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Lage in Mossul
"Es wird eine Welle von Flüchtlingen geben"

Die IS-Terrormiliz soll aus der irakischen Stadt Mossul vertrieben werden, eine Militäroffensive steht bevor. Eine neue Flüchtlingswelle nach Europa könne nur mit Hilfe vor Ort verhindert werden, meint Nihad Qoja, der Bürgermeister der benachbarten Stadt Erbil. Ein endgültiges Aus des IS sieht er auch nach einer Vertreibung aus Mossul nicht.

Nihad Qoja im Gespräch mit Martin Zagatta | 15.10.2016
    Qoja sagte im Deutschlandfunk, schon jetzt gebe es in der Region zwei Millionen Flüchtlinge aus dem Irak und aus Syrien. Wenn jetzt - wie erwartet - 700.000 weitere hinzukämen, müssten die internationalen Hilfsorganisationen ihre Aktivitäten im Kurdengebiet verstärken. Nur die Unterstützung vor Ort verhindere, dass die Menschen sich auf den Weg nach Europa machten, so Qoja. Weiter betonte er, die IS-Miliz werde Mossul nicht kampflos aufgeben. Die Beteiligung der türkischen Truppen an der Offensive halte er für hilfreich.
    Mit Blick auf die politische Zukunft seines Landes plädierte Qoja dafür, die sunnitische Bevölkerung im Irak stärker an der Macht zu beteiligen. Der IS sei nur deshalb so stark geworden, weil die Zentralregierung in Bagdad die Sunniten als Menschen zweiter Klasse behandele.

