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Laute Schreie auf Papierfetzen

Unter Transgression versteht man eine spielerische Grenzüberschreitung oder Verletzung traditioneller sozialer Normen, die vor allem in der Literatur des französischen Surrealismus gepflegt wurde. Eine Vertreterin dieser Richtung war auch Colette Peignot, die Lebensgefährtin Georges Batailles,

Von Christa Bürger | 22.07.2012
    Unter dem Pseudonym Laure veröffentlichte sie lyrische und Prosatexte . Unter dem Titel "Laute Schreie auf Papierfetzen" erinnert Christa Bürger in dem nun folgenden Essay an Peignot.

    Die Autorin Christa Bürger war bis 1998 Literatur-Professorin an der Universität Frankfurt. Sie porträtierte für Essay und Diskurs unter anderen Caroline Schlegel-Schelling, Lou Andreas Salomé, Emmy Ball-Hennings, Regina Ullmann und Simone de Beauvoir.

    Laute Schreie auf Papierfetzen
    Colette Peignot - Georges Batailles Laure
    Von Christa Bürger

    Sendung: Sonntag, 22. Juli 2012, 09:30 – 10:00 Uhr

    "So habe ich denn einstmals, als ich es nötig hatte, mir auch die freien Geister erfunden."

    Auf die Lebensgebärde von Colette Peignot und Georges Bataille wirft der Satz aus Nietzsches "Menschliches, Allzumenschliches" ein gebrochenes Licht. Das Liebesbündnis, das diese beiden Exzentriker miteinander eingehen, kann erzählt werden als ein Kampf, wie er mehr als einmal vor ihnen ausgetragen worden ist – von Kierkegaard und Regine Olsen, von Lukács und Irma Seidler. Es ist ein Kampf zwischen der Philosophie und dem Leben, das sich für den Philosophen in der geliebten Frau verkörpert.

    Das Leben muss in diesem Kampf zugrunde gehen: Die Malerin Irma Seidler wählt den Freitod, Colette Peignot stirbt, zerstört durch die Schwindsucht und ein Leben im Exzess, 1938 im Haus von Bataille in Saint-Germain en Laye. Die Liebe zwischen Bataille und der Frau, die er zu Laure verklärt, steht von Anbeginn im Zeichen der Souveränität und ist damit schon der fatalen Logik verfallen, die sich in Nietzsches Bekenntnis versteckt.

    Das nachgelassene autobiografische Fragment Peignots, "Histoire d’une petite fille", erzählt von der Revolte eines Kindes gegen eine lebensfeindliche Ordnung und seinem wilden Begehren nach Verwirklichung. Das kleine Mädchen dieser Geschichte weiß nichts vom weißen Zauber einer grenzenlosen Kinderlandschaft, wie sie Breton im surrealistischen Manifest als Inbegriff des poetischen Lebens beschwört, nichts von einem Aufbruch ohne Angst, wo man niemals schlafen will, weil Schlaf versäumtes Leben ist. Am Anfang steht hier der Schrecken.

    "Kinderaugen durchbohren die Nacht. Die Somnambule im langen weißen Hemd leuchtet in die schattigen Zimmerecken, wo sie niederkniet, schläfrig vor sich hin murmelnd unter dem Kruzifix und der Jungfrau Maria. Die frommen Bilder bedecken die Wände. Die Schlafende macht ihre Kniefälle und schlüpft unter die Decke. Weniger realen Gespenstern ausgeliefert, die auch alle über mich Macht haben, nimmt mein Zimmer wieder die drückende Regungslosigkeit eines zu früh gekommenen Albtraums ein. Der Schrecken erhebt sich zwischen vier Wänden wie der Wind über dem Meer. Eine uralte Frau, in der Mitte entzweigebrochen, bedroht mich mit ihrem Stock, ein Mann, den der fabelhafte Ring unsichtbar macht, belauert mich ununterbrochen, Gott, der ‚alles sieht und alle Gedanken kennt’ sieht auf mich, streng. Der weiße Vorhang macht sich vom Fenster los, schwebt in der Dunkelheit, nähert sich mir und nimmt mich mit: ich durchquere sacht die Fensterscheibe und steige zum Himmel auf."

