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Landeskunde von Pakistan

Mit "Pakistan. Land der Extreme" legen die zwei Autoren ein Buch vor, das auf die allgemeine Hysterie und Voreingenommenheit gegenüber dem Land verzichtet. Katja Mielke und Conrad Schetter geht es um die Identität des Landes.

Von Sabina Matthay | 04.11.2013
    Pakistan, das steht international für Dauerkrise. Die Widrigkeiten, mit denen das Land ringt, sind berüchtigt: Sie reichen von Armut über Krieg und Terrorismus und hören bei Unterdrückung, Korruption und Fanatismus noch längst nicht auf. Allein in den letzten sechs Jahren haben Extremisten dort schätzungsweise 40.000 Menschen getötet, Pakistan gilt als wahrscheinlichster Austragungsort eines neuen Atomkriegs und ist ebenso berüchtigt für seine chronisch schlechte Wirtschaftslage wie für seine instabile politische Struktur – die meisten Analysten bezeichnen Pakistan deshalb als Land am Abgrund. Nicht so Katja Mielke und Conrad Schetter:

    "Wenn Pakistan ein Land am Abgrund wäre, dann wäre es schon längst den Abgrund hinuntergeschlittert. Aber es hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass diese ganzen Krisen erfolgreich umschifft werden."

    "Vorstellungen wie ein Land am Abgrund, die Debatte über Staaten in Auflösung, ist eine Debatte, von der wir uns langsam verabschieden müssen und wir Europäer von dem hohen Ross runterkommen müssen zu meinen, das es nur eine Form von Staatlichkeit gibt, und wir endlich verstehen müssen, dass es überall in der Welt Gesellschaften gibt, die unterschiedliche Vorstellungen von Staatlichkeit und von ihrem Zusammenleben haben."

    Mielke und Schetter zeichnen in ihrer "Einführung in Geschichte, Politik und Kultur Pakistans" kein rosiges Bild von dem Staat, der 1947 als Nation der Muslime in Südasien gegründet wurde und seitdem immer wieder Kriege und Krisen erlebt. Doch die Autoren verzichten auf die Hysterie und die Voreingenommenheit, die viele aktuelle Veröffentlichungen zu dem Land kennzeichnen. Ihr Leitfaden ist die Frage nach der Identität Pakistans:

    "Was macht Pakistan überhaupt aus? Was hält – abgesehen von der Begeisterung für Cricket und Bollywood – die zahlreichen Ethnien und religiösen Gemeinschaften überhaupt zusammen? Sind die Bewohner vor allem Pakistaner oder eher Punjabis, Belutschen, Paschtunen, Sindhis, Mohajir oder Kaschmiris? Es gibt in Pakistan selbst keine konsensfähige Vision dessen, was das Land sein möchte: 66 Jahre nach der Gründung Pakistans ist die Antwort auf die Frage 'wofür steht Pakistan?' – Pakistan ka matlab kya hay? – so umstritten wie seit der Abspaltung von Indien nicht mehr."

    Umfassend und gut informiert stellen Mielke und Schetter Pakistan in fünf Kapiteln vor. Sie schildern Natur- und Kulturraum des Landes am Indus, mit der Darstellung seiner Geschichte beginnen sie lange vor der Gründung als Nationalstaat. Die Autoren beschreiben, wie die pakistanische Außen- und Innenpolitik ineinandergreifen – immer geprägt und behindert von der Fixierung auf den Erzfeind Indien, und sie analysieren auch den pakistanischen Anteil am zerrütteten Verhältnis zu den USA. Besonders die Kapitel über die Bevölkerung sowie über Politik und Kultur belegen die Landeskenntnis der Autoren, die lange am Zentrum für Entwicklungsforschung in Bonn zusammengearbeitet haben.

    "Wir haben (...) versucht, so ein bisschen den Blick von der politisch-internationalen Ebene auf die Gesellschaftsebene zu rücken und hoffen, dass dieses Buch einen Mehrwert schafft gegenüber anderen Publikationen."

    Das ist den Autoren überzeugend gelungen. Ihren Optimismus bezüglich der Zukunft Pakistans, den sie im Vorwort ausdrücklich formulieren, mag man angesichts der vielen Probleme, die sie schildern, jedoch nicht recht teilen. So beschreiben sie treffend die verheerenden Folgen des unbewältigten ideologischen Konflikts, der vom Gründungsmythos der islamischen Republik herrührt:

    "Die nach der Staatsgründung rasch überhandnehmende Interpretation des Staats der Muslime als islamische Föderation mit einer stark zentralistisch geprägten Politik sollte im Folgenden zu weitreichenden Problemen führen. Pakistans Erzfeindschaft mit Indien und damit verbunden die Kultivierung eines religiösen Extremismus und weitgehender Intoleranz gegenüber Minderheiten sind nur die offensichtlichsten Auswirkungen. Dass heute die Annäherung an Indien, die politisch und ökonomisch vernünftig und zum Vorteil Pakistans wäre, so schwierig ist, liegt an der extremistischen Haltung der religiösen Parteien."

    Die religiöse Gleichschaltung bedroht heute neben der Vielfalt des Islam den gesellschaftlichen Pluralismus und die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten; das Militär provoziert immer wieder Konflikte und schreckt auch nicht davor zurück, den Extremismus zu fördern, um unersetzlich zu bleiben – so wie gerade in Kaschmir, dem ewigen Zankapfel mit Indien. Wirtschaftliche und politische Selbstbedienung der Eliten haben das Instrumentarium der Demokratie längst ausgehöhlt; zivilgesellschaftliche Einrichtungen – Gewerkschaften, Stiftungen, Hilfswerke – sind Teil klientelistischer Netzwerke, statt als gesamtgesellschaftliches Korrektiv zu wirken.

    Mielkes und Schetters kenntnisreiche Schilderungen offenbaren Identitätskrisen, die Pakistan und seine Bürger vielleicht nicht in den Abgrund reißen, ihnen aber auch nicht den Weg eröffnen zu einer prosperierenden und friedlichen Gesellschaft. Dieses Buch über Pakistan schließt eine Lücke im deutschsprachigen Raum. Es wäre schade, wenn es wegen des oft hölzernen wissenschaftlichen Stils nicht das breite Publikum erreichen würde, das es verdient. Hierzulande wird die Atommacht Pakistan meist nur als Begleitfaktor des Afghanistankonflikts aufgefasst, seit dem Abzugsbeschluss der NATO ist das Interesse an der Region deutlich gesunken. Warum beides ein Fehler ist, erfährt man bei der Lektüre dieser Landeskunde.

    Katja Mielke/Conrad Schetter: Pakistan. Land der Extreme.
    C.H. Beck Verlag, 256 Seiten, 14,95 Euro
    ISBN: 978-3-406-65295-0
    Rezension: Sabina Matthay