Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Kurze Zwischenrast

"Ich stieg aus dem Taxi, und sie lief in die geöffnete Wagentür: Brot, Eier und Milch fielen auf den Gehsteig – und so begegneten wir uns im grauen Nieselregen".

Von Martin Grzimek | 11.05.2010
    Dieser erste Satz aus Romain Garys legendärem Roman "Die Liebe einer Frau" aus dem Jahre 1977, hätte gut zu den Beispielen gepasst, die der Bestsellerautor Frank Schätzing neulich in einem kleinen Essay mit dem Titel "Der erste Satz ist heilig" aufgenommen hat. Er denkt dort über den jeweiligen Anfang berühmter Romane nach, wie "Moby Dick" von Melville oder "Der Butt" von Günter Grass. Die betreffenden Sätze "Nennt mich Ismael" oder "Ilsebill salzte nach" enthalten für Schätzing immer schon Hinweise darauf, dass mit ihnen nicht nur eine neue Geschichte beginnt, sondern auch schon eine vorausging. Literarisch 'heilige' erste Sätze beginnen also irgendwo mittendrin in der Geschichte des Lebens und erzeugen die Lust zum Weitererzählen und die Sehnsucht oder die Wehmut am Vergangenen. So ist es auch in dem Roman von Romain Gary. Ein Mann und eine Frau, beide in den Vierzigern, treffen durch einen Zufall aufeinander. Michel Faliano, der fiktive Erzähler dieses Romans, ist Flugkapitän. Er hat seine todkranke Frau verlassen und will an diesem Tag eigentlich in ein weit entferntes Land fliegen, um sein Schicksal zu vergessen. Doch dann kehrt er nach Paris zurück. Die Fremde, die gegen die Taxitür prallt, ist Lydia Towarski. Seit sie vor einem halben Jahr ihre kleine Tochter durch einen Verkehrsunfall verloren hat, lebt sie allein. Ihr Mann, einer wohlhabenden russisch-jüdischen Familie entstammend, ist durch den Unfall, den er verursacht hat, wegen einer schweren Aphasie zu einem Pflegefall geworden. Michel und Lydia leiden also gleichermaßen an ihrer Vergangenheit und der Vorstellung einer aussichtslosen Zukunft. Doch indem sie zufällig zusammentreffen, lassen sie sich ineinander fallen und teilen von nun an eine gemeinsame Gegenwart. Michel, fasziniert von Lydias weißem Haar und ihrem unschuldigen Gesicht, sieht in ihr ein Pendant zu seiner eigenen Frau, die er über alles liebte, und verfolgt die Unbekannte bis zu ihrer Wohnung. Als wären sie verabredet, öffnet ihm Lydia die Tür.

    Ich (...) nahm sie in die Arme. Ich spürte ihre Fingernägel in meinem Nacken. Sie schluchzte, und ich wusste, dass es hier weder um sie noch um mich ging. Es ging einzig und allein um Beistand. Es war ein Augenblick gegenseitiger Hilfe. Wir beide brauchten etwas Vergessen, eine kurze Zwischenrast, bevor wir uns mit unserem Gepäck voller Nichts weiterschleppten.

    Die "kurze Zwischenrast", von der uns Gary in seinem Roman erzählt, ist eine einzige Pariser Nacht, die Michel und Lydia vom Augenblick ihrer zufälligen Begnung an miteinander verbringen. Sie ziehen von Bar zu Bar, treffen sich in einem zwielichtigen Varieté, besuchen die illustre Abendgesellschaft der Mutter von Lydias Mann und schlittern mit vom vielen Whisky verklärten Blick von einer pittoresken Situation in die nächste. Währenddessen benutzen sie die Zeit, sich gegenseitig ihr Herz auszuschütten, den längst begonnenen Verfall ihrer Jugend zu betrauern, den Niedergang kultureller Werte zu beklagen und halbherzig das Szenario einer gemeinsamen Zukunft zu entwerfen. Doch sie wissen, dass es die nicht geben wird. Ihre aufflackernde Liebe ist nur das Irrlicht unerfüllbarer Träume aus ihrer Vergangenheit, der Widerschein einst glücklicher Tage verblasst im Morgengrauen über der Großstadt. Romain Gary übersetzt diese fortschreitende Desillusionierung in ein artistisch anmutendes Selbstgespräch wie jemand, der durch eine überschäumende Rede eine schleichende Krankheit in seinem Körper verharmlosen und vielleicht sogar überlisten will. Dabei bedient er sich wie ein Jongleur existenzialistischer Phrasen und der Dialektik sich in sich selbst umkehrender Gegensätze oft so gekonnt und selbstverständlich, dass es ein Genuss ist, ihm auf das Trapez seiner Gedanken zu folgen und seinem Alter Ego Michel zuzuhören, wie er versucht, Lydia seine hoffnungslose Liebe zu erklären.