    Das Interview in voller Länge:
    Martin Zagatta: Wird die Terrororganisation, die sich Islamischer Staat nennt, jetzt endlich aus Mossul, aus ihrem Hauptquartier im Irak vertrieben? Der Sturm auf die zweitgrößte Stadt des Landes soll unmittelbar bevorstehen, was im nahegelegenen Kurdengebiet natürlich mit großer Spannung verfolgt wird. Erbil, die Hauptstadt des autonomen Kurdengebiets im Nordirak liegt nur wenige Kilometer von der Front entfernt, und bis Mossul sind es etwa 80 Kilometer. Nihad Qoja ist der Bürgermeister von Erbil, er hat einst nach seiner Flucht aus dem Irak lange Jahre in Bonn gelebt und ist im Moment dort auch auf Besuch bei seiner Familie. Dort erreichen wir ihn jetzt auch. Guten Morgen, Herr Qoja!
    Nihad Qoja: Guten Morgen!
    Zagatta: Herr Qoja, dass der Sturm auf Mossul, dass die Vertreibung des Islamischen Staats dort unmittelbar bevorsteht, das haben wir schon mehrfach gehört. Wie sind denn da Ihre Informationen jetzt an diesem Wochenende? Ist es jetzt soweit?
    Qoja: Es ist so weit, die Vorbereitungen laufen seit Monaten. Diese Offensive oder Befreiungsaktion in Mossul ist eigentlich nicht so einfach, weil Mossul die zweitgrößte Stadt des Irak ist, dort leben circa 2,5 Millionen Menschen. Daher wird dieser Sturm nicht so einfach laufen. Wir hoffen natürlich, dass diese Stadt mit wenigen Opfern wieder befreit wird. Außerdem es wird es eine Welle von Flüchtlingen Richtung kurdischem Gebiet geben.
    Ein Milizionär mit Fernglas und ein weiterer mit einem Maschinengewehr blicken über eine Mauer aus Sandsäcken. Beide tragen Tarnuniformen.
    Peschmerga-Kämpfer in der Nähe von Mossul. (dpa/ picture alliance/ Ahmed Jalil)
    Zagatta: Sind denn die Peschmerga, die kurdischen Truppen, gemeinsam mit der irakischen Armee und auch mit internationaler Unterstützung, sind die jetzt denn stark genug, glauben Sie das, den Islamischen Staat da aus Mossul zu vertreiben?
    Qoja: Ja, wenn man in den letzten Monaten den Verlauf des Krieges beobachtet hat, die Peschmerga haben viele Gebiete wieder zurückerobert, und der sogenannte Islamische Staat ist zurückgedrängt worden. Sie haben viele große Städte wie Ramadi, Salah ad-Din, Tikrit und andere Gebiete verloren. Zurzeit ist der IS nur in Mossul, da ist es die letzte Bastion, die er verlieren wird.
    Zagatta: Gehen Sie denn davon aus, dass der Islamische Staat, wenn die Kräfteverhältnisse sich so gewandelt haben, dass der Islamische Staat Mossul dann noch ernsthaft verteidigen kann, denn wenn das passiert – Sie haben es ja angedeutet, das ist eine Großstadt –, dann würden das ja vermutlich doch sehr blutige Kämpfe?
    Qoja: Ich glaube, wir gehen davon aus, dass es blutige Kämpfe geben wird, vor allem, das ist die letzte Bastion des IS. Andersrum haben die irakischen Truppen und Peschmerga und Alliierten den Westteil der Stadt offengelassen, damit es die Möglichkeit gibt, dass sie sich zurückziehen ohne Kämpfe, aber ich glaube nicht, dass der IS so einfach dort aufgibt, weil die wissen, dass es die letzte Chance für sie ist und die letzte Stadt, die sie noch unter Kontrolle haben.
    Mehrere Menschen tragen Kleinkinder und Gepäck, am Bildrand sieht man ein Auto.
    Irakische Flüchtlinge fliehen aus Mossul nach dessen Eroberung durch den IS. (picture alliance / dpa / Foto: Emrah Yorulmaz/Anadolu Agency)
    Zagatta: Im Irak. Wenn dieser Angriff beginnt, dann rechnet die UNO mit mindestens 700.000 neuen Flüchtlingen, von denen ja sehr viele auch zu Ihnen dann in das Kurdengebiet kommen werden. Ist das für Sie zu bewältigen, oder droht dann erst einmal eine Katastrophe?
    Qoja: Das ist eine große Belastung, da wir seit mehr als zwei Jahren noch viele Binnenflüchtlinge hatten, syrische Flüchtlinge, circa zwei Millionen Flüchtlinge, und dazu kommt jetzt, wie Sie gesagt haben, zwischen einer halben Million und vielleicht 700.000 zusätzliche Flüchtlinge. Wir haben zwischen Mossul und Erbil – das sind Gebiete, die in letzten Monaten befreit worden sind – neue Flüchtlingslager aufgebaut, und vielleicht werden wir diese Flüchtlinge dort auffangen, bis die Stadt befreit wird, damit die Leute wieder so schnell wie möglich in ihre Häuser zurückkommen.
    Zagatta: Kann man denn so viele Menschen, also hunderttausende weiterer Flüchtlinge, dort unterbringen? Der Winter steht bevor, und es wird ja auch schon kühl in dieser Region. Wie wollen Sie das schaffen?
    Qoja: Wir wissen nicht, ob wir das schaffen oder nicht. Das ist Krieg, und gehen wir davon aus, dass so viele Flüchtlinge diese Gebiete aufsuchen. Wie gesagt, die Vorbereitungen laufen seit Monaten, und das ist eine gute Gelegenheit, um einen Appell hier zu verbreiten, dass die Hilfsorganisationen ihre Hilfe Richtung irakisches Kurdistan mobilisieren. Man sagt immer, bevor die Leute nach Europa sich bewegen, es ist besser, wenn man diesen Leuten vor Ort Hilfe leistet, damit die Leute die Möglichkeit haben und Perspektive haben für die Zukunft, um dort zu bleiben.
    Zagatta: Hilft Ihnen denn auch die irakische Regierung, die Regierung in Bagdad? Zu der haben Sie oder haben die Kurden ja kein besonders gutes Verhältnis.
    Qoja: Das ist richtig. Also in den letzten zwei, drei Jahren, hat die irakische Regierung gegen Kurdistan, also die kurdische Regionalregierung, eine Blockade eingerichtet. Die hatten unseren Teil am Haushaltsbudget gestoppt, und auch die Hilfsgüter, die aus Bagdad kommen sollten, haben die auch blockiert. Aber jetzt seit einem Monat, nachdem der Präsident Bassani Bagdad besucht hat, gibt es neue Abkommen zwischen der Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung unter der Vermittlung der USA und der Westalliierten. Jetzt läuft die Zusammenarbeit zwischen beiden Regierungen wieder, und Bagdad wird diese Hilfe nicht mehr blockieren.
    Zagatta: Die Regierung in Bagdad, so hört man, ist auch besonders verärgert, weil türkische Truppen im Nordirak, also in Ihrem Kurdengebiet sind, und sich an dieser Offensive beteiligen sollen oder wollen. Bagdad will die Türken aus dem Land weisen. Belastet das diese Offensive?
    Ein zerstörtes Haus in Mossul nach einem Bombenanschlag.
    Vom Krieg gezeichnet: Zerstörungen in Mossul (dpa / Mohammed Al-Mosuli)
    Qoja: Ich glaube nicht, dass diese Offensive dadurch belastet wird. Man muss auch eins sagen: Damals, als der IS Mossul eroberte, hat die irakische Regierung selbst die türkische Regierung um Hilfe gebeten, um Polizisten auszubilden. Dieses Abkommen wird jetzt natürlich vom Irak abgestritten. Ich glaube nicht, dass es zu großen Problemen kommt, da diese türkische Einheit, meine ich, eine sehr, sehr kleine Einheit um die Stadt Bashiqa ist, eine naheliegende Stadt um Mossul. Dort haben die in den letzten zwei Jahren arabisch-sunnitische Milizen ausgebildet.
    Zagatta: Herr Qoja, wenn es gelingt, den IS, den Islamischen Staat, da jetzt aus Mossul zu vertreiben, ist das dann das Ende dieser Terrororganisation im Irak oder ist das dann nur ein Rückschlag für den IS?
    Qoja: Ich glaube nicht, dass durch militärische Aktionen überhaupt diese Ideologie bekämpft wird. Man muss auch nach dem Krieg damit rechnen, dass der IS noch Kräfte hat, Menschen zu mobilisieren. Man muss auch mit anderen Mitteln gegen den IS kämpfen. Vor allem die Beteiligung der sunnitischen Bevölkerung im Irak an der Macht und auch die Teilnahme dieser Gesellschaft an der Macht im Irak. So kann man den IS bekämpfen. Der IS hat Boden gewonnen, weil die Zentralregierung im Irak die Mehrheit der sunnitischen Bevölkerung als Menschen zweiter Klasse behandelt hat.
    Zagatta: Nihad Qoja war das, der Bürgermeister von Erbil im Kurdengebiet im Nordirak, der Hauptstadt des Kurdengebietes dort im Nordirak. Herr Qoja, ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch!
    Qoja: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.