Donnerstag, 28. März 2024

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Lapidar und Genial

New York, Winter 1961. Robert Allan Zimmerman war gerade 20 geworden und spielte für ein paar Dollar in jedem Club der Stadt. Doch das sollte sich ändern.

Von Elke Buhr | 09.11.2004
    Schneeregen tickte ans Bürofenster. Lou Levy startete sein großes Bandgerät und stoppte es wieder. An seinem kleinen Finger glitzerte ein Diamantring; die Luft war blau vom Zigarrenrauch. Ein obstschalenartiger Lampenschirm an der Decke und ein paar Messing-Stehlampen auf dem Boden erweckten den Eindruck, dass der Raum sonst für Verhöre benutzt wurde. Es war eine trostlose Bude voller Branchenzeitschriften, Cashbox, Billboard, Radiostatistiken – in der Ecke ein Aktenschrank aus längst vergangenen Tagen. Neben Lous altem Metallschreibtisch standen ein paar Holzstühle, und auf einem davon beugte ich mich über meine Gitarre und spielte ein paar Songs.

    Vielleicht hat Bob Dylan ja wirklich diesen Song gespielt, als er bei Lou Levy von Columbia Records seinen ersten Plattenvertrag bekam – die Aufnahme von Dezember 1961 wurde kürzlich erst ausgegraben und einem Album als Bonus Track beigefügt. Die Dylan-Fangemeinschaft hungert auch noch nach Jahrzehnten nach unveröffentlichtem Material: Jeder Brosamen vom Tisch des Meisters ist willkommen. Genauso sehnsüchtig hat man auf Dylans Autobiographie gewartet. Sie war lange angekündigt, wurde mehrfach verschoben; und als man sie schließlich komplett für ein Gerücht zu halten begann, war sie fertig. Anfang Oktober sind die Chronicles – Volume one in den USA erschienen, Kathrin Passig und Gerhard Henschel erstellten in rasender Geschwindigkeit eine deutsche Fassung, und nun können auch wir von Dylan selbst erfahren wie es damals aussah in Lou Levys Büro, als eine einmalige Karriere begann. In Dylans eigenen Worten – oder in denen eines Ghoestwriters? Übersetzer Henschel meint:

    Darüber kann man nur spekulieren. Es heißt, er habe es selbst geschrieben, auf einer Schreibmaschine mit Großbuchstaben, und das Ganze sei dann von einer Schreibkraft abgeschrieben worden.

    Liest man die gut 300 Seiten, glaubt man, den echten Dylan vor sich zu haben; man hört die altmodische Schreibmaschine geradezu klappern. Wer ihn in den letzten Jahren auf seinen Endlos-Touren hat spielen sehen, weiß, dass Dylan sprunghaft ist, manchmal kraftlos und gelangweilt, manchmal genial. So ähnlich funktioniert auch diese Prosa: Manchmal lapidar, manchmal so detailreich wie die Szene in Lous Büro, manchmal metapherngetränkt wie ein Song.

    Eine Musikalität, die es den Übersetzern nicht immer leicht macht. Wenn er schreibt, es werde ein Musiker kommen mit einem shoked-toppt head ? mit einem tiefer gelegtem Kopf -, dann muss man als Übersetzer schon grübeln. Sowas ist unübersetzbar. Und ich habe den Eindruck gehabt, dass es poetische Flashs gegeben haben muss, in denen er diese sehr musikalischen Dinge geschrieben hat. Aus der Übersetzerperspektive wäre es wünschenswert gewesen, er hätte diese Flashs seltener gehabt. Als Leser genießt man es.

    Man kann auch die Struktur dieses Buches als eine Abfolge von Flashs beschreiben, die der Erzähler mit beachtlicher Geschicklichkeit rund um die Szene in Lou Levys Büro montiert hat. Blitzlichtartig hellen die Vor- und Rückblicke einige Episoden aus seinem Leben auf, andere bleiben im Dunkeln.

    Die Kindheit in Minnesota skizziert Dylan warm, aber knapp. Die Jugend besteht vor allem aus der Jagd nach seltenen Folk-Platten und der Begegnung mit der Musik von Woodie Guthrie, der als Liedermacher sein großes Vorbild wurde.

    Er hatte Jack Kerouak und Allan Ginsberg gelesen, doch deren kussechte Welt der Plastikklobrillen, Tampons und Taxis war nicht die seine. Im Paralleluniversum des Folk, wo er zu Hause war, ging es um archaischere Dinge, um Superschurken und treulose Frauen, um das Gute und das Böse selbst.

