Kino-Geheimtipps 2019

Das Beste haben wir gar nicht gesehen

07:10 Minuten
Isabelle Huppert als Frankie im gleichnamigen Film.
Isabelle Huppert spielt in "Frankie" eine krebskranke Frau. "Ein Film, der die großen Dinge des Lebens klein und alltäglich erzählt", so unser Kritiker. © imago images/ZUMA Press/Sony Pictures Classics
Von Patrick Wellinski · 30.12.2019
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Nicht jeder Film schafft es weltweit auf die Kinoleinwände. Das ist schade, findet unser Filmkritiker Patrick Wellinski. Und meint: Das Beste haben wir gar nicht gesehen. Ein Blick auf die Filme, die es 2019 nicht in den deutschen Kinos zu sehen gab.

Beanpole

Zwei Frauenschicksale kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Leningrad ist zerbombt, die Menschen essen Hunde, der Lebensmut ist getilgt. Die Folgen des Krieges zeichnen sich in den Seelen der Bewohner der Stadt ab. Eine Krankenschwester mit mysteriösen Schockstarren und eine Soldatin werden durch ein tragisches Ereignis aneinander gefesselt.
Das ist der Ausgangspunkt des russischen Oscarkandidaten "Beanpole", des hoch talentierten und erst 29 Jahre alten Regisseurs Kantemir Balagov. Inspiriert ist der Film von einem Buch der belarussischen Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. Balagov interessieren die Folgen der Gewalt, die Wunden und Narben, die eine Kriegserfahrung in den Seelen der Menschen hinterlässt. Dafür operiert er mit einer ausgetüftelten Farbsymbolik und Meisterschaft, die an das Kino des jungen Rainer Werner Fassbinder erinnern.
Eine der wenigen wahren Kino-Erleuchtungen des Jahres, die bislang immer noch keinen deutschen Verleih hat.

Vitalina Varela

Ein Schicksal, das auch dem Gewinner des Goldenen Leoparden von Locarno wiederfahren ist. Dabei ist der portugiesische Autorenfilmer Pedro Costa kein Unbekannter mehr. Seit Jahren arbeitet er sich intensiv an der portugiesischen Kolonialherrschaft auf den Kap Verden ab, interessiert sich für das Leben der vielen Arbeitsmigranten, dreht dafür mit denselben Schauspielern Szenen aus deren Leben nach.
In "Vitalina Varela", diesem unfassbar intimen Frauenporträt, das von einem ungelebten Leben und einer großen Liebe in Armut erzählt, erreicht Costa ein Maß an Kunstfertigkeit, die das Kino als Bilderkunst in Richtung alter Meistermaler wie Carravagio rückt.


Technoboss

Portugiesisch war ohnehin die dominierende Sprache vieler erfreulicher, seltsamer Kinoperlen dieses Jahr. So wie die absurde Musical-Komödie "Technoboss" von João Niclau, in der ein kurz vor der Pensionierung stehender Techniker die frustrierenden Erlebnisse seines tristen Alltags sich einfach auf der Autobahn von der Seele singt.

Bacurau

Aus Brasilien kam die abgefahrene Fantasy-Western-Parabel "Bacurau" von Kleber Mendonça Filho, der von einer kleinen Dorfgemeinschaft erzählt, die sich gegen politische und terroristische Eingriffe mit außergewöhnlichen Mitteln zur Wehr setzt.
Eine düsterer Blick in ein Brasilien unter Bolsonaro, ein Aufruf zum zivilen Ungehorsam - ein Film wie eine geballte Faust.

Frankie

Dass "Bacurau" es mit seiner widerborstigen Art schwer hat, um auf unseren verstopften Leinwänden zu landen, kann man sich denken. Keine Schublade passt. Wie soll man das vermarkten? Probleme, die mittlerweile aber auch Filme haben, die man als Starvehikel bezeichnen müsste. So wie Ira Sachs "Frankie" mit Isabelle Huppert, Marissa Tomei und Brendan Gleeson in den Hauptrollen, dem deutschen Kinogeher bislang vorenthalten bleibt.
Huppert spielt die krebskranke Schauspielerin Frankie. Sie versammelt im wunderschönen portugiesischen Sintra ihre Familie. Einen Tag lang folgt die Kamera den Figuren, ihrem Streit, Frust, aber auch ihrer Liebe.
Ein Film, der die großen Dinge des Lebens ganz klein und alltäglich erzählt. Vielleicht kann man als Kinofilm ja einfach überhört werden, da helfen auch keine Stars.

Wild Goose Lake

Überhört wurde der chinesische Gangster-Film "Wild Goose Lake" ganz sicher nicht. Vor allem nicht von Quentin Tarantino, der der neonlichtgetriebene Rachegeschichte zehn Minuten Standing Ovations schenkte.
Regisseur Diao Yinan beweist sich mit seinem hocheleganten Film Noir als großer Stilist des Genre-Kinos. Körper in Bewegung, kinetische Schattenspiele, flackernde Actionszene – reines Kino, das in Deutschland sicherlich in ein paar Jahren auf einer DVD erscheinen wird.

The Climb

Übersehen und überhört wurde bislang auch die geradezu geniale Buddy-Komödie "The Climb" von Michael Angelo Covino. Die besten Freunde Mike und Kyle fahren durch die Berge. Mike wird heiraten, doch Kyle gesteht ihm, dass er mit seiner Verlobten schon mehrfach geschlafen hat.
"The Climb" entspinnt von da an eine unglaublich komische Abfolge von Episoden, in denen das Leben der beiden Freunde durch alle Höhen und Tiefen menschlicher Beziehungen gleitet. Dabei bleiben Mike und Kyle immer genau das: Freunde. Intelligenter und humaner hat man dieses Genre schon lange nicht mehr gesehen.

Les enfants D'Isadora

Ein Schicksal, das eigensinniger Film-Kunst wie Damien Manievelles lange nachhallendem Konzeptfilm "Les enfants D'Isadora" droht.
Drei Frauen. Drei Frauenkörper proben, tanzen die Mutter-Choreographie der Tanzpionierin Isadora Duncan, die sich darin von ihrem sterbenden Kind verabschiedet. Episodisch, lakonisch beobachten wir, wie unterschiedlich die Frauen sich das erarbeiten. Still, poetisch und zerbrechlich.
Sensible Kinokunst, die sich nicht der besseren Verkäuflichkeit wegen auf Marktauglichkeit abklopfen lässt und daher immer seltener gesehen wird und irgendwann vielleicht gar nicht mehr entsteht.
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