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Kwame Anthony Appiah
"Identitäten“

Identitäten können Halt und Orientierung bieten, aber auch zu Konflikten und Kriegen führen. Angesichts ihrer Komplexität rät der Philosoph Kwame Anthony Appiah zu einem bewussten und zeitgemäßen Umgang mit den Schwachstellen und den Potenzialen von Identitäten.

Von Anne-Kathrin Weber | 06.01.2020
Buchcover; Im Hintergrund überlappende Silhouetten verschiedener Personen
Der Philosoph Kwame Anthony Appiah arbeitet in seinem Buch heraus, was Identitätskonstruktionen gemeinsam haben und was sie trennt (Buchcover Hanser/ Hintergrund Imago)
In Ghana werden Goldgewichte gegossen, indem man ein Wachsmodell formt und es mit Ton umhüllt. Anschließend gießt man Messing in die Form. Dadurch schmilzt das Wachs und wird verdrängt. Den britisch-ghanaischen Philosophen Kwame Anthony Appiah erinnert dieser Vorgang an die Beharrlichkeit, mit der Menschen sich und andere immer wieder aufgrund von Herkunft und Hautfarbe festzulegen versuchen:
"In unserem Fall ist der Rassenbegriff des 19. Jahrhunderts das zum Schmelzen bestimmte Wachs. Der Stoff selbst mag weggeschmolzen sein, aber den Raum, den er einnahm, haben wir eifrig wieder gefüllt."
Mit dieser Verbildlichung der Wachsausschmelzung illustriert Appiah sehr gut die zentrale These seines aktuellen Buches über Identitäten, die lautet, "dass wir mit dem Erbe von Denkweisen leben, die ihre moderne Gestalt im 19. Jahrhundert erhielten, und dass es höchste Zeit ist, sie mit den Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts zu überdenken".
Die Erfindung der "westlichen Kultur"
Kwame Anthony Appiah präsentiert aber nicht nur Thesen rund um die "gefährliche Kartografie der Hautfarben", die seit dem 19. Jahrhundert politisch und gesellschaftlich zentral geworden sei. Mithilfe von vier weiteren Kategorien – Religion, Nation, Klasse und Kultur – arbeitet der Philosoph das heraus, was Identitätskonstruktionen gemeinsam haben und was sie trennt. Maßgeblich ist für Appiah dabei die Erkenntnis, dass all diese Identitäten nicht auf einer wie auch immer gearteten historischen "Essenz", also auf naturgegebenen menschlichen Eigenschaften, beruhen. Stattdessen würden Identitäten immer konstruiert, interpretiert, transformiert und instrumentalisiert. Das gilt laut dem Autor zum Beispiel für das Konzept der sogenannten "westlichen Kultur". Es reiche eben nicht viele Jahrhunderte und Jahrtausende zurück und stelle etwas "Natürliches" dar – stattdessen habe unsere moderne Vorstellung von der "westlichen Kultur" ihre heutige Gestalt erst weitgehend im Kalten Krieg angenommen:
"In der Kälte des Kampfes zimmerten wir eine Großerzählung zusammen, die von Platon über die athenische Demokratie, die Magna Charta, die kopernikanische Revolution bis hin zur NATO reichte. Die westliche Kultur war danach im Kern individualistisch, demokratisch und freiheitlich gesinnt, tolerant, fortschrittlich, rational und wissenschaftlich. Da störte es auch nicht, dass Europa in vormodernen Zeiten nichts von alledem gewesen war und die Demokratie in Europa bis zum letzten Jahrhundert die Ausnahme gebildet hatte, über die nur einige wenige Anhänger des westlichen Denkens etwas Gutes zu sagen wussten."
