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Lagebericht von der Alster

In Hamburg wächst der erste sogenannte G8-Jahrgang mit dem Abitur nach zwölf Jahren heran. Parallel dazu machen aber auch Schüler nach 13 Jahren ihren Abschluss. Dies führt zwangsläufig zu Problemen beim Studienplatz- und Lehrstellenangebot. Zwar sei es noch zu früh, eine Bilanz zu ziehen, sagen die Behörden - doch die Schülerinnen und Schüler sind verunsichert.

Von Verena Herb | 21.11.2009
    "Also ich musste jetzt alle meine Hobbies aufgeben, weil ich dafür keine Zeit mehr habe. Dass ich nur noch ab und zu zum Fitness gehe, um nicht vollends auf den Sport verzichten zu müssen."

    "Dass ein Jahrgang jetzt die verkürzte Schulzeit sozusagen ausprobiert, und der danach gleich noch was Neues ausprobiert... und jetzt kommen auch noch sechs Jahre Grundschule, und das geht einfach alles drunter und drüber, was die sich da die ganze Zeit ausdenken, um irgendwie die Pisa-Studie zu verbessern. Und ich weiß nicht, ob das alles anschlagen wird, wenn sie andauernd etwas Neues versuchen. Und nicht das, was sie jetzt gerade zum Anlaufen gebracht haben, erst einmal ausprobieren für ein oder zwei Jahre."

    Sara Guttau und Corinna Bock, beide 17 Jahre alt, beide Abiturientinnen, werden ihren Abschluss in Turbo-Zeit machen - als erster sogenannter G8-Jahrgang in Hamburg nach Klasse zwölf. Um eine erste Bilanz zu ziehen sei es noch zu früh, sagt Christian Gefert, Grundsatzreferent für die Entwicklung und Gestaltung der Gymnasien bei der Hamburger Schulbehörde:

    "Grundsätzlich kann man natürlich sagen, dass man durch die Verkürzung der Schulzeit eine erhebliche Verdichtung der Zeit in den anderen Jahren hat. Da muss man sagen, das ist eine Sache, die man dann irgendwann auch noch mal bilanzieren muss. Wie wirkt sich diese Verdichtung aus auf das Lernen?"
    2010 wird der erste Doppeljahrgang, also zwei Jahrgänge - die einen nach Klasse zwölf, die anderen nach 13 Schuljahren - Abitur machen. Was zu Problemen führen wird, wenn man sich Studienplatz- und Lehrstellenangebot ansieht:

    "Wir haben ne ganze Reihe von Anstrengungen unternommen in der Kommunikation hier in Hamburg, mit den Kammern beispielsweise, oder eben mit der Wirtschaft im Allgemeinen. Aber auch mit den Hochschulen. Das ist gerade für Hamburg jetzt eine Situation wo man sagen kann: Hier vor Ort wird das sicherlich als sehr großes Problem empfunden. Wenn man es dann bundesweit sieht und wenn sieht, dass viele Schülerinnen und Schüler sich nach dem Abitur für ein Leben in einer anderen Stadt entscheiden, dann kein so großes Problem."
    Doch müssen sich die Oberstufenschüler nicht nur auf das Turbo-Abitur einstellen - hinzu kommt auch in Hamburg auch die Einführung der sogenannten Profiloberstufe. Das heißt, es werden keine Grund- oder Leistungskurse mehr gewählt, sondern einzelne Profile.

    "Bedauerlicherweise bin ich davon betroffen, denn das ist meiner Meinung nach der größte Schwachsinn. Da kaum jemand die Fächer bekommt, die er eigentlich wählen möchte, und damit eigentlich auch seine Berufschancen, das zu werden, was man will - die Fächer, die man dann auch wählen muss, um diesen Beruf erlernen zu können, eigentlich kaum möglich sind. Weil einem total vorgegeben ist, was man wählen muss in welchen Kombinationen."
    Nicht nur G8 und Profiloberstufe sind die reformpolitischen Neuerungen, auf die sich Hamburgs weiterführende Schulen einstellen müssen: Unter dem neuen Schwarz-grünen Senat geht es weiter mit dem reformieren: Einführung der Primarschulen, das heißt die Verlängerung der Grundschule auf sechs Jahre, Abschaffung von Haupt- und Realschule und Einführung von sogenannten Stadtteilschulen... Hamburg steckt im Schulreform-Wahn meinen viele der Bürger in der Hansestadt.

    Die Schüler müssen sich seit Jahren mit der Reformwut der Vergangenheit herumschlagen, meint Wolf Achim Wiegand. Mitglied des Elternrats am Gymnasium Blankenese:

    "Wir haben gerade Schulreformen hinter uns, das 13. Schuljahr wurde abgeschafft und die Profiloberstufe für Gymnasien wurde eingeführt. Beides ist noch nicht verdaut und muss erstmal bewältigt werden. Und schon kommt jetzt eine grundlegende Veränderung."
    Das Ergebnis des Volksbegehrens "Wir wollen lernen", das insgesamt fast 185.000 Stimmen gegen die schwarz-grünen Reformpläne gesammelt hat, ist ein deutliches Signal. Die Initiative hat in erster Linie gegen die Einführung der Primarschule, das längere gemeinsame Lernen bis Klasse sechs mobil gemacht - doch es wurde klar, hier wurde dem allgemeinen Unmut über die zahlreichen Reformen in Hamburg Luft gemacht. Nicola Bührk hat auf der Straße für die Initiative "wir wollen lernen" geworben und Unterschriften gesammelt - ihre Erfahrungen waren…
    "… , dass die Leute es satt hatten, entmündigt zu werden. Dass ihnen etwas aufgepfropft wird, das war ein ganz klares Gefühl. Dass es eine Reform ist, die einfach über´s Knie gebrochen wird, das kam immer und immer wieder."

    Also: Ganz schön viele Reformen für so ein kleines Bundesland?

    "Ich denke, grundsätzlich muss man sagen, dass Schule ja ein System ist, das davon lebt, dass es sich weiterentwickelt. Also die Vorstellung einer Schule, die einmal so ist, und auf ewig so bleibt, die würde für eine demokratische, offene Gesellschaft aus meinem Verständnis her nicht passend sein. Mein Eindruck ist, dass es erst einmal sinnvolle Reformen sind."
    Zwar sind die Einführung von Turbo-Abitur und Profiloberstufe erst einmal nicht mehr rückgängig zu machen, doch könnte sich bei der Einführung von Primar- und Stadtteilschule noch einiges ändern. Durch den Erfolg des Volksbegehrens steht im Sommer 2010 ein Volksentscheid an. Der ist im Bundesland Hamburg verbindlich. Was bedeutet: Spricht sich die Mehrheit gegen die Primarschul-Pläne des schwarz-grünen Senats aus, dann wäre die tief greifendste Schulreform seit Gründung der Bundesrepublik in Hamburg damit passé.