    Erst in seiner Zeit in Greenwich Village entdeckte der junge Robert, was die abendländische Kulturgeschichte sonst noch so zu bieten hat:

    Es hieß mit dem 2. Weltkrieg sei das Zeitalter der Aufklärung zu Ende gegangen, aber davon hatte ich nichts mitbekommen. Ich lebte immer noch mittendrin. Ich konnte mich noch einigermaßen an die Lichter erinnern, ihr fernes Feuer spüren. Ich hatte das ganze Zeug gelesen. Voltaire, Rousseau, John Locke, Montesquieu, Martin Luther. Visionäre, Revolutionäre. Sie waren wie alte Freunde, als hätten sie gleich nebenan gewohnt.

    Dazu Henschel:
    Er ist da sehr autodidaktisch vorgegangen. Er hat einmal in einem Interview gesagt, dass er sich nicht systematisch mit Nachrichten über den Weltzustand versorge. Er reise in der Welt herum und spreche mit vielen Leuten. Das sei seine Zeitung. Wahrscheinlich war es so. Er ist bei verschiedenen Leuten untergekommen und hat sich an deren Bücherregalen bedient. Dabei hat er heißhungrig alles aufgesogen wie ein Schwamm.

    Noch wichtiger als Bücher waren die Begegnungen mit Musikern. So gut wie jeder, der 1961 in Dylans Lieblingsclub Gaslight herumhing, bekommt in Chronicles seinen Auftritt. Der Plattenvertrag mit Lou Levy bei Columbia ist als das Ende der Lehr- und Wanderjahre inszeniert. Danach sollte er in einer kreativen Eruption vom Folk-Interpreten zum begnadeten Songschreiber werden und so zur Stimme einer Generation aufsteigen. Doch diese Zeit spart die Erzählung aus, wie einen allzu bekannten Song. Stattdessen erfährt man, wie nervtötend es war, die Stimme dieser Generation zu sein. Es ist 1969, Dylan hat inzwischen Frau und Kinder, und wohnt auf dem Land, in Woodstock.

    Die ganze Nacht über brachen schräge Vögel bei uns ein. Zuerst waren es nur die heimatlosen Nomaden, die sich ungebetenen Zutritt verschafften. Das war ja noch fast harmlos, aber dann kamen die radikalen Knalltüten auf der Suche nach dem Prinzen der Protestbewegung – unzurechnungsfähig aussehende Gestalten, potthässliche Mädchen, Vogelscheuchen und Vagabunden, die einen drauf machen und die Küche plündern wollten. Die Obrigkeit in Gestalt des Polizeichefs (in Woodstock gab es ungefähr drei Cops) hatten mir zu verstehen gegeben, dass ich in den Knast käme, wenn irgendwer versehentlich erschossen oder auch nur ein Warnschuss abgegeben würde. Und damit nicht genug: Jeder Widerling der über unser Dach trampelte, konnte mich verklagen, wenn er herunterfiel.

    Der Sarkasmus verdeckt die Panik nur notdürftig, die aus jeder Zeile dieses Kapitels über die Jahre der Belagerung spricht: Dylan sah sich von seinem eigenen Image verfolgt, umzingelt von einer Welt, die ihn mit Gewalt zum Messias machen wollte. So oft er auch flüchtete und mit Frau und wachsender Kinderschar in ein neues Refugium zog, immer waren seine Fans schon da. Sie forderten, dass er eine Revolution anführte, die ihn nie interessiert hatte.

    Dabei hätte man ihm nur zuhören müssen. Aus dem Jahr 1965, in dem die Dylan-Euphorie auf dem Höhepunkt war, kennt man eine lange Interviewsession. Die Fragen prasseln auf ihn ein: Was halte er von den akademischen Symposien, die seine Lieder interpretierten. Wolle er gegen den Vietnam-Krieg demonstiren. Verstehe er sich als Politiker. Bis ein muffiger Dylan die versammelten Journalisten erinnert: Sein Job sei es, Songs zu schreiben und sie zu spielen. Das wollte er tun, und nichts anderes.

    The Songs is what I do. To write the songs and sing them and perform them is what I do. The performing part of it may end. But I will always be writing these songs, I can see no end. This is what I do. Anything else that interferes with it, anything else that comes on top of it making something out of it which it isn’t, it just brings me down.