    Die Erzählung, Realitätswahrnehmung, Traum und Halluzination ineinander verschiebend, behauptet sich als ein Jetzt, dem nichts vorausgeht als die Angst, die es gebiert. Die Schreibende setzt sich noch einmal der Nacht ihrer barbarischen Kindheit aus; sie ist wieder die kleine Colette, ausgeliefert dem Terror eines finsteren und verlogenen Katholizismus am Tag und den von ihm erzeugten Albträumen in der Nacht.

    Die Beunruhigung, die von diesem Text ausgeht, rührt daher, dass Peignot die Innen- und Außensichtperspektive zugleich einnimmt. Der mimetische Impuls erneuert in der Schreibenden die Angst und die Schuldgefühle des kleinen Mädchens, aber der analytische erforscht in der Geschichte einer individuellen Kindheit zugleich die Erfahrung eines anderen Zustands. Denn bereits der Eingang des Fragments lässt ahnen, dass es hier um etwas anderes geht als um Literatur: Colette Peignot führt den Begriff des Heiligen, des sacré, um den Batailles Denken kreist, ins Leben zurück.

    Die Angst der kleinen Colette nacherlebend hört Peignot die Schreie der Kinder in der Nacht, einen gewaltigen Chor des nach Leben verlangenden Lebens. Sie sieht wieder die harten Hände der Mutter, die ihr das Leben entreißen wollen im Namen einer widernatürlichen Ordnung, über der ein niemals sich schließendes Auge wacht. Die Religion dieser Mutter besteht aus Karfreitag und Aschermittwoch, aus dunklen Beichtstühlen, wo gierige Priester mit obszönen Gesten nach dem Kind greifen, aus grotesken Prozessionen und Begräbniszeremonien. In der Kapelle der Sieben Schmerzen geht das Kind zur Beichte:

    "Ich strengte mich an, mir Sünden auszudenken [...] Der Priester empfing mich in einem düsteren Gelass, das ich betrat mit Schrecken erfüllt, und nahm mir die Beichte ab auf seinen Knien."

    Die Hände der Mutter, die perverse Autorität des Priesters und über allem das Auge des großen Unsichtbaren – das Kind hat für sich nur die Angst. Die Angst ist, buchstäblich, der tragende Grund seines Daseins.

    "Wenn alles, was in mir zu leben begehrte, wenn alle latenten Möglichkeiten zum Ausdruck kämen, so wäre es die totale Angst, der Paroxysmus der Unruhe – die Negation in der Exaltation."

    Die Wut der kleinen Colette noch einmal durchlebend, spürt die Erinnernde, wie das Auge des großen Unbekannten sich vervielfältigt. Sie steht wieder allein in einem Meer von Blicken, die sie alle verurteilen, während sie selbst, als wüsste sie schon, dass sie diesem Urteil mit nichts als der verzweifelten Energie der Selbsterniedrigung würde standhalten können, ihre Umgebung durch die Augen des perversen Irren wahrzunehmen beginnt, dessen schemenhafte Gestalt zu den Schrecken der Abenddämmerung im Garten ihres Elternhauses gehört.

    Das Kind muss, wenn es zur Wirklichkeit kommen will, sich klein machen; es muss ganz leicht werden, seinen Körper zum Verschwinden bringen, um unberührbar zu sein, es darf nie da sein, wo man es sucht; es muss immer anderswo sein, auf seinem wehenden Vorhang schwebend in der Nachtluft.


    Vorläufig freilich begehrt das Kind nichts als einfach zu leben, aber das Gesetz, das die Familie vor ihm aufgerichtet hat, ist der Tod – der "Tod für’s Vaterland", der, viermal gestorben, die Familie im Paris des Ersten Weltkriegs zur Legende macht. An der Hand von Frauen in Trauerkleidern läuft das Kind hinter Särgen her, durch die rue des Quatre Frères, deren Namen die Toten seiner Familie ehren soll. Im Totenkult der Frauen wittert es die Verlogenheit einer moralischen Weltordnung, die sich durch das Opfer legitimiert. Es richtet die zurückgestauten Lebensenergien auf die Beobachtung des Schmerzensausdrucks, den die Trauernden zur Schau tragen, angeekelt von der Komödie, in der es seine Mutter die Regie führen sieht.

