Dienstag, 16. April 2024

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Kurzgeschichte zum Literatursommer
Chocolate Mint Shake

Die Geschichte hinter der Meldung: Dana Vowinckel entwirft - basierend auf einer Zeitungsnachricht - eine ungewöhnliche Meisterdiebin, die sich als mittellose Studentin tarnt.

Von Dana Vowinckel | 12.08.2021
Schokoladensmoothie
Das Geld für ihre Shakes erwirbt die Studentin auf eine Art, die ihre Kommilitonen wohl nicht für möglich halten (Imago/agephotostock)
Zeitungsspalten mit "Vermischtem" aus aller Welt präsentieren oft Kurioses, Tragisches, Faszinierendes - ganze Geschichten, erzählt in wenigen Zeilen. Im Literatursommer des Deutschlandradio haben wir vier Schriftstellerinnen und Schriftsteller gebeten, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen, ausgehend von einer kleinen Nachrichtenmeldung.
Die Meldung
Sensationsfund in der Catholic University in Washington D.C.: Dort wurde bei Renovierungsarbeiten ein blau-kariertes Schürzenkleid wieder gefunden, das Judy Garland als Dorothy im Film "Der Zauberer von Oz" im Jahr 1939 einst getragen hatte. Das Kleid galt seit Jahrzehnten als verschollen, nun entdeckte man es zufällig in einer Plastiktüte auf einem Schrank in einem Büro der Washingtoner Universität. Das Kleid lag seit den 1970er Jahren auf einem Schrank, samt Namensetikett und sogar Schweißflecken, die es nun eindeutig identifizierbar machten. Es wird jetzt besser gelagert und soll in einem klimatisierten Archiv verwahrt werden. Vor kurzem wurde auf der Gästetoilette der Universität noch ein anderer Fund gemacht: Dort entdeckte man eine Rembrandtzeichnung.
Irgendwann war sie sorgloser geworden, das war ihr zum Verhängnis geworden, sie wusste es, strich sich die Sorgenfalten glatt, mit einem Chocolate Mint Shake ging es am besten.
Sie tat ab und an so, als würde sie "off campus" leben, indem sie in ein anderes Viertel fuhr, dort etwas aß, etwas trank. Dann fuhr sie zurück, in dieses Zimmer, in dem das Bett stand, das sie aufgebockt hatte, damit darunter mehr Stauraum war, daneben der Fernseher, die Mikrowelle, eine alte Herdplatte auf dem Kühlschrank.
Porträt der Schriftstellerin Dana Vowinckel
Die Autorin Dana Vowinckel wurde 1996 in Berlin geboren und schreibt Lyrik und Prosa. Für ihren Text "Gewässer im Ziplock" gewann sie 2021 den Deutschlandfunkpreis bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. (Catharina Tews)
Das Bad, immer sauber, die weiten Kleider, die Kommilitonen dachten, sie wäre verrückt. Sie lachten über sie, ganz nah, wenn sie ihre Tabletts in der Kantine neben ihr trugen, als hätten Verrückte keine Ohren, als sprächen sie eine andere Sprache, weil sie mit niemandem sprachen. Dabei sammelte sie mehr Arbeitserfahrung, von der sie immer sprachen, als sie alle zusammen.
Zwei Jahre lang hatte sie über Rembrandt gelernt, bis sie die Zeichnung in den Händen gehalten hatte, nur, um sie zu verstauen, Tag für Tag die Kachel anzuheben bei ihren Besuchen in den Frauentoiletten des naturwissenschaftlichen Gebäudes, mit den Fingerspitzen den Rand hochzuheben, ins Licht zu halten, wieder zu verstauen, zu spülen, obwohl es niemandem aufgefallen wäre, hätte sie nicht gespült.
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Die Kommilitonen belachten, wie sie allein aß, weit über den Teller gebeugt, um die Blusen mehrfach tragen zu können, sie sahen, wie sie den Nudelsalat und die trockene Pizza, seit einiger Zeit auch den rohen Grünkohl, in ihre Dose schichtete, da sie wusste, sie würde später noch einmal Hunger bekommen. Die Studenten schienen das traurig zu finden, sie dachten, wenn man nachts essen dürfe, dann nur betrunken im Wendy’s, doch sie aß nicht, um weiter trinken zu können, sondern, um sich weiter auf den summenden Bildschirm konzentrieren zu können, an dem sie über Dinge las, die sie haben wollte oder schon besaß.
Wenn sie Bücher über andere Diebe las, hieß es oft, es sei einfach alles außer Kontrolle geraten. Doch für sie war es das Gegenteil: das Stehlen war die ultimative Kontrolle. Sie redete sich auch nichts schön, sie war eine Diebin, sie machte es akribisch, seit dem Wunsch nach dem Kleid hatte diese Sehnsucht nach Besitz nicht aufgehört. Im Grunde war es doch, was die Kommilitonen alle wollten: ausgebeutet werden am Anfang, dann aber ausbeuten, wenn alles gut lief.

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Sie hatte sich hochgebissen, die Glasdecke durchbrochen, wie es heutzutage in den Gender-Studies-Klassen alle sagten. Eine Powerfrau. Eingelagert die Schätze, von denen sie sich nicht hatte trennen können. Der "Torero" von Picasso, "König David und seine Engel" von Chagall. Nur etwas war ihr abhandengekommen, bevor sie es verkaufen oder einlagern konnte, das Kleid, es war ihr erster Diebstahl gewesen. Nachdem der angeberische Leiter des Drama Clubs es ihnen allen gezeigt hatte, hatte sie es aus seinem Büro entwendet und auf einen Schrank in einer Kammer gelegt.
Sie hatte sich immer gewünscht, einmal auszusehen wie Judy, bis zu ihrem dreißigsten Geburtstag hatte sie gedacht, ihr Gesicht würde sich vielleicht irgendwann einmal ändern. Sie wusste nicht mehr, was zuerst gewesen war, der Wunsch danach, wie Judy auszusehen, oder das Kleid. Es waren die übereifrigen Putzkräfte, die es gefunden hatten.
Seit dem Verlust hatte sie nicht aufgehört zu stehlen, Giacometti, O’Keefe, Kandinsky. Doch das Geld für die Studiengebühren wurde knapp, Millionen hatte die University schon von ihr bekommen. Es war ein umfangreicheres Verfahren gewesen, alles über Tor, Europäer, die dürftiges Englisch sprachen, beinahe wäre alles schiefgegangen, doch dann hatten sie einen Wärter gefunden, hatten bemerkt, dass es in Berlin scheinbar keinen interessierte, wer im Dunkeln eine Goldmünze die Bahngleise entlangrollte.
Das Gold lag mittlerweile eingeschmolzen auf ihrem Konto. Nur einen Tropfen davon hatte sie sich schicken lassen. Sie trug ihn an einer billigen Kette um den Hals, er fühlte sich schwer an, ein Lebenswerk. Eine Studentin in Rente, das war sie nun, wenn sie in der letzten Reihe saß, keine Fragen stellte.