    Man machte aus seinen Songs, was sie nicht waren, man machte aus ihm, was er nicht war, und das zog ihn herunter. So hat er es gesagt, so ist es gekommen.
    Nach einem Motorrad-Unfall 1966 verschwand Dylan für Jahre von der Bühne. Für die Fans war dieser Unfall ein Ereignis mythischer Dimension: Man vermutete schwerste Verletzungen und nachfolgende Lebenskrise mitsamt Drogenexzessen. In den Chronicles hat Dylan nicht mehr als ein lapidaren Satz dafür übrig:

    Ich hatte einen Motorradunfall gehabt und mich verletzt, aber ich erholte mich. In Wahrheit wollte ich der Tretmühle den Rücken kehren. Meine Kinder hatten mein Leben verändert, und mich mehr oder weniger von allen Leuten und allen aktuellen Ereignissen isoliert. Was nicht mit meiner Familie zu tun hatte, interessierte mich nur am Rande, und ich sah alles mit anderen Augen. Selbst die neuesten Schreckensmeldungen, die tödlichen Anschläge auf die Kennedys, auf Martin Luther King, auf Malcom X… Aus meiner Sicht waren mit ihnen keine politischen Leitfiguren niedergeschossen worden, sondern vor allem Väter, in deren Familien jetzt eine Lücke klaffte.

    So bekennt sich Bob Dylan zu seinem Leben als Familienvater – wer sich allerdings Details über diese Familie erwartet, wird enttäuscht werden. Weder Liebe noch Scheidungskrieg werden erwähnt; diese Autobiographie bietet keine Groupies und keine Drogen, keine Enthüllungen und nicht mal einen kleinen Schuss Lästerei über die berühmten Kollegen. Die Chronicles sind die eine Werkbiographie. Ein großer Teil versucht, dessen Genese zu erklären: Was musste dieser Junge aus Minnesota alles lesen, hören und erleben, um plötzlich in der Lage zu sein, den Nerv der Zeit zu treffen. Und ein langes Kapitel über die späten Achtziger Jahre enthüllt auch, wie es sich anfühlt, wenn diese Fähigkeit erlischt. Dylan kann sich noch so oft in die Natur zurückziehen und versuchen, unter ein paar Bäumen Frieden zu finden: Seine Legende verfolgt ihn.

    Wo ich auch hingehe, ich bin ein Troubadour der Sechziger, ein Folkrock-Fossil, ein Versschmied aus vergangenen Tagen, ein fiktives Staatsoberhaupt aus einem Land, das keiner kennt. Ich bin in den bodenlosen Abgrund der kulturellen Vergessenheit gestürzt. Das stimmt alles. Ich kann’s nicht ändern. Wenn ich den Wald verlasse, erkennen mich die Leute schon von weitem. Ich weiß, was sie denken. Ich darf mir nichts vormachen.

    Dylan sei zynisch geworden und hasse seine Songs, so heißt es oft; er gehe nur noch auf Tour, um Geld zu machen. In den Chronicles aber offenbart er einen geradezu tragischen Kampf um die Musik. Seitenlang berichtet er enthusiastisch von neuen Spieltechniken, die seinen Bühnenauftritten neues Leben einhauchen sollten, und von den Phasen der Enttäuschung, die folgen; nie wieder, so glaubt er, könnte er einen Song schreiben – und dann kommen sie doch zu ihm, nachts in der Küche. 1989 nahm er zusammen mit dem Produzenten Daniel Lanois das Album No Mercy auf. Die Kritik war endlich einmal wieder mit ihm zufrieden. Aber Lanois, so wusste Dylan, hatte von diesem Comeback noch mehr erwartet: Songs für die Ewigkeit, wie "Masters of War", "Hard Rain" oder "Gates of Eden".

    Ich hatte keinen Zugang zu solchen Songs, weder für ihn noch für irgendwen sonst. Dazu braucht man Kraft und die Gabe, Geister zu beschwören. Einmal war es mir gelungen, und das sollte genügen. Irgendwann würde wieder jemand mit dieser Gabe erscheinen – jemand, die Dinge durchschauen konnte bis auf den Grund, und zwar nicht im übertragenen Sinne, sondern buchstäblich – als bringe man Metall mit dem Blick zum Schmelzen – jemand, der ihr wahres Wesen erkannte und es in ungeschönter Sprache und mit unbarmherziger Klarsicht enthüllte.

    So hat Dylan den Umweg der Verlustgeschichte gewählt, um die eigene historische Leistung dazu beschreiben. Mit typisch Dylanesker Metaphorik natürlich – um den Folksong darunter zu hören, müsste man die Worte vom Geisterbeschwörer auf Englisch nachschwingen lassen, der soliden Arbeit der Übersetzer zum Trotz.

    Die Chronicles enden, wo sie beginnen: in Lou Levys Büro. Zwei weitere Bände sind versprochen. Es heißt allerdings, Bob Dylan habe die Lust am Weiterschreiben schon wieder verloren. Sicher ist: Wenn man das nächste Mal dabei zugucken muss, wie er bei MTV seine eigenen Songs zersingt, wird man ihn besser verstehen, den alten Mann mit der Sonnebrille.

    Bob Dylan
    Chronicles. Volume One
    Hoffmann & Campe, 288 S., EUR 22,-