Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Land, Wasser, Fluss

Wasser ist das beherrschende Element der Geschichten, die Gert Loschütz" in seinem "Roman in zehn Regennächten" über den Binnenschiffer Thomas erzählt. Nicht nur in Form der großen Flüsse spielt Wasser eine Rolle, der Donau, der Themse, dem Tiber und dem Hudson-River, sondern auch als Nebel, als Regen, als alles mitreißende Sturmflut. Man mag darin ein Sinnbild für das ewige Panta Rei, den Fluss des Lebens lesen.

Von Cornelia Staudacher | 10.10.2005
    "Es war ein alter Kanal, ein Durchstich zwischen Elbe und Havel, den man schon in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts vorgenommen hatte, weshalb man ihn nicht mehr als etwas Künstliches sah, sondern als etwas Natürliches, als einen richtigen Fluß, dem die Strömung fehlte."

    Von dem alten Kanal im Sachsen-Anhaltinischen, den der Großvater des Autors, der Binnenschiffer war, mit seinem Lastkahn, der Kreuz As befuhr, schlägt Gert Loschütz in der ersten Geschichte einen Bogen zu dem gemächlich fließenden Spreearm, auf den er vom Balkon seiner Wohnung hinunterblicken kann - ein dezenter Hinweis auf den autobiographischen Anteil des Buches. Ist Thomas, der Ich-Erzähler, also eine Art alter ego des Autors?

    " Nein, es ist doch anders. Es ist doch so, daß jeder Autor die Dinge ranholt an sich, und in dem Fall behauptet natürlich der Ich-Erzähler, der Ich-Erzähler hat alle diese Geschichten erlebt, so wie sie da sind, und der Autor kann nichts anderes tun als zu versuchen, diese Geschichten zu beglaubigen, die er erlebt hat, und wenn ers richtig tut, dann hat man am Ende das Gefühl, das hat der Autor erlebt."

    Nach der Lektüre des "Roman in zehn Regennächten" verwundert es nicht, dass Loschütz an solch einem Wasserarm lebt. Denn Wasser ist das beherrschende Element der Geschichten, nicht nur in Form der großen Flüsse der Erde, der Donau, der Themse, dem Tiber und dem Hudson-River, sondern auch als Nebel, als Regen, als alles mitreißende Sturmflut. Man mag darin ein Sinnbild für das ewige Panta Rei, den Fluss des Lebens lesen.

    " An seinem Ufer standen die biegsamen Pappeln, ein Stück weiter oben ließen die Weiden ihre Zweige aufs Wasser fallen. "Die Dunklen? Die Starren?" Ich wußte nicht, was er meinte. "Lass ma, nu lassma." Er drehte sich um und bohrte seine Hände in die Hosentaschen. "Gefährliches Volk", hörte ich ihn, als er weiterging, murmeln. "Thomas, pass auf!" Und nun sah ich so viele Jahre danach das Schiff, die Kreuz As, unter der Brücke durchgleiten."

    Die Szene aus der ersten, der kürzesten Geschichte wirkt wie der Nukleus, die Keimzelle, aus der alle weiteren Episoden hervorgegangen zu sein scheinen, und sie präsentiert die drei Hauptfiguren: Da ist Thomas, Binnenschiffer wie sein Großvater, den es in die niedersächsische Provinz verschlagen hat, wo der schwere, regnerische Himmel so tief hängt, daß nicht nur des nachts Trugbilder und Gespenster ihr Unwesen treiben. Da ist der Großvater, der in Thomas auch nach vielen Jahrzehnten so präsent ist, dass sich die Erinnerungen an dessen Erzählungen immer wieder wie Vexierbilder über seine eigenen Erinnerungen schieben und mit diesen verschmelzen. Und da ist die dunkle Gesellschaft, die Unheil, Gewalt und Katastrophen ankündigt und das Unberechenbare, Unheimliche verkörpert, das der Einzelne in der Konfrontation mit einer anonymen Masse von Menschen empfindet, und das den Stoff für phantastische Geschichten in sich birgt. Man denke an Edgar Allan Poes Schauergeschichten, an Kafkas Erzählungen oder an Alfred Kubins phantastischen Roman "Die andere Seite". Die dunkle Gesellschaft lungert im Hintergrund herum, wie Loschütz sagt:

    " Das ist eine Gruppe von Personen, die natürlich eine Erfindung ist, (...), das kann ich mir nur aus mir selber heraus erklären, ich mach mir immer Gedanken, wenn ich Leute sehe, und mir überlege, warum sitzen die so rum oder warum verhalten die sich so, oder wie auch immer, und hier hat es sich angeboten, diese Gruppe von Leuten, die mir irgendwo mal begegnet ist, im Bus oder im Schiff, oder so, was sind das für Leute, die so seltsam steif in der Gegend herumsitzen, und so haben sich dann langsam die Geschichten etabliert."