    Schließen Sie die Augen, und schauen Sie mich an. Nicht alle Wahrheiten sind bewohnbar. Oft fehlt die Heizung, und man kommt darin vor Kälte um. Das Nichts interessiert mich nicht, eben weil es existiert. (...) Es ist vielleicht urkomisch, wie wir beiden Schiffbrüchigen uns gegenseitig zu helfen versuchen, aber ich empfinde es als Ehre, clownesk zu sein. (...) ... ich werde erst zu lieben aufhören, wenn ich keine Lungen mehr habe. Sie sind da, eine Frau leuchtet mir wieder, und das Unglück hört auf, Lebensqualität zu sein.

    Der Roman erschien bei uns erstmals 1979 unter dem ein wenig hölzernen klingenden Titel "Frauenlicht". Dem Verlag SchirmerGraf ist es zu verdanken, dass er ihn in seiner Reihe vegessener Klassiker neu übersetzen lies. Aber er hat noch ein Übriges getan, indem er durch Fotos, ein Nachwort und einen Biobibliographischen Anhang die Nähe des Romans zu Garys Beziehung zu der Schauspielerin Jean Seberg aufzeigt. In den sechziger Jahren war die Amerikanerin eine Ikone sinnlicher und zugleich schüchterner Jugendlichkeit. In dem legendären Debutfilm "Außer Atem" von Jean-Luc Godard spielte sie an der Seite Jean-Paul Belmondos die weibliche Hauptrolle. Von 1962 bis 1970 war sie mit Romain Gary verheiratet. 1979, nachdem sie von Gary längst getrennt lebte, sah sie die Adaption von Garys zwei Jahre zuvor erschienenen Roman "Die Liebe einer Frau" durch den Regisseur Costa-Gavras mit Romy Schneider und Yves Montand in den Hauptrollen. Einen Tag nach dieser Aufführung beging sie Selbstmord. Von diesem Moment an bekam der Roman ein neues Gewicht. Doch die Vermischung von Realität und Fiktion, die durch die Fotos und die Lebensgeschichte Garys und Sebergs nun offensichtlich wird, mindert in keiner Weise die literarische Eigenständigkeit dieser kunstvollen Prosa, deren Wiederlesen wie eine Neuentdeckung ist. Und wenn Michel, der Erzähler, beiläufig bemerkt, er habe dieses sehnsuchtsvolle Bekenntnis über die Liebe zu einer Frau am Strand der Bretagne aufgeschrieben, hört man gleichsam in seinen Worten das Meer rauschen und ahnt im Vergänglichen das Unvergängliche.

    Möwen und Krähen, Schreie und Seelenschmerz, letzte Augenblicke, ein Strand in der Bretagne, deine Stirn an meinen Lippen, leuchtendes Frauenantlitz, schwere Augenlider, Kampf gegen den alles besiegenden Schlaf.

    ROMAIN GARY: "Die Liebe einer Frau". Roman.
    Aus dem Französischen von Leon Scholsky. Mit einem Nachwort von Sven Crefeld, einer Zeittafel, einem Werkverzeichnis und zwölf Fotos.
    SchirmerGraf Verlag, München 2009, 186 S., Euro 18,80