    Mit acht Jahren sei sie ein "perfekter Affe" gewesen, ein kleines Mädchen aus guter Familie, wie auch die nur wenig jüngere Simone de Beauvoir eins gewesen ist. Unter dem Druck der patriotischen Stimmung zu Beginn des Ersten Weltkriegs erlebt sie den Zusammenbruch ihrer kindlichen Revolte gegen eine Umwelt, deren Inauthentizität sie mit ohnmächtiger Wut durchschaut: die heroischen Gesten der Verwandten, die sich im Opferkult überbieten.

    Noch ohne ein bestimmtes Bild von sich selbst hat das Kind nichts als seinen Hass, um sich gegen die Gewalt zu wehren, die von dem Bild des Gekreuzigten ausgeht. Es spaltet sich in ein äußerlich gefügiges kleines Mädchen, das in dem bigotten Trauerspiel der Mutter die ihm zugeteilte Rolle übernimmt, und ein mit sich selbst noch unbekanntes, anderes Dasein, außerhalb jeder Ordnung. Aber inmitten des Trauerchors, der es umgibt, beginnt das Kind zu ahnen, dass es gezeichnet ist.

    Diesem anderen Ich werden seine intensiven Erfahrungen mit dem Tod zur Initiation. Es hat mehr als einmal erlebt, dass die Distanz, die das Ritual der Bestattung vor dem kreatürlichen Faktum des Todes errichtet, zusammenbrechen kann. Die Schreibende erinnert sich an makabre Erlebnisse: Wie dem Sarg einer engelhaft schönen kleinen Spielgefährtin ein grauenvoller Verwesungsgeruch, vermischt mit dem Duft von Rosen, entströmt war oder an den Gestank plötzlich ausgetretenen Leichenwassers, das sich über die Sargträger ergossen hatte, an das dadurch in ihr erregte Gefühl von Grauen, Ekel, Lust und Trauer.

    Sie erinnert sich an den unwiderstehlichen Lachreiz, mit dem das Kind während der vielen Beerdigungen jedesmal zu kämpfen hatte. In solchen unterdrückten Gesten der Transgression, die Bataille in seinen Vorlesungen beschreiben wird, kündigt sich der Wirkmechanismus des Heiligen an, einer Ekstase ohne Gott. Die kleine Colette aber lernt, Gefühlsambivalenzen auszuhalten und auf Wahrnehmungssicherheit zu verzichten.

    Das Kind der Geschichte ist erfüllt von einem durch nichts zu befriedigenden Drang nach Erkenntnis. Es muss die Sphäre, in die es eingedrungen ist, ganz ausschreiten, in alle Richtungen, des Verruchten und des Sublimen. Es beginnt, seinen Körper zu erkunden, seine einzige, sinnlich fassbare Wirklichkeit.

    Über seinen Körper findet das Kind keinen Zugang zu dem, was es wahres oder wirkliches Leben nennt, so erfindet es Spiele, Einübungsrituale in eine Sphäre, der es noch keinen Namen geben kann, Experimente, bei denen es die Grenzen seiner Empfindungsfähigkeit auslotet. Peignot bezeichnet solche Zustände als präsakral. Im Garten, an einem Abhang liegend, den Kopf hintenüber gebogen, versucht das Kind, sich die Unendlichkeit vorzustellen.

    "Eine furchtbare Angst erfasste mich, aber ich bewegte mich nicht und es gelingt mir bald, die sich drehende Erde zu spüren Mein Kopf, der in dieser Haltung geblieben war, bewegte sich tatsächlich und heftig."

    Derart gerät die kleine Colette auf die Spur einer luziferischen Revolte, die vor ihr Michelets Hexe und Rimbaud gefunden hatten: die Erneuerung mimetischer Praxen, in denen sich das satanische Prinzip der Umkehr verbirgt, die Rehabilitation des Unreinen, der part maudite. Rimbaud ist in der Tat einer der wenigen Künstler, die Peignot anerkennt, weil es ihm nicht nur um das Werk, sondern um Kommunikation geht in dem sakralen Sinn, den das Wort bei ihr hat. Weil auch er die eigene Monstrosität angenommen hat als Bedingung der totalen Authentizität.

