Journalisten von der Ostküste entdeckt, die ihn berühmt machten: Dieser junge Mann hat gerade die Ehrenmedaille gewonnen, dieser außergewöhnliche Soldat, der Indianer bekämpft und den Westen besiedelt! Ihm wird klar: Wow, ich kann noch eine ganz andere Karriere machen, wenn ich mich einfach selbst spiele. Einige Jahre stand er auf der Bühne, in Chicago, in New York und dann überall im Land und spielte Buffalo Bill, um dann zurück in die Plains zu gehen und gegen Indianer zu kämpfen. War er also wirklich Buffalo Bill oder spielte er ihn nur? Er war beides. Und dann beschloss er: Okay, ich erfinde "Buffalo Bill‘s Wild West" - mit hunderten Schauspielern, Kulissen, Indianern, die Indianer spielten, und schließlich zogen sie um die Welt. Um die Jahrhundertwende war er einer der berühmtesten Menschen der Erde. Die Tatsache, dass er diese reale Person war und sich dann selbst spielte, ist für mich eine großartige Figur in dem, was ich Fantasyland nenne. Dieses Ganze: Ist es real? ist es Fiktion? - es ist eine Kombination von beidem - wird zu dem, wie immer mehr Amerikaner die Wirklichkeit betrachten. Und in unserem gegenwärtigen Präsidenten haben wir die lächerliche Wiederkehr dieser alten Geschichte: Ja, er war eine Weile Geschäftsmann, spielte dann 15 Jahre den Geschäftsmann im Fernsehen und jetzt spielt er den Vorstandsvorsitzenden von Amerika.
    Riedle: Eines der problematischsten Phänomene unserer Gegenwart ist mittlerweise die Omnipräsenz von Verschwörungstheorien. Sicher gab es solche Theorien schon immer. Aber in den 1950er Jahren bekam die politische Paranoia in Amerika einen ungeheuren Schub. Es war die Zeit des Kalten Krieges und die Bedrohung der USA durch die Sowjetunion war real. Doch mit Senator Joseph McCarthy und seinem Komitee für unamerikanische Umtriebe, das überall Kommunisten sah, bekam die Angst hysterische Züge. Und in der John Birch Society, gegründet 1958 und bis heute existent, fand die Hysterie ihre offizielle Organisationsform.
    Andersen: Die John Birch Society war eine rechtsradikale, sehr erfolgreiche Organisation, die die Vorstellung propagierte, dass Präsident Eisenhower heimlich Kommunist war, die gesamte Regierung von Kommunisten gesteuert wurde und ähnliche bizarre Dinge. Es begann mit den Illuminaten, eine immer verrücktere gigantische Verschwörung von Insidern gegen uns, die sich aus wildem Anti-Kommunismus entwickelte. Die Organisation wurde von Industriellen und Geschäftsleuten gegründet, hatte aber Tausende Anhänger. Dennoch blieb sie stets außerhalb des republikanischen Mainstream. So fanatisch und zahlreich diese Leute waren, wurden sie doch als Verrückte betrachtet. Bis deren Nachfolger es in den 1990er-Jahren doch geschafft haben. Jetzt wurde diese rechtsradikale neue Weltordnung, samt Verschwörungstheorien und Illuminaten-Wahn, Teil des Mainstreams.
    Riedle: Und dann wurde 1963 auch noch John F. Kennedy ermordet. Seither gibt es praktisch kein einschneidendes Ereignis mehr, zu dessen Hintergründen es nicht unzählige konkurrierende Vermutungen gibt. Das FBI ermittelte damals Lee Harvey Oswald als Einzeltäter. Aber bis heute glaubt noch mindestens ein Drittel der Amerikaner an eine Verschwörung für die die unterschiedlichsten Mächte in Frage kommen. Von der Mafia über die CIA und die Kubaner bis zum Mossad und der Sowjetunion.
    Andersen: Damals hat sich die Vorstellung festgesetzt, dass alles Schlechte, was geschieht, immer das Ergebnis einer unglaublich mächtigen Verschwörung ist. Und mehr und mehr wurde das zu unserer Art, die Welt zu verstehen.