    Zweimal begegnet dem Knaben in der ersten Geschichte die dunkle Gesellschaft, vor der ihn der Großvater ausdrücklich warnt. Einmal fährt eine schwarz gekleidete, unheimlich wirkende Trauergesellschaft auf dem Deck der Kreuz As vorüber, ein anderes Mal wird er, vom nächtlichen Pfeifen und Sirren von Peitschenhieben jäh aus dem Schlaf gerissen, Zeuge, wie eine Frau von einer gewalttätigen Gruppe im nicht weit entfernten Wald mit Ruten und Reitpeitschen malträtiert wird. Es sind solche Bilder von Tod und Gewalt, die sich dem Knaben im Gedächtnis eingebrannt haben und mit den dunklen, trüben Stimmungsbildern korrelieren. Als habe der Autor eine besondere Affinität zu geheimnisvollen Regen- und Nebelstimmungen entwickelt, ziehen sie sich wie ein Cantus firmus durch alle zehn Geschichten.

    " Wenn Sie so wollen, ist es so. Aber die Geschichten haben das einfach verlangt, es ist nicht so, daß ich gesagt habe, jetzt machen wir es mal besonders dunkel oder besonders regenreich, sondern die erste Geschichte ist entstanden in einem sehr regenreichen Sommer, der so wahnsinnig auf den Wecker gegangen ist, und dann eröffnete sich einfach dieser Kosmos der Regenwelt, und da gabs dann kein zurück mehr, da mußte man durch."

    Um da ‚durchzukommen', bedient sich Loschütz einer doppelten Brechung. Nicht nur erinnert sich Thomas an seine Reisen und Erlebnisse in verschiedensten Gegenden der Welt - an das graue brackige Wasser der Themse, wo er als Schiffsmaat in einer aus zwielichtigen Gestalten bestehenden Mannschaft anheuerte, an die sommerlich warme Brühe des Tiber, zu dessen Ufer ihn ein Job als Schlafwagenschaffner führte, oder an das durch Schneeschmelze und Dauerregen verursachte Hochwasser der Donau, das zur Folge hatte, dass sein Schiff, auf dem er als Ersatzkapitän arbeitete, wochenlang im Hafen lag und ausgeraubt wurde. Immer wieder schleicht sich auch das Erschrecken ein, das die Erzählungen des Großvaters seinerzeit in dem Knaben ausgelöst haben. Dieser Verquickung der eigenen, ohnehin schon unheimlichen Erinnerungen mit den Erinnerungen an die Erzählungen des Großvaters verdankt sich die besondere Verrätselung und Unheimlichkeit der Geschichten Angesiedelt im Spannungsfeld zwischen Wirklichkeitserfassung, Einbildungs- und Erinnerungskraft, changieren sie zwischen Realität und Phantasmagorie ebenso wie zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein. Dabei ruft sich der Ich-Erzähler gewissermaßen immer erneut zur Ordnung. Alle Geschichten beginnen mit konkreten Situationen, um wie von selbst in phantastisch-irreale Konstellationen hinein zu gleiten. Der Leser wird auf ein vielschichtiges und unsicheres Terrain geführt, das Fragen evoziert und die Phantasie anregt.

