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Kurze Erzählungen am Puls der Zeit

Das lange Zeit skeptisch beäugte E-Book wird für viele namhafte Verlage immer wichtiger. Vorangetrieben wird die Entwicklung des digitalen Publizierens aber in erster Linie von kleinen Startups, die mit neuen Formen und Formaten experimentieren.

Von Holger Heimann | 05.11.2013
    Ein Traumstart. Gleich das erste Buch scheint einen Nerv getroffen zu haben. "Der klügste Mensch im Facebook" – die Aufzeichnungen von Aboud Saeed, einem jungen Syrer, der im Hauptberuf als Schmied arbeitet, sind eine faszinierende Mischung aus Prosaminiaturen, Reflexionen und Einblicken in die Schmiedewerkstatt. Auf den schon als "syrischer Bukowski" gefeierten Autor ist die junge Berliner Neu-Verlegerin Nicola Richter im Netz gestoßen. Im Frühjahr hat sie in ihrem Verlag Mikrotext eine Auswahl der Facebook-Statusmeldungen Saeeds herausgebracht. Das Buch umfasst 250 Seiten, aber nur auf dem Smartphone. Der Bildschirm ist das bestimmende Maß, denn bei Mikrotext erscheinen ausschließlich E-Books. Es sind allesamt Originale, kurze digitale Lektüren zum Kaffee-Preis von 2,99 Euro.

    "Ich bin total beeindruckt von der Aufmerksamkeit für die E-Books und den Verlag. Die andere Sache ist: Ich würde mir auch wünschen, dass die klassischen Literaturseiten über E-Books berichten."

    Aber das tun die Rezensenten in den Feuilletons bislang selten. Verwundern kann dies kaum. E-Books-only, also digitale Bücher ohne Doppelgänger auf Papier, wie sie jetzt zunehmend auch in klassischen Verlagen erscheinen, bieten zumeist Essays oder Erzählungen. Sie werden viel rascher geschrieben und sind weit weniger komplex als Romane, an denen Schriftsteller oft über Jahre arbeiten.

    Nikola Richter selbst vergleicht die von ihr produzierten Texte mit längeren Magazin-Stücken. Der große Vorzug der kurzen Form wie des digitalen Verlegens ist die Aktualität. Gerade ist bei Mikrotext "Gezi bleibt. Stimmen zum Aufbruch in der Türkei" erschienen – mit Beiträgen so unterschiedlicher Autoren wie Moritz Rinke, Claudia Roth und Tariq Ali. Offen bleibt, ob solch deutlich herausgestellte Zeitgenossenschaft ausreicht, um die Nachfrage nach den E-Books anzutreiben.

    "Ich hatte gedacht, dass ich ein bisschen mehr verkaufe. Es ist nicht so, dass ich sagen kann, ich kann davon leben. Es ist immer noch ein Minusgeschäft. Die Arbeitsstunden, die ich reinstecke, zahlen sich nicht aus. Ich glaube, man braucht einen langen Atem. Meine Erkenntnis ist, dass keiner bisher die Formel hat, wie man Social-Media-Aufmerksamkeit umlenkt in Verkauf."

    Beirren lässt sich die 36-Jährige von dem schleppenden Absatz nicht. Ihr erstes Jahr betrachtet Nikola Richter, die nach wie vor auch als freie Autorin und Web-Konzepterin arbeitet, ohnehin als Lehrjahr, als eine Zeit der Experimente. Und tatsächlich hat sie fortwährend neue Ideen. Ihre Bestseller will sie auch als gedruckte Bücher herausbringen. Die Notizen Saeeds hat sie gerade ins Englische übersetzen lassen.

    "Der deutschsprachige E-Book-Markt ist begrenzt. Leider ist Deutsch keine Weltsprache. Warum soll ich die englischsprachigen Rechte verkaufen? Das ist eigentlich das Wertvollste, was ich habe. Kann sein, dass ich nächstes Jahr sage, nein, das mit den englischen Titeln überlasse ich einem anderen, der oder die kann das besser. Aber ich will das auf jeden Fall versuchen."

    Übersetzungen ins Englische von "Frisch & Co."
    Der Amerikaner Edward J. Van Lanen hat sich von Anfang an auf den globalen Buchmarkt konzentriert. In seinem E-Book-Verlag Frisch & Co, der gleichfalls im Frühjahr in Berlin an den Start gegangen ist, bringt er ausschließlich Übersetzungen für die englischsprachige Welt heraus.