    Riedle: Insgesamt ist seit den 1960er Jahren in den USA nichts mehr wie zuvor. Da waren ja nicht nur die Morde an John F. Kennedy und später an seinem Bruder Robert. Da waren auch der Mord an Martin Luther King und vor allem der Krieg in Vietnam, in dem Hunderttausende starben und gegen den zu Hause Unzählige auf die Straße gingen.
    Andersen: Beim Nachdenken über die 1960er-Jahre wurde mir klar, dass das eine große Zeit für die Durchsetzung von Menschenrechten, Anti-Establishment-Gefühlen, für die Beendigung des Vietnamkriegs, für Feminismus und Umweltschutz war. Aber damals geschah noch etwas anderes, was zu all dem, worüber ich spreche, führte. Die atomare Rüstung und der Vietnamkrieg waren das Werk von Hyperrationalisten: Bitte, hier die Kalkulation: Natürlich werden wir diesen Krieg gewinnen und natürlich überleben wir das nukleare Armageddon. Das gab der Idee von Wissenschaft und Rationalismus selbst einen schlechten Geschmack, zumal ihnen durch den Rationalismus des Dritten Reiches ohnehin schon ein schlechter Geschmack anhaftete.
    Riedle: Die Folge war schließlich nichts weniger als eine Kulturrevolution, in der die linke Protest- und Gegenkultur schließlich so etwas wie ihre eigene Neue Welt mit eigenen neuen Werten und neuen Glaubenssätzen erschuf.
    Andersen: Dieses "Glaube, was du willst, ohne Rücksicht auf Vernunft oder empirisches Verständnis" bekam in den 1960er-Jahren einen heftigen Schub. Da gab es diese Bohemiens, die sagten: "Mann, glaube einfach, was du willst". Gleichzeitig gab es psychedelische und asiatische Strömungen. Und im akademischen Bereich die post‑moderne Vorstellung, dass alle Fakten soziale Konstrukte sind und die Wissenschaft auch nichts Besseres zur Erklärung der Welt beizutragen hat als Religionen und Märchen. Und dann diese Anti-Establishment-Haltung, die immer zu Amerika gehört: Wir verlassen die Church of England, die alten Tyrannen und Europa! Das ermächtigte in den 1960ern sowohl christliche Kreationisten als auch New-Age-Anhänger, die auf die Kraft der Kristalle vertrauten, zu glauben, was immer sie wollten, und Gegenargumente wurden immer schwieriger. Denn es ging eben um übermächtig gewordenen Glauben, egal worauf der basierte, auf Gefühl, auf Überzeugung, auf, was man gelernt hat, oder auf das, was man glauben wollte. Dieser Unterschied zwischen der amerikanischen Kultur und der des Rests der entwickelten Welt begann vor 50 Jahren extremer zu werden.
    Riedle: Das Buch macht überdies eine überraschende Beobachtung: Die 1960er-Jahre hätten nämlich nicht nur den Relativismus der linken Gegenkultur hervorgebracht, sondern auch den Realitätsverlust der religiösen Rechten bestärkt.
    Andersen: Die kulturelle Linke dachte immer, dass die 1960er-Jahre einfach nur großartig waren, während die Rechten sagen: Damals ging alles in die Grütze. Der Witz jedoch ist, dass dieses "Mach dein eigenes Ding" und das postmoderne Verhältnis zur Wahrheit mehr als alles andere die religiöse Rechte bestärkt hat. Es ist also genau das Gegenteil von dem, wie Linke und Rechte die 1960er-Jahre bis heute dargestellt haben. Und da stehen wir heute. Wenn Leute das Recht haben, den Klimawandel oder das Impfen oder welche wissenschaftlich beweisbaren Positionen auch immer, verleugnen zu dürfen, wenn sie politisch und moralisch lästig sind, weil das nun einmal ihr Glaube ist. Es ist Teil der amerikanischen Kultur, dass alles, was im Entferntesten mit Glaube oder Religion zu tun hat, auf keinen Fall angezweifelt werden darf.
    Riedle: Eigentlich würde man meinen, dass die überbordende Religiosität Amerikas ein Überbleibsel aus vergangenen, vormodernen Zeiten ist. Aber gerade seit den 1960er‑Jahren wurden Pfingstler, christliche Fundamentalisten und Kreationisten so stark wie nie zuvor. Wie kommt das?
