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Ländliche Idylle ist etwas anderes

Die oberösterreichische Landschaft, Landwirtschaft und eigenbrötlerische Figuren und eine gewisse Weltabgewandtheit prägen die Bücher von Reinhard Kaiser-Mühlecker. Ein Jahr nach seinem Debüt erschien jetzt "Magdalenaberg" - eine schwierige Geburt.

Von Detlef Grumbach | 25.01.2010
    Joseph sitzt in seiner Wohnung und wälzt Gedanken. Langsam tropft der Wasserhahn. Eine unendliche Langsamkeit in den Beobachtungen und den wenigen Handlungen, im Denken, im Sprechen prägt diesen Roman. Kein äußeres Geschehen bestimmt seinen Verlauf, sondern kleine, beinahe banale Denkanstöße, die sofort einen mächtigen Bewusstseinsstrom in Gang setzen. Seine Freundin Katharina hat ihn verlassen. Was hat dein Bruder für dich bedeutet, hatte sie von ihm wissen wollen. Warum erzählt er nichts von ihm? Keine Antwort. Stattdessen kreisen die Gedanken, stellen sich Assoziationen ein, Bruchstücke von Erinnerungen, hebt ein schweigsames, bohrendes Nachdenken die Figur und den Leser aus der Zeit heraus, lassen sie schweben.

    "Irgendetwas muss, wie soll man sagen, in der Vergangenheit sein, irgendein Ereignis, das man zwar als Ereignis wahrnimmt, also registriert, aber doch nicht in seiner ganzen Konsequenz erfasst."
    Eigentlich hatte Joseph es geschafft. Der wortkarge Bauernsohn ist Anfang dreißig, raus gekommen aus der Enge Pettenbachs, seines österreichischen Heimatortes, hat studiert. Auf dem Küchentisch liegt das Quartheft, in das er Notizen für seine Examensarbeit machen will. Und doch zerbröseln Gegenwart und Zukunft, hat Katharina ihn verlassen, weil er nicht über sich spricht, weil ihm das Fundament fehlt. Der plötzliche Tod seines Bruders Wilhelm hat ihm das bewusst gemacht.

    "In dem ganzen Buch versucht der, sich zu erinnern oder versucht der dem Problem nachzugehen, warum ihm viele Erinnerungen an den Bruder abhandengekommen sind oder gar nicht existieren, die eigentlich da sein müssten. Und gleichzeitig wird aber davon geredet, dass die Frau jetzt weggegangen ist und erst zum Schluss des Buches hin wird ihm ja bewusst, dass sich mit der Frau da ja wiederholt in gewisser Weise, dass da wieder etwas passiert ist, dass er gar nicht in seiner ganzen Konsequenz bemerkt hat. Oder verstanden hat."
    Weg von zu Hause hatten beide Brüder gewollt, doch Joseph hat sich mit dem Gedanken gequält. "Zu Hause ist Arbeit genug." oder "Mit den Viechern kannst du auch Deutsch reden." – so wurde sein Wunsch nach dem Studium kommentiert. Er musste darum kämpfen und hatte doch längst aufgegeben, sich durchsetzen zu wollen. Wilhelm dagegen, vier Jahre jünger, war souverän, ist einfach gegangen. Wenn er mal eine Postkarte nach Hause geschrieben hat, dann zeigte sie nicht den Ort, an den es ihn gerade verschlagen hatte, sondern, wie zum Hohn, Pettenbach, dieses Zuhause, dass er hinter sich gelassen hatte. Das war seine Art von Humor, er ist Joseph ähnlich und doch ganz anders, in ihm liegt der Schlüssel zur Erkenntnis seiner selbst. Doch diesen Wilhelm hat er schon als Kind nicht greifen können – und jetzt sind auch noch die Erinnerungen an ihn verschwunden. "Wie viele Jahre seid ihr auseinander gewesen?" – die einfache Frage eines Freundes führt ihn von einem Kindheitserlebnis zum anderen – doch der Bruder kommt nicht vor in ihnen. Die Frage bleibt im Raum, viel später kommt er darauf zurück.