    "Ich hatte – bevor ich nach Berlin kam – diese Idee, dass es sicherlich interessant wäre, Übersetzungen als E-Books herauszubringen. Aus dem einfachen Grund, weil viele Kosten, die das Geschäft mit gedruckten Büchern schwierig machen, verschwinden. Man braucht kein Lager und Vertriebsausgaben fallen nur dann an, wenn ein Buch verkauft wird. Zudem lässt sich jeder erreichen, theoretisch zumindest. Für Übersetzungen interessieren sich nur wenige Leute, warum auch immer. Aber wenn es gelingt, diese kleine Gruppe in den USA ebenso wie in Großbritannien, in Australien ebenso wie in Kanada anzusprechen, dann ergibt sich in der Summe eine Leserschaft, die groß genug ist, um Literatur, die ins Englische übersetzt wird, ausreichend zu unterstützen."

    Van Lanen, der früher als Marketing Assistent bei HarperCollins in New York gearbeitet hat, kooperiert mit Verlagen in Deutschland, Spanien, Italien, Finnland und Brasilien. Aus den Programmen von Suhrkamp, Anagrama und Edizioni Nottetempo etwa kommt regelmäßig Nachschub für Frisch & Co. Als erster Titel erschien im Frühjahr "Anatomy of a Night", die Übersetzung des pechschwarzen Romans "Anatomie einer Nacht" der Suhrkamp-Autorin Anna Kim.

    Zwölf Bücher will van Lanen jährlich herausbringen, doch womöglich ist das zu ehrgeizig gedacht. "The Tower" – das E-Book von Uwe Tellkamps DDR-Epos "Der Turm" – wohl auch wegen des Umfangs bislang nicht ins Englische übersetzt – musste auf das kommende Jahr verschoben werden. Der renommierte Übersetzer Mike Mitchell braucht schlichtweg länger als geplant. Und auch für den Verleger, der vom Lektorat bis zur Gestaltung alles selbst übernimmt, ist das Pensum enorm. Aber es sind andere Dinge, die ihn manchmal beunruhigen:

    "Im ersten Monat haben wir 100 Exemplare verkauft. Das ist keine besonders große Zahl. Aber der Verlag ist erst am Anfang. E-Books haben eine andere Lebenskurve als Papierbücher. Ein gedrucktes Buch steht kaum mehr als ein halbes Jahr im Bücherregal, dann verschwindet es. Mir scheint, E-Books bleiben länger. Und 100 verkaufte Exemplare Monat für Monat – das ist so betrachtet gar nicht schlecht. Als ich die Zahl hörte, war ich zunächst enttäuscht, aber dann wurde mir klar, dass das allemal besser ist, als vom Start weg 500 E-Books zu verkaufen und danach passiert nichts mehr."

    Edward J. Van Lanen weiß, dass die Bücher, die er verlegt, nicht häufig zu E-Book-Bestsellern werden. Reißenden Absatz findet im Netz seichte Unterhaltung. Für anspruchsvolle Literatur, wie er sie in Übersetzung herausbringt, sind die Verkäufe auch im Land des E-Book-Booms, in den USA also, deutlich niedriger. Von seiner Programmidee will der 39-Jährige deswegen aber noch lange nicht abrücken.

    "Manchmal denke ich, was ich mache, ist verrückt. Es ist ziemlich riskant und ich kann spektakulär scheitern. Aber wenn ich schon all mein Geld, meine Zeit und meine Energie investiere, dann sollte das für solche Autoren und Bücher sein, die mich etwas angehen, die ich selbst gern lesen will. Deswegen gründet man doch einen Verlag, um mit anderen Lesern zu teilen, was man selbst interessant findet. Traditionelle Verlage konzentrieren sich ausschließlich auf gedruckte Bücher – mit dem Ziel, für diese eine Leserschaft zu finden, um E-Books kümmern sie sich nur am Rande. Und sie machen sich weder die Mühe herauszufinden, welche Menschen E-Books lesen, noch versuchen sie, dieses Publikum zu erreichen."

    Cover: "Der Turm" von Uwe Tellkamp
    "Der Turm" von Uwe Tellkamp soll ins Englische übersetzt werden. (Suhrkamp)
    Traditionelle Verlage starten E-Books-only-Reihen
    Laut einer Studie des Börsenvereins des deutschen Buchhandels lag der Gesamtumsatz deutscher Verlage mit E-Books im Vorjahr bei 9,5 Prozent und damit über den Erwartungen der Verleger. 54 Prozent aller Novitäten wurden auch als E-Books angeboten. Das Engagement für digitale Lektüren beginnt sich offensichtlich mehr und mehr auch wirtschaftlich auszuzahlen. Zunehmend wird daher mit dem neuen Format experimentiert.