    Andersen: Den meisten ist nicht klar, dass das eine neue Entwicklung ist. Für mehr als ein Jahrhundert gab es diese "Ich glaube, dass Gott in mir ist"-Tradition und die wurde durch die Pfingstkirchen wiederbelebt. Als Gegenreaktion gegen die Moderne, aber auch, weil es, anders als überall in Europa, in Amerika nie eine Staatskirche gab, die solche Bewegungen unterdrücken konnte. Jederzeit konnten neue Bekenntnisse, neue Kirchen, neue Sekten, neue Religionen und Sub-Religionen des Protestantismus entstehen und sich entwickeln wie nirgendwo sonst. Amerika gibt ihnen die Freiheit dazu und sie entsprechen unseren tief verwurzelten Neigungen. Überdies entspricht es unserem Unternehmergeist, Standard Oil oder General Motors zu gründen, aber wir erfinden auch Pfingstkirchen oder Billy Graham, den Fernsehprediger. Die Religiösen waren ebenso erfinderisch wie sie unternehmerisch dachten.
    Riedle: Wo Religion ein Markt wie jeder andere ist, setzen sich, fast wie im Filmgeschäft, die durch, die die schönsten Illusionen zu bieten haben, die moderne Welt am angenehmsten verzaubern und es zudem schaffen, möglichst unterhaltsam zu sein.
    Andersen: Pfingstkirchen waren vor allem ein Phänomen der Unterklasse. In Zungen zu sprechen wie die Apostel, Leute, die sonntags in der Kirche diese direkt vom Himmel gefallenen verrückten unverständlichen Laute von sich gaben - das ist extrem unterhaltsam. Wirklich populär wurden Pfingstkirchen 1906 in Los Angeles, als die Stadt sich zum Zentrum des weltweiten Show-Business entwickelte. Als Reaktion auf die Moderne wurde zur gleichen Zeit auch der Fundamentalismus erfunden, ein Begriff, der damals in Amerika geprägt wurde zur Bekämpfung des zeitgemäßeren Christentums. Beim Fundamentalismus ging es weniger um: "Oh, ich fühle den Heiligen Geist" - sondern mehr um die wörtliche Auslegung der Schriften.
    Riedle: In den 1970er-Jahren kommt die Religion schließlich auch im Weißen Haus an: mit dem Demokraten Jimmy Carter. Ein so genannter "wiedergeborener Christ", genau wie später der Republikaner George W. Bush und der gegenwärtige Vizepräsident Mike Pence.
    Andersen: Irgendwie haben wir den netten liberalen Jimmy Carter aus dieser Geschichte verdrängt. Zehn Jahre vor ihm hätte einer, der erklärt hätte, er sei ein wiedergeborener Christ und Dinge wie er über das Christentum gesagt hätte, nicht zum Präsidenten gewählt werden können: Das wäre zu verrückt gewesen. Als relativ liberalem Demokraten half ihm seine tief empfundene Religiosität, im Süden gewählt zu werden. Seit damals sind evangelikale Christen synonym mit der Rechten und Ultrarechten, aber der erste von ihnen, der Präsident wurde, war ein Linker. Als er kandidierte, erzählte er sogar, dass er eine fliegende Untertasse von Nahem gesehen hatte - die UFO-Manie war ebenfalls ein Phänomen der 1960er. Ein wiedergeborener Christ, der ein UFO gesehen hatte, als Präsident - das wäre zehn Jahre früher nicht passiert.
    Riedle: Carters Nachfolger Ronald Reagan kämpfte dann vor allem gegen das Reich des Bösen, das er in der Sowjetunion ausmachte. Für das Reich des Guten zu Hause in Amerika setzte er einen neuen allein seligmachenden Glaubenssatz durch: Steuersenkungen kurbelten die Wirtschaft an und machten durch den" tricle down effect" auch die Armen reich. Einigen, etwa Donald Trump, gilt das bis heute als allerletzte Wahrheit. Andere halten den Glauben an die positiven Effekte von Steuersenkungen für eine pure Illusion aus dem Fantasyland, zu dem inzwischen auch die Ökonomie geworden ist. Also was ist dran an Steuersenkungen?
