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Labyrinthische Bewusstseinsströme und Träume

Das literarische Ausmessen von Innenräumen im Kopf ist von Beginn an prägend für Ernst Augustins literarische Erkundungsreisen. Auch wenn sein neuer - und nach eigenem Bekunden letzter Roman - vom Tod handelt, zu spät ist es für eine Entdeckung der Romane des 84-jährigen Schriftstellers nicht.

Von Hajo Steinert | 30.04.2012
    Er kommt in Gestalt eines Gerippes, eines Clowns, eines Sensemanns. Er trägt Knochen, Masken oder Umhänge in Schwarz. Seine Verkleidungen sind äußerst mannigfaltig. Mal ist er zum Fürchten, mal zum Lachen, mal zum Weglaufen. Ein herrlicher Maskenball wäre das, ein barockes Fest, wenn wir in einem Saal eine literarische Gesellschaft mit Figuren versammeln könnten, die alle nur einen verkörpern: den Tod.

    Die Literatur ist bekanntlich voll von unterschiedlichsten Todesdarstellern. Ein besonders gütiger und geduldiger Vertreter dieser Spezies tritt in Ernst Augustins neuem Roman gleich auf der ersten Seite auf und gibt das Tempo an: "Der Tod kommt in Gestalt eines freundlichen kleinen Herrn, der mir im Zug nach Grevesmühlen gegenübersitzt, und er kommt auch nicht sofort, vielmehr lässt er mir Zeit, meine Angelegenheiten zu regeln."

    Zu diesen Angelegenheiten zählt vor allem die Hinterlassenschaft eines "beträchtlichen Erbes". Es geht auch nach dem Tod immer weiter ums Geld. Und, wie der Erzähler in Ernst Augustins Roman hurtig hinzufügt:
    "Nicht zu reden von Goldbeständen, dem Barren-, Münz- und Feingold, sowie den zugehörigen Geheimcodes für die Schließbanken in Zürich."

    Aber ehe unser vom Tode begrüßter Held seine eigentliche Hinterlassenschaft geregelt hat – die Fertigstellung des Romans – ehe es in vergleichsweise friedliche Gefilde geht und der Tod aus dem Leben gelöscht wird - weil er es sich erlaubt hat, einfach einzutreten – ehe all dies geregelt ist, müssen noch allerhand Abenteuer über die Grenzen von Grevesmühlen in Mecklenburg und Zürich hinaus bestanden werden. Sei es in London, New York, Lüttich, an der Ostsee, an der Südsee, in einer Tauchglocke oder in einem Internetcafé - es werden tausende von Kilometern in diesem Buch zurück gelegt.

    Der weiteste Weg ist der zurück in die Kindheit. Kindergeburtstage werden gefeiert. Der strenge Vater des Erzählers steht herum überall. Bevor unserem Helden die Totenmaske aufs Gesicht gelegt wird, ist er unterwegs. Und zwar heftig. Er ist aus dem Holze Daniel Defoes geschnitzt, sein Name ist Robinson. Er lebt in einem blauen Haus. Blau ist nicht nur die Farbe der Romantik, sondern auch des Surrealismus.

    In Wahrheit findet Augustins Robinsonade nur im Innern des Hauses statt, eines verwunschenen, eines verwinkelten, windschiefen Hauses, den verwunschenen, verwinkelten, windschiefen Gedanken des Buches angemessen. Als Schriftsteller ist der Autor ein Architekt. Ernst Augustin schreibt, um Räume einzurichten. Imaginäre Räume, wohlgemerkt. Das ganze Unterwegssein im Roman findet nur im Kopfe des Todgeweihten statt. (Die Künstlerin Inge Augustin, seit 1953 mit Ernst Augustin verheiratet, hat dieses Motiv für den Umschlag des Buches in einer eindrucksvollen Zeichnung dargelegt.)

    In seinem Kopf eine Insel zu finden, ein Zuhause, eine Wohnung, in der es sich vom lebenslangen Getriebenwerden ausruhen, wo es dem Tode stoisch entgegen sehen ließe, wo man am Ende einen "eigenen Tod", von dem schon Rainer Maria Rilkes Romanheld Malte Laurids Brigge in einem Pariser Hotelzimmer geträumt hat, sterben kann – das ist es, um das es in dieser eigenartigen Variante eines Psychothrillers geht.

    In "Robinsons blaues Haus" werden "Zimmerreisen" unternommen, wie sie der Literaturwissenschaftler Bernd Stiegler in seiner Untersuchung "Rasender Stillstand" mit großem Überblick über die Literaturgeschichte rekonstruiert hat und beschreibt. Und wie es sich für einen Roman, der in bester Tradition des Surrealismus steht, gehört, bietet er keine Fabel an, die sich locker nacherzählen ließe. Es sind Bewusstseinsströme, Träume, die labyrinthisch durch den Roman fließen wie das Blut in den Adern, ehe die Gefäße sich verdicken und alles zum Stocken kommt. Die Sprache des literarischen Hausbesuchs ist schwebend. So schwebend, wie die merkwürdigen Damen, von denen zu schwärmen der Erzähler nicht aufhören will. Grelle Farben blitzen auf und schrille Musik ertönt. Eine Lektüre, die das Gemüt des Lesers erhitzt.

    Der 84-jährige Schriftsteller Ernst Augustin ist seit drei Jahren blind. Sein eigenes Haus in München kann er ohne Hilfe nicht mehr verlassen. In einem Interview sagte er neulich zu seinem Roman:

    "Ich habe mir viele Räume geschaffen. Es ging mir darum, der eigenen Existenz eine Form zu geben, dreidimensional. Und jetzt, in meiner Blindheit, ist dieses Haus hier mein ganzes Leben. Dies ist meine Welt, sie ist nicht mehr größer."

    Dass der Schriftsteller mehr als wir Sehenden von seiner Vorstellungskraft lebt, erklärt nicht alles. Das literarische Ausmessen von Innenräumen im Kopf ist von Beginn an prägend für Ernst Augustins literarische Erkundungsreisen. Einer wie er, der über "Das elementare Zeichen bei den Schizophrenen" vor 60 Jahren promoviert hat, der als Arzt in der Berliner Charité, in Nervenkliniken in Afghanistan und in München als Psychiater gearbeitet hat, muss etwas von den Seelen der Menschen verstehen.

    In Romanen wie "Der Kopf" (1962), "Der Fall Evelyn B." (1976) oder "Raumlicht" (2004) hatte der landauf, landab – trotz einiger bedeutender Literaturpreise – noch nicht genug gewürdigte Autor schon unter Beweis gestellt, dass er der große Seelenkundler der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart ist. Auch wenn sein neuer und nach eigenem Bekunden letzter Roman vom Tod handelt – zu spät ist es für eine Entdeckung seiner Romane nicht. Im Verlag C.H. Beck war aus Anlass seines 80-jährigen Geburtstages eine achtbändige Werkausgabe erschienen. Doch jetzt wagen wir uns erst mal voller Abenteuerlust und Todesmut in "Robinsons blaues Haus".

    Ernst Augustin: Robinsons blaues Haus. Roman. Verlag C.H. Beck, München 2012, 319 S., Euro 19,95