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Laut, unerschrocken

Mit der Gründung des Kanals 1996 setzte Katars Herrscher, Scheich Hamad bin Khalifa al-Thani, sein winziges Emirat auf die Weltkarte. Durch mutigen Journalismus und beispiellose Meinungsvielfalt in den Sendungen wurde Al-Jazeera schnell zum meistgesehenen Nachrichtensender in Arabien - und Katar eine regionale Größe.

Von Carsten Kühntopp | 29.01.2011
    Auf Händen trugen sie ihn durch die Straßen seiner Heimatstadt Jericho im Westjordanland, Saeb Erekat, Chefunterhändler der Palästinensischen Befreiungsorganisation, PLO. Die palästinensische Führung brauchte nicht lange, um ihre Anhänger zu mobilisieren. Erekat holte zu einer Breitseite gegen Al-Jazeera aus:

    "Wir sind der schlimmsten Rufmordkampagne in der Geschichte des Journalismus ausgesetzt. Das ist neutraler Journalismus anno 2011 à la Al-Jazeera."

    An mehreren Orten im Westjordanland gab es Demonstrationen gegen Al-Jazeera. In Nablus verwüsteten Unbekannte das dortige Büro des Senders. Ungerührt zog Al-Jazeera die Veröffentlichung der "Palästina-Dokumente" durch, über vier Tage. Wann immer aus der palästinensischen Führung Kritik geübt wurde, berichtete man darüber. Schließlich veröffentlichte der Sender eine Erklärung in eigener Sache:

    "Zu jeder Zeit hält der Kanal höchste redaktionelle Standards ein und bietet den Zuschauern eine unparteiische, ausgewogene und tief gehende Berichterstattung über die Ereignisse in der Region. Wir veröffentlichen die Palästina-Dokumente, um unseren Einsatz für Transparenz und die Pflicht zur Rechenschaft zu unterstreichen."

    Dass Al-Jazeeras Berichterstattung wütende Proteste bei Zuschauern auslöst, ist nicht neu für den Sender, meint Faisal al-Qassem. Al-Qassem ist Gastgeber einer Talkshow bei Al-Jazeera:

    "Die Sendung hat zu diplomatischen Krisen zwischen Katar und mehreren arabischen Staaten geführt. Fünf Länder zogen aus Protest ihre Botschafter aus Doha ab. Ich erhalte immer wieder Morddrohungen. Als wir mal eine Sendung über Sistani, den bedeutendsten schiitischen Geistlichen im Irak, gemacht haben, waren danach etwa eine Million Menschen im Irak auf der Straße und haben gegen mich und Al-Jazeera protestiert."

    Für arabische Autokraten bedeutet Al-Jazeeras engagierte und unerschrockene Berichterstattung eine Bedrohung der Stabilität. Immer wieder werden örtliche Korrespondentenbüros deswegen geschlossen und die Journalisten ausgewiesen.

    Al-Jazeeras Zerwürfnis mit der palästinensischen Führung entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Während man der erste arabische Sender war, der Israelis zu Wort kommen ließ, ausführlich, ist Al-Jazeeras redaktionelle Ausrichtung stets pro-palästinensisch - auch beim englischsprachigen Programm, das vor rund vier Jahren gestartet wurde. Nigel Parsons, der damalige britische Chef von Al-Jazeera English:

    "Natürlich werden unsere Sympathien als Kanal bei den Palästinensern liegen. So sorgt man für eine Balance. Immer werden die Israelis das Recht haben, zu antworten. Ich finde es unredlich, so zu tun, als könne man sich einer Geschichte mit hundertprozentiger Neutralität nähern. Gewiss werden unsere Sympathien eher bei den Besetzten, als bei den Besatzern liegen."

    Mit der Gründung des Kanals 1996 setzte Katars Herrscher, Scheich Hamad bin Khalifa al-Thani, sein winziges Emirat auf die Weltkarte. Durch mutigen Journalismus und beispiellose Meinungsvielfalt in den Sendungen wurde Al-Jazeera schnell zum meistgesehenen Nachrichtensender in Arabien - und Katar eine regionale Größe.

    Die Berichterstattung ist manchmal auch für Katar unangenehm, ein Beispiel: Tunesien. Ohne Unterlass sendete Al-Jazeera die Bilder der Demonstrationen dort und hatte dadurch einen Anteil am Sturz von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali. Dabei war Ben Ali ein intimer Freund von Katars Emir.

    Die grundsätzliche Ausrichtung Al-Jazeeras und seines Geldgebers ist jedoch dieselbe: Das Motto des Senders lautet "Die Meinung - und die andere Meinung", eisern bemüht man sich, alle zu Wort kommen zu lassen, wie weiland auch Osama bin Laden. Katars Außenpolitik fußt auf dem Bemühen, einen Draht zu allen zu haben, zu Israel und zu Hamas, zu Iran und zu den USA. In einem Aufsatz kam der französische Journalist Olivier Da Lage vor ein paar Jahren zu dem Schluss:

    "Während, langfristig gesehen, Al-Jazeera den diplomatischen Interessen Katars sehr dienlich ist, komplizieren die Freiheit des Kanals und sein oft kreischender Ton die täglichen Aufgaben katarischer Diplomaten. Dies ist keinesfalls ein Fall politischer Schizophrenie, sondern von Realpolitik. Und es ist gerade dieser Widerspruch, der Katars Position in der Region stärkt."

    Allen Versuchen, die Lautstärke von Al-Jazeera zu drosseln, hat sich Katar bisher widersetzt. Bei einem Besuch in Washington riskierte der Emir sogar einen Eklat. Als der Herrscher in das Büro des damaligen Vize-Präsidenten Dick Cheney trat, lag auf dessen Tisch eine dicke Akte, mit der Aufschrift "Al-Jazeera". Cheney sagte dem Emir, er wolle sich über die Irak-Berichterstattung des Senders beschweren. Scheich Hamad erwiderte, dann müsse sich Cheney an die Redakteure in Doha wenden, stand auf und ging. Nach nur sieben Sekunden war das Treffen gelaufen.