    "Magdalenaberg" ist der zweite Roman des jungen österreichischen Autors Reinhard Kaiser-Mühlecker. In "Der lange Gang über die Stationen" erzählt er die Geschichte eines Bauern, der auf eine solche Weise verwurzelt ist in der Landschaft, in der Tradition der Familie, des Dorfes, dass Veränderungen ihn kaum erreichen. Irgendwie spürt er sie, doch begreifen tut er sie nicht, sie bedrohen ihn auch da, wo sie Freiheit und Zukunft versprechen. Ihn zieht es immer wieder auf die Anhöhe über dem Hof, wo er auf einem Holzstapel sitzt, die Blicke schweifen lässt und mit einer stoischen Ruhe zuschaut, wie sich seine Frau, sein Hof, sein ganzes Leben verflüchtigen. Ländliche Idylle ist etwas anderes. Auch Joseph hat so einen Ort, an den es ihn immer wieder zieht: die Friedhofsmauer auf dem Magdalenaberg. Hier hat er schon als Kind gesessen, die nackte Ferse an dem Stein gerieben. Das hat er nie vergessen. Doch nicht Nostalgie treibt ihn hierhin, sondern Ratlosigkeit.

    "Solche Dinge sind ja oft eindringlich und man merkt sie sich. Also da hätte es vielleicht mehrere Dinge gegeben, die man da benennen hätte können, aber das zum Beispiel war eben eines, weil der da oben immer wieder sitzt auf diesem Magdalenaberg und sich erinnert. Und da denkt er eben, warum erinnere ich mich an so vieles überhaupt nicht, wo hingegen ich mich an dieses Gefühl, also dieses Reiben mit der Ferse an der Mauer. Also es könnt ja irgendetwas sein, aber warum das, was ja eigentlich nicht wichtig sein müsste. Und an andere Dinge, die eigentlich sich viel mehr als Fragen aufdrängen, warum sind die nicht da, als Bilder, als Sequenzen, als Erinnerungen, irgend so etwas."
    In seinem ersten Roman hat der knapp dreißigjährige Autor, dessen Landschaftsbeschreibungen mit denen Stifters verglichen werden und der sich in einer gewissen Nähe zu Arnold Stadler bewegt, das äußere Geschehen beschrieben, in dem ein Mensch sich verliert. Es wurde von der Kritik hochgelobt und mit dem Jürgen-Ponto-Preis ausgezeichnet. Das zweite Buch, so hatte man ihm vorsichtshalber mitgeteilt, würde sowieso durchfallen. Ihm hat das die Freiheit gegeben, ein Wagnis einzugehen, bei dem er zwar wusste, was er wollte, aber nicht, wie er es erreichen würde. Er verkehrt die Perspektive, erforscht über immer neue Versionen und Versuche die ihm fremde Innenansicht einer Figur, die sich verloren hat, die den Weg zurück zu sich finden muss, weil sie sonst untergeht.

    "Und das war eigentlich das Schwierige, mit einem Text zu arbeiten, wo man denkt: Es ist noch nicht das Wesentliche da. Das musste sich erst durch das viele Schreiben heraus schälen. Das war beim ersten Buch ganz anders. Da wusste ich, wie es beginnt, da wusste ich, wie es endet, da gab es eine richtige Handlung, einen richtigen Bogen. Und der ist hier durch die vielen Rückblenden, durch die Erinnerungen, gar nicht so gegeben."
    Das Ergebnis dieser Schreibarbeit zieht den Leser in seinen Bann. Fern ab von allen möglichen Aktualitäten des modernen Stadtlebens lässt der Autor ihn an Josephs knirschenden, teils schemenhaften, manchmal auch komischen Gedankengängen, an dem ganz unspektakulären ersuch einer Selbstvergewisserung teilhaben, der gerade wegen seiner Entrücktheit ohne Umwege an einen universellen Kern der menschlicher Existenz rührt. Wie funktioniert Erinnerung? Wie funktioniert Verdrängung? Welche Rollen spielen der spät erst angedeutete Verrat am Bruder, am besten Freund? Welche das Sprechen, die Sprachlosigkeit, das Schweigen? Woran kann er sich halten? "Magdaleneaberg" gibt keine Antwort. Der Roman zeigt ein Puzzle im Kopf dieses Joseph, das noch kein fertiges Bild ergibt, das aber seinen Willen zur Veränderung um so kraftvoller erahnen lässt.

    "Es ist bestimmt so, dass etwas in seinem Denken sich verändert. Er beschließt ja, dass er dieser Frau Katharina einen Brief schreibt,zum Beispiel. Er beschließt ab sofort, dass er nichts mehr verlieren möchte, er will nicht, dass etwas verschwindet, oder nicht noch mehr verschwindet, wo ja ständig alles verschwindet."

    Reinhard Kaiser-Mühlecker: "Magdalenaberg", Roman, Hoffmann & Campe 2009, 192 Seiten, EUR 19,99