    Seit Juni bringt der Rowohlt Verlag E-Books-only heraus, kurze Texte von Autoren des Hauses, darunter Nicole Krauss und Simon Beckett, die ausschließlich in digitaler Form erscheinen. Der Harry-Potter-Verlag Carlsen hat im Sommer gleich zwei Imprints für ausschließlich digitale Lektüren gegründet: Impress und Instant Books. Und der Berliner Independent-Verlag Matthes & Seitz, vielfach für seine schön gestalteten Bücher gerühmt, hat schon im Frühjahr eine E-Books-only-Reihe etabliert. Matthes & Seitz-Verleger Andreas Rötzer betrachtet den neuen elektronischen Zweig als Testfeld:

    "Es ist wirtschaftlich nicht relevant oder nicht spürbar eigentlich, aber es ist die Auseinandersetzung mit dem Medium. Und die inhaltlichen Möglichkeiten, die sich darüber ergeben, interessieren uns und bereiten eine verlegerische Lust."

    "Social Books" als neues Format
    Doch derartige Experimente werden ohnehin bald überholt sein. Das glaubt der Blogger Sascha Lobo. Der Berliner Publizist gehört zu einem Quartett von Gründern, die die Beta-Version einer Plattform vorstellen wollen: Sobooks. Hier sollen digitale Bücher verkauft werden, die anders sind als die bisher angebotenen E-Books.

    "Mit Sobooks werden wir versuchen, den E-Book-Markt neu aufzurollen. Man braucht ja so ein bisschen Größenwahn bei so was. Ich glaube, dass das E-Book, wie wir es jetzt kennen, nur das ist, was die Digitalisierung mit dem Buch getan hat. Und was uns mit Sobooks interessiert, sowohl als Buchhändler wie auch als Verlag, ist, was das Internet und die sozialen Medien mit dem Buch tun. Das heißt, wir versuchen im Moment, eine neue Form von E-Book zu finden, die der digitalen Vernetzung angemessen ist. Ich glaube, dass das Potenzial, was das Internet hat, speziell im Hinblick auf e-book-artige Werke, dass das noch sehr ungehoben ist. Da ist noch wahnsinnig viel Luft nach oben."

    Die Sobooks-Initiatoren verstehen ihr Projekt dezidiert als Alternative zu Amazon. Ihr Ziel ist kein geringeres, als den amerikanischen Giganten zu überflügeln. Das geschlossene System, das der E-Book-Monopolist über seine Plattform und die Kindle-Lesegeräte offeriert, hält Lobo für eine Zumutung, der sich die Nutzer nur noch nicht ausreichend bewusst sind und die dem Geist des Internets widerspricht.

    "Es gibt intelligente Konzepte, die nicht so radikal geschlossen und durchkontrolliert sind, wie Amazon das versucht – zwischen Hardwarekontrolle und Softwarekontrolle. Deshalb haben wir Sobooks auch gegründet, um ein eher offenes, internetaffines Konzept in die Welt zu stemmen. Am Ende entscheidet natürlich der Nutzer darüber, welche Form von welchem Buch er kauft. Insofern ist es für uns sehr interessant zu sehen, wie viele E-Books verkauft Amazon auf dem Kindle von der Ausgabe xy und wie viele Sobooks verkaufen wir über unsere Plattform."

    Reader sind im Sobooks-Universum überflüssig, die neuen E-Books werden im Browser gelesen. Den Verlagen und Autoren verspricht Lobo mehr Aufschluss darüber, mit welchen Texten sich die Leser langweilen, ja gar, an welcher Stelle sie eventuell ausgestiegen sind. Und er ist sich sicher, dass dieses Wissen das Schreiben verändern wird.

    "Ich glaube nicht, dass der Schriftsteller – erst recht nicht, dass der Sachbuchautor – irgendwo in einem Elfenbeinturm sitzt und nichts von seiner Umwelt wahrnehmen sollte. Es gibt solche Leute, die haben auch die volle Berechtigung, aber ich glaube nicht, dass das den Massenmarkt ausmacht. Insofern ist es für einen Sachbuchautor sehr interessant, so was zu wissen wie: Nur ein Drittel der Leute haben das vierte Kapitel überhaupt erreicht. Oder: Die Hälfte der Leser haben nach dem Vorwort abgebrochen und dann nicht weiter gelesen."

    Wie weit der Einfluss des Publikums reichen soll, lässt Lobo einstweilen offen. Sobooks – das ist die Abkürzung von Social Books. Schon im Namen klingt die Idee eines neuen, interaktiven Formats an, das sich von der geschlossenen Form, die für das gedruckte Buch wie für das E-Book gleichermaßen kennzeichnend ist, verabschiedet. Vorstellbar scheint mithin, dass Bücher künftig von den Lesern fortgeschrieben werden. Es wäre nur konsequent. Traum oder Albtraum – das kann jeder für sich selbst beantworten.
    Der Internetberater Sascha Lobo
    Der Blogger Sascha Lobo (Jan Bölsche)