    Andersen: Ein wenig Wahrheit ist schon darin, dass hohe Steuern Investitionen bremsen. Aber eine kleine ökonomische Wahrheit wurde schließlich zu einem religiösen Glaubenssatz, wie Ronald Reagans Vizepräsident George Bush es nannte: "Voodoo Economics". Dieses umstrittene Stück ökonomische Theorie über die Beziehung von Steuersätzen und Wirtschaftswachstum wurde, trotz schwindender Evidenz, für die nächsten 35 Jahre die einzige Basis einer Ideologie der Steuersenkung. Und damit wurde eine halbwissenschaftliche Vorstellung eine Sache religiösen Glaubens.
    Riedle: Aber was ist mit denen, die schnell erkennen, dass ihnen Steuersenkungen doch nichts nutzen? Warum wenden nicht wenigstens sie sich gegen eine solche Politik?
    Andersen: Unsere Ökonomie ist zum Kasinokapitalismus verkommen und es ist kein Zufall, dass Zocken in den letzten 30 Jahren allgegenwärtig geworden ist. Offenbar denken auch die 80 Prozent der Amerikaner, die zu den Verlierern gehören: "Okay, ich kann immer noch gewinnen und dann möchte ich keine hohen Steuern bezahlen". Das gehört zum magischen Denken im Kasino: "Ich kann jederzeit noch gewinnen." Es gibt durchaus auch gute Seiten bei diesem Denken: "Ich kann immer wieder von vorne anfangen und eine neue Seite aufschlagen." Aber wenn man das zu weit treibt, wird es lächerlich.
    Riedle: Und wie kommt man jetzt aus dem Fantasyland, zu dem Amerika offensichtlich in praktisch allen Bereichen geworden ist, zurück zur Realität?
    Andersen: Jeder von uns muss darauf bestehen, dass wir weiter an Aufklärung, an Vernunft, Tatsachenbeweise, Logik und Debatte glauben. Es gibt tatsächliche Verschwörungen auf der Welt - aber bei dem ganzen Verschwörungswahn sehen wir sie nicht mehr. Nehmen wir die Verschwörung zwischen Putin und dem Wahlkampfteam von Donald Trump - vielleicht gab es sie, vielleicht nicht. Aber als sich die ersten möglichen Beweise zeigten, sagten viele, die zur legitimen Presse wie etwa der "New York Times" gehörten: "Nö, ist nicht wahr." Denn es gibt so viele Verschwörungstheorien. Andere sagen, dass Putin genau das will. Hannah Arendt hat darüber gesprochen: Es gehört zum totalitären Masterplan, alles gleichermaßen wahr und unwahr erscheinen zu lassen und zu sagen: "Ach, ist doch egal, was wahr und was falsch ist, Hauptsache unser Mann ist der cleverere."
    Riedle: Wenn alles subjektiv und es vielen egal ist, was wahr und was falsch ist, dann wird es jedoch schwierig, sich nicht nur über die Vergangenheit, sondern vor allem auch über die Zukunft miteinander zu verständigen, oder?
    Andersen: Für mich besteht das fundamentale Problem darin, dass wir uns über elementare Fakten nicht mehr einigen können. So kann eine Gesellschaft nicht funktionieren. Wenn wir Fakten nicht als Fakten anerkennen, können wir nicht überlegen, wie wir etwa mit der Globalisierung, der Automatisierung oder stagnierendem Wachstum umgehen. Über die Interpretation von Fakten können wir uns streiten. Wie sollen wir etwa mit der Klimaerwärmung umgehen: Sollen wir einfach nichts tun und auf neue Technologien warten? Sollen wir anfangen, Leute umzusiedeln? Es gibt viele Möglichkeiten, solange wir die Fakten als real akzeptieren. Wir müssen aggressiver auf die Anerkennung von Fakten bestehen. So lange wir in diesem Fantasyland leben, wo ich bestimmen kann, was wahr ist, aus Bequemlichkeit, Zynismus, durch übernatürliche Eingebung oder was auch immer, sind wir als Gesellschaft gelähmt. Wir sind erledigt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.