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"Kurze Geschichte der Gegenwart"
Lehrbuch für die Ungewissheiten von heute

Digitalisierung, Gleichstellung oder Klimawandel: Der Historiker Andreas Rödder nimmt seine Leser mit auf einen Crashkurs durch die Probleme der Gegenwart und wagt dabei auch einen Blick in die Zukunft.

Von Jacqueline Boysen | 08.02.2016
    Der Historiker Andreas Rödder im Porträt
    Der Historiker Andreas Rödder (picture alliance / dpa / Fredrik Von Erichsen)
    Auf dem Einband dieses Buches schimmert der Titel "21.0". Er soll den Jahrhundertwechsel wie auch den binären Code digitaler Welten widerspiegeln. Das wirkt auf den ersten Blick widersprüchlich – schließlich haben wir es mit einem Buch zu tun, dem Inbegriff analog tradierten Wissens.
    Der Mainzer Historiker Andreas Rödder hat methodisch die Reset-Taste gedrückt, um seine These vom "Entschwinden des kurzen 20. Jahrhunderts" zu bebildern. Dabei geht er in seinem geschichtswissenschaftlichen Band nicht chronologisch vor. Auch erhebt er keinen Anspruch auf Vollständigkeit im Erfassen historischer Details. Rödder lädt – um im digitalen Bild zu bleiben – einzelne historische Phänomene hoch und liefert in der Analyse sein Update. So betrachtet er unter anderem die digitale Revolution, die Weltwirtschaft, das Verhältnis von Staat und Gesellschaft oder auch die europäische Einigung – und generiert anregende, neue Deutungen aktueller Entwicklungen in Deutschland und Europa.
    "Im Grunde ist doch das Interesse für die Gegenwart der Antrieb aller Wissenschaft. Ich finde, das macht die Lebendigkeit von Wissenschaft aus. Ich meine, sie sollte sich spezialisieren, aber nicht in der Spezialisierung stehenbleiben, mit der sie sich von gesellschaftlichen Debatten abkoppelt. Ich glaube, es ist schon die Aufgabe der Geschichtswissenschaft, große Linien zu zeichnen. Darin sehe ich einen erheblichen Bedarf, weil die Menschen, mit denen ich spreche, offensichtlich davon Erklärung gewinnen."
    Rödder vernetzt Klassiker mit modernen Deutungen
    Wer ein Grundverständnis für die Zeitgeschichte mitbringt und neugierig ist auf Gedankenspiele jenseits des Herkömmlichen, wird beim Lesen Freude haben: Denn Andreas Rödder vernetzt Klassiker mit modernen Deutungen, präsentiert Abseitiges und Überraschungen – kurz: Bravourös und kenntnisreich zerlegt er die Gegenwart in ihrer Komplexität und scheut keine Provokation. So hält er sich nicht an die bekannten Fixpunkte der deutschen Zeitgeschichte, kreist also vordergründig nicht um Daten wie 1933 oder 1945 oder markante Ereignisse wie den Mauerfall.
    "Nach wie vor prägt das Zeitalter der Weltkriege und der Diktaturen das kollektive Gedächtnis. Als Bezugszeitraum für das Verständnis der Gegenwart aber verliert es an Bedeutung. Stattdessen treten mit den Erfahrungen einer beschleunigten, globalisierten und digitalisierten Welt zwei neue Referenzzeiten hervor: Die 70er- und 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts, in der die Kräfte freigesetzt wurden, aus denen die Welt 3.0 hervorging und die Zeit vor 1914, aus der die Welt 2.0 entstand."
    Andreas Rödder fragt in seinem ideengeschichtlichen Ansatz nach den einflussreichsten Denkern nach 1945 – und hält hier besonders die französischen Philosophen Michel Foucault und Jacques Derrida für wegweisend. Rödder selbst folgt dem Postulat von Jean François Lyotard: "Die große Erzählung hat ihre Glaubwürdigkeit verloren". Allen drei französischen Poststrukturalisten schreibt er eine zentrale Rolle in der Postmoderne zu. Ihr Denken sei tief in die pluralistische Gesellschaft hineingesickert und habe den Weg bereitet, um alte Gewissheiten zu zerschlagen und die Absolutheit von tradierten Ordnungsvorstellungen aufzuheben.
