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Land der wählenden Toten

Mit dem Problem von Karteileichen haben moderne Bürokratien immer wieder zu kämpfen. In Portugal haben verstorbene Bürger jedoch einen weit größeren Einfluss als erwartet. Sie stellen Rezepte aus, gehen zum Arzt und blähen die Wählerlisten auf.

Von Tilo Wagner | 22.08.2011
    Über 90 Prozent der Portugiesen sind Katholiken und ein Großteil glaubt an ein Leben nach dem Tod. Doch dass die Verstorbenen nicht im Himmel, sondern im weltlichen Portugal weiter eine entscheidende Rolle spielen sollen, liegt den Gläubigen genauso fern wie den Atheisten. In der zentralportugiesischen Stadt Viseu untersucht die Kriminalpolizei nun einen schwerwiegenden Betrug, an dem die Toten unfreiwillig beteiligt waren. Längst verstorbene Ärzte stellten toten Patienten Rezepte aus, die vollständig vom Staat finanziert werden. Die Betrüger waren mit Hilfe von gefälschten Dokumenten und Unterschriften in den Besitz der personalisierten Aufkleber gekommen, die die Ärzte in Portugal auf ausgestellte Rezepte kleben müssen. Paulo Moreira, Professor am Institut für öffentliches Gesundheitswesen in Lissabon, erklärt, dass Fälscherbanden so große Gewinne einstreichen können:

    "Die Betrüger verdienen praktisch doppelt. Sie lassen sich die Medikamentenrechnung bei den öffentlichen Stellen erstatten; und sie verkaufen dann die kostenlos erworbenen Medikamente auf dem Schwarzmarkt."
    Der portugiesische Staat gibt jährlich rund drei Milliarden Euro für Medikamente aus – das sind fast zwei Prozent des Bruttosozialproduktes. Laut dem Reform- und Sparplan, den Portugal mit der EU und dem IWF als Gegenleistung für ein milliardenschweres Rettungspaket ausgehandelt hat, müssen diese Kosten in den kommenden Jahren um knapp die Hälfte gesenkt werden. Der Betrug mit Ärzteaufklebern für Rezepte soll bald nicht mehr möglich sein, wenn ein elektronisches Verfahren die alten Vignetten ersetzt. Doch Gesundheitsexperte Moreira glaubt, dass der Missbrauch weitergehen wird, solange die Datenbank über praktizierende Ärzte nicht effizienter organisiert wird:

    "Es ist vor allem ein Versagen der öffentlichen Verwaltung. Denn selbst wenn das elektronische System kommt, ist der Betrug weiter möglich, solange es keine verlässliche Informationen gibt, welche Ärzte noch praktizieren und welche nicht."
    Auch in Portugals politischem System kommt den Toten eine unerwartet große Macht zu, weil die öffentliche Verwaltung versagt. Der Politologe Luís Humberto Teixeira hat in den vergangenen Jahren immer wieder Studien vorgelegt, die beweisen, dass die Anzahl portugiesischer Wahlberechtigter in Wirklichkeit um bis zu zehn Prozent niedriger ist als offiziell angegeben, darunter auch etwa 110.000 verstorbene Portugiesen, die von den lokalen Wahlbehörden nicht aus dem System genommen wurden. Und auch dahinter, so Teixeira, würden finanzielle Gründe stecken:

    "Die Lokalbehörden haben jahrzehntelang für jeden eingeschriebenen Wähler eine Transferzahlung von der Zentralverwaltung bekommen. Je mehr Wähler, um so mehr Zuschüsse. Wenn nun jemand von einem in den anderen Bezirk umzog oder jemand verstarb, verlor die Lokalbehörde Geld. Deshalb tat man so, als ob man von nichts wüsste, und ließ die Toten oder Weggezogenen in den Datenbanken stehen."
    Die Folgen der aufgeblähten Wählerlisten sind weitreichend. Zum einen liegt die Wahlbeteiligung in Portugal statistisch immer weit unter dem realen Wert, was mögliche zusätzliche Wähler demotivieren kann. Zum anderen kann das Stimmengewicht unterschiedlich groß sein, je nach dem wie viele der sogenannten "Geisterwähler" in den Bezirken existieren. Das portugiesische Innenministerium versucht seit Jahren, die Wählerlisten zu aktualisieren. Mit mäßigem Erfolg, sagt Luís Teixeira:

    "Die zuständigen Stellen wenden alle technischen Möglichkeiten an, um das Problem zu beheben. Doch das ist nicht ganz einfach. Denn Tag für Tag sterben Menschen, die wie die anderen 'Geisterwähler' aus dem System genommen werden müssen. Da die technische Lösung keine Ergebnisse bringt, muss eine politische Lösung her."

    Eine Idee ist, die bisher existierenden 20 Wahlbezirke aufzulösen und mit einer einzigen landesweiten Wahlliste zu arbeiten. Damit wäre zumindest das Problem der unterschiedlichen Stimmengewichtung gelöst. Mit den Geistern der Vergangenheit werden die Portugiesen noch eine Zeit lang zu kämpfen haben. Bis dahin soll die Macht der toten Wähler zumindest teilweise eingegrenzt werden.