Wie auch in dieser Konzeption einer "westlichen Zivilisation" beruhen Identitätskonstruktionen laut dem Autor auf drei Tendenzen: zum einen auf Kategorisierung, also darauf, dass Menschen sich und andere in ein "Wir" und ein "Sie" einteilen; des Weiteren darauf, dass Identitäten Machtstrukturen festigen; und vor allem auf dem Gefühl der Bedeutung, die Identitäten stiften und die den normalen Alltag prägt. Kwame Anthony Appiah interpretiert beispielsweise die Identität, die viele Menschen aus der Religion generierten, nicht vorrangig als den Glauben an eine heilige Schrift. Viel wichtiger seien stattdessen das Gefühl der Gemeinschaft und die religiösen Normen, denen sie folge. Dadurch entstünden mannigfache Ausprägungen derselben Religion und komplexe Gefüge zwischen Individuen und verschiedenen Gruppen.
Komplexe Gebilde
Ein anderes Beispiel für die Komplexität von Identitäten ist für Kwame Anthony Appiah der Fall der Ewe. Ewe ist eine Selbst- und Fremdzuschreibung, die auf der Ewe-Sprache basiert, die vor allem in Teilen Ghanas, Togos und anderen Ländern Westafrikas gesprochen wird:
"Sind Sie zum Beispiel ein Ewe, falls nur ein Elternteil Ewe ist und Sie niemals einen der zahlreichen Ewe-Dialekte erlernt haben? Spielt es angesichts der patrilinearen Abstammung bei den Ewe eine Rolle, ob dieses Elternteil nicht Ihr Vater, sondern Ihre Mutter ist?"
Die vielen Beispiele, mit denen Kwame Anthony Appiah seine Thesen zu belegen sucht, sind bis zu einem gewissen Punkt sehr unterhaltsam und horizonterweiternd. Das liegt vor allem daran, dass der Autor aus unterschiedlichen Kulturen und historischen Kontexten schöpft und auch seine eigene kosmopolitische Biografie des Öfteren einbringt. Allerdings führt dieses Sammelsurium an Anekdoten dazu, dass die Lektüre streckenweise ermüdet. Dabei ist nicht immer schnell ersichtlich, was Appiah eigentlich zu sagen versucht. Auch präsentiert er Erkenntnisse, die mittlerweile zum Konsens der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung gehören – zum Beispiel der Gedanke, dass das Konzept von Nation nicht auf einer wie auch immer gearteten Abstammung beruht, sondern vor allem auf Erzählungen.
Dialog statt Determinismus
Auch wenn etwas weniger Deskription und dafür mehr Analyse wünschenswert gewesen wäre – für die aktuellen politischen Debatten sind die übergeordneten Thesen Appiahs tatsächlich sehr passend: Eindrucksvoll belegt der Philosoph, dass Identität niemals Determinismus bedeutet, sondern vor allem Interpretation; dass man sich aber auch nicht beliebig seine Identitäten aussuchen könne; und dass Identitäten sehr viel Unheil anrichten, dass wir aber letztendlich trotzdem nicht auf sie verzichten könnten:
"Das Problem sind nicht Mauern schlechthin, sondern solche, die uns einengen, bei deren Bau wir keine Rolle spielen. Mauern ohne Türen und Fenster, Mauern, die uns die Sicht und den Weg versperren, Mauern, die keine frische, belebende Luft hereinlassen."
Für Kwame Anthony Appiah beinhalten diese Mauern also durchaus auch das Potential zu individueller Vernetzung, politischer Aktion und gesellschaftlicher Partizipation. So sieht er Kultur beispielsweise als ein "Projekt" an. Sie sei "ein Prozess, an dem man sich beteiligt, indem man mit anderen zusammenlebt".
Genau in diesem Gedanken liegt die Stärke des Buches begründet: in der Erkenntnis nämlich, dass sich die eigenen und auch die kollektiven Identitäten im Dialog mit anderen ständig aktualisieren – und in dem Appell, dass wir für diese sozialen Prozesse Verantwortung tragen und ihr gerecht werden müssen.
Kwame Anthony Appiah: "Identitäten. Die Fiktion der Zugehörigkeit",
Hanser Berlin, aus dem Englischen von Michael Bischof, 336 Seiten, 24 Euro.