    " Mich interessieren weniger Geschichten, die ganz einfach aufgehen, als Geschichten, in denen etwas hängenbleibt, in denen es etwas gibt, wo ich immer wieder drüber nachdenken muß, da gibt es viele Geschichten der Weltliteratur, die aus diesem Grund immer gegenwärtig sind, während mir andere, die lese ich, da lese ich lieber einen Zeitungsartikel und da ist Ende, andere Geschichten bleiben weiter in einem und arbeiten weiter in einem, und das interessiert mich mehr als dieser Realismus, der doch ein heruntergekommenes Stilmittel der Unterhaltungsliteratur ist. "

    Diese klare Absage des Autors an einen wie auch immer gearteten Realismus stehen in einem eigenwilligen Kontrast zu der geradezu beklemmenden Detailgenauigkeit und Plastizität der Beschreibung. Gerade die phantastische Literatur, so Loschütz, bedürfe akribischer Genauigkeit, um das Erzählte zu beglaubigen. So hat Alfred Kubin seinem Roman sogar einen Plan der irrealen Stadt Perle beigefügt, um den Leser von ihrer Existenz zu überzeugen.

    " Je phantastischer und geheimnisvoller Geschichten sind, desto mehr muß man darauf achten, daß der Erzählgestus einer ist, der faktenreich ist, der die Dinge beglaubigt, da ist z.B. Kafka, denkt man, ja natürlich, so war es, so kann es nur gewesen sein, die Geschichten sind völlig phantastisch, aber durch die Zeitgenauigkeit wird der Leser überredet, die Phantastik der Geschichten für wahr zu nehmen."

    "Unterwegs zu den Geschichten" hieß ein 2001 herausgekommener Band mit Erzählungen von Gert Loschütz, der leider wenig wahrgenommen wurde. Ein Titel, der auch zu den nun vorliegenden Geschichten passte. Denn auch sie sind Such- und Fluchtbewegungen eines sich stets aufs neue der eigenen Identität vergewissernden Erzählers. Als Suchinstrument dient ihm die Sprache, deren er sich mit hoher Kunstfertigkeit, Intuition und Sensitivität bedient. Der hohe Grad der ästhetischen und sprachlichen Verdichtung verdankt sich einer erzählerischen Disziplin des Autors, die ihn lieber ein Wort zu wenig als eines zu viel schreiben lässt. Es ist, als zentrifugiere er die Sätze so lange, bis sie die höchste Konzentrationsstufe erreicht haben. Man könnte sagen, dass manche dieser lose miteinander verknüpften Episoden in sich den Kern zu einem ganzen Roman bergen.

    " Das gefällt mir durchaus, ich weiß, daß in diesen Geschichten viel mehr steckt, oder daß andere daraus vielleicht eine unendliche Geschichte machen würden, das möchte ich aber nicht. Ich möchte, daß die Sachen möglichst knapp sind und gerade dadurch weiterarbeiten im Kopf des Lesers, daß man um die Fülle dessen, was dahintersteckt, weiß, man sie aber nicht richtig fassen kann, das soll weiterarbeiten im Kopf."

    Ob am Ufer der Spree, wo Thomas Zeuge wird, wie die Datsche von Konrad, einem undurchsichtigen Freund aus den Tagen des Mauerfalls, niederbrennt, oder in der Nähe eines Kalidamms, der schließlich infolge anhaltenden Regens einstürzt. - Motive, Bilder und Erzählgestus korrespondieren auf kongeniale Weise miteinander. Faszinierend auch, wie manch ein Satz durch eine kleine Drehung zur Welt und zum Kosmos hin geöffnet wird.

    " Und inmitten dieses Überwucherten, zurück in die Erde Gesunkenen liegt ein kreisrunder See wie ein aufgeschlagenes, in den Himmel blickendes Auge, Folge eines Einbruchs der Schächte. Noch heute, achtzig Jahre danach, hocken zwei haushohe Hügel aus purem Kali unweit des Damms, die im trockenen Zustand kilimandscharoweiß leuchten, jetzt aber mausgrau bis schwarz Wetter und Stunde anzeigen. "

    Die bildhaft-poetische Suggestivkraft der Sprache, ihre Sinnlichkeit und Musikalität und die Leichtigkeit, mit der der Autor Übergänge schafft von konkreten Sinneswahrnehmungen zu Phantasmagorien, Erinnerungen und alptraumhaften Zuständen, bürgen für eine außerordentlich geglückte Synthese aus komprimiertem Realismus einerseits und streng kontrollierter Phantasie andererseits. Als würden auch die Geschichten, um es metaphorisch zu sagen, allmählich vom festen in den ihnen vom Autor von allem Anfang an zugedachten flüssigen Aggregatzustand übergehen.