    "Das, was wir in den 80er-Jahren als Postmoderne, als Wertewandel verstanden haben, das haben wir verstanden als Befreiung von überkommenen Ordnungsvorstellungen, aber auch als Befreiung von traditionellen Einengungen, zum Beispiel bei Geschlechterrollen oder bei den Familienmodellen. Was mein Buch versucht zu zeigen ist, dass es bei dieser Pluralisierung nicht stehengeblieben ist, sondern nach der Dekonstruktion überkommener Ordnungsvorstellungen ist vor der Konstruktion neuer Ordnungsvorstellungen. Und diese neue Ordnung, die bezeichne ich als Kultur der Inklusion. Die zielt auf Teilhabe, die zielt auf Nachteilsausgleich für die zuvor Benachteiligten. Aber sie schafft zugleich neue Machtstrukturen, weil sie die einen inkludiert, andere aber dafür an den Rand drängt."
    Mutig macht der Historiker auf Widersprüche aufmerksam
    Rödder scheut sich nicht, heilige Kühe der bundesrepublikanischen Diskurse zu schlachten. Kritisch betrachtet er im Kapitel "Die Ordnung der Dinge" beispielsweise, was passiert, wenn ursprünglich fortschrittliche Ideen absolut gesetzt werden. Dann liefen sie ihrerseits Gefahr, fundamentalistischen Charakter anzunehmen. Das falle ihm auf bei Fragen von Gleichberechtigung, Wahlfreiheit der Lebensform und Inklusion. Zunächst führe eine progressive Idee zur Öffnung für alle. Dann aber kippe die neue Toleranz in die gesellschaftliche Ächtung derer, die Neuerungen für sich selbst ablehnen.
    Mutig macht der Historiker auf Widersprüche aufmerksam: Wenn etwa ein langjähriger Hausmann zum "Vater des Jahres" gekürt wird, so erkennt Rödder darin eine Verkehrung ins absurde – deckt sich das Lebensmodell dieses Mannes doch offenbar mit dem überkommen geglaubten der klassischen Hausfrau. Rödder beruft sich auf die Warnung des Soziologen Ralf Dahrendorf, dem zufolge "ein richtiger Gedanke, bis zum Extremen getrieben, gerade die Möglichkeiten zerstört, die er eigentlich eröffnen sollte":
    "Meine historische Erfahrung ist, jedenfalls lese ich die Geschichte so, eine Idee wird immer dann gefährlich, wenn sie sich von den Realitäten löst. Das gilt natürlich für die klassischen Ideologien, die totalitären Ideologien oder Fundamentalismen. Das gilt aber auch für Dinge, die uns viel näher sind. Das beobachten wir zum Beispiel bei der Herrschaft des Marktes oder der Idee einer immer engeren Union der Völker Europas in der Schuldenkrise, das beobachten wir beim Gender Mainstreaming und der Gleichstellung bis hin zur Rechtschreibreform."
    Andreas Rödder ist CDU-Mitglied, aber, wie er gern betont: kein CDU-Historiker. Obwohl ihm politische Ambitionen nicht fremd sind, hat er ein unideologisches Buch verfasst. Das dicht gewebte geistesgeschichtliche Beziehungsgeflecht, das er knüpft, ist so anregend wie provozierend, und – ja, bisweilen auch anstrengend. Schließlich hinterfragt Rödder unsere Gewissheiten und erschüttert sie – übrigens ohne dabei in Kulturpessimismus zu verfallen. Fröhlich optimistisch plädiert er dafür, Veränderungen mit Offenheit entgegen zu treten – dieser Tage ein nicht oft gehörter, indes wertvoller Rat.
    Andreas Rödder: 21.0 Eine kurze Geschichte der Gegenwart. C. H. Beck Verlag, München 2015, 494 Seiten, 24,95 EUR