    Vor den Ankleidespiegeln der Mutter wiederholt das Kind ein gefährliches Experiment der Ich-Auflösung. Dem Blick auf die Unzahl der Spiegelbilder seines Kopfes vermag die Gewissheit der körperlichen Einheit nicht standzuhalten, aber das Experiment endet in einer neuen und folgenreichen Erfahrung: Die Unendlichkeit ist - nichts, ein leerer Raum nur, in dem sich das Spiegelbild verliert. Das Kind hat aber einen unbändigen Hunger nach Wirklichkeit.

    Viele lange Jahre hindurch lebt Peignot in einem qualvollen Zustand der Erwartung – auf etwas, für das sie keinen Namen hat. Wenn sie jetzt anfängt zu schreiben, so tut sie dies nicht, um Literatur hervorzubringen, aber auch nicht, um, wie es so viele ihrer Vorgängerinnen versucht haben, schreibend das eigene Leben wirklich zu machen. Sie weiß vorläufig nur, dass sie "zum Äußersten" gehen muss.

    "Ich begann, laute Schreie auf Papierfetzen zu werfen. Diese Zeilen fassen meinen tatenlosen Widerstand zusammen. Werde ich jemals in der Lage sein, der Wirklichkeit einen Zug meines Willens einzuprägen!"

    Colette Peignot lässt ihre Schreie "wahr sprechen". Sie wagt eine große Geste "totaler Authentizität und vollkommener, nackter Ehrlichkeit", wie sie sie an den Surrealisten bewundert. Sie verletzt die Sprachtabus, die ihre Kindheit zerstört haben und vernichtet dadurch die Lebenslüge der Mutter. Sie kündigt ihren Austritt aus dem Glauben an und deckt den jahrelangen Missbrauch ihrer älteren Schwester durch den Beichtvater der Familie auf.

    An diesem Tag liegt die Welt nicht mehr unter dem Blick des großen Unsichtbaren, sondern bietet sich ihren Sinnen dar in der Einfachheit der Dinge. Nur an diesem Tag glaubt die junge Colette daran, dass das Leben sich ihrem Traum beugen werde und dass sie nicht abtrünnig werden würde. Es ist ihre zweite Geburt: als freier Geist. Sie weiß nicht, wohin sie gehen wird, aber sie weiß, wo sie ist: contre tous, gegen alle, reine Revolte.

    Die "große Loslösung", zu der Peignot sich entschlossen hat, ist Nietzsche zufolge die Bedingung der Souveränität der freien Geister, aber sie nimmt nicht selten die Züge der Krankheit an. Peignot kennt den Preis dieser Freiheit: Sie ist bereit, den Widerspruch, der sie ist, anzunehmen. Aber die absolute Revolte ist ein ungeschützter Ort.

    Über das Leben, das Colette Peignot nach ihrer großen Loslösung und der Trennung von ihrer Familie geführt hat, sind die unmittelbaren Zeugnisse spärlich. Bereits sehr aus dem Gleichgewicht gebracht, versucht sie, sich ihre Existenz in der politischen Aktion zu beweisen. Sie unternimmt eine offenbar chaotische Reise in die Sowjetunion und arbeitet, enttäuscht zurückgekehrt, mit der linken Zeitschrift La Critique sociale zusammen, deren Herausgeber, Boris Souvarine, sie eine kurze Phase der Beruhigung verdanken mag, bevor sie realisiert, dass das politische Engagement ihr inzwischen zur Gier gesteigertes Bedürfnis nach Wirklichkeit nicht zu stillen vermag. "Warum können unsere Handlungen nicht ganz wir selbst sein?" fragt sie sich. Ein von den Surrealisten geschätzter Psychoanalytiker, bei dem sie Hilfe sucht, kommt an den Zustand zwischen Psychose und Neurose nicht heran, der ihm keine sichere Diagnose erlaubt.

    In dieser Situation trifft Colette Peignot auf Georges Bataille. In seinem philosophischen Glaubensbekenntnis vermag sie sich zu erkennen. Batailles Credo: "Ich sterbe, also bin ich" gibt nachträglich der Existenz des kleinen Mädchens ihrer Geschichte einen Namen, Angst. Die Rebellion des Kindes verwandelt sich nun in die Passion der Frau.

    Die Begegnung von Bataille und Peignot im Winter 1937 fällt in die Zeit der Gründung des Collège de Sociologie, wo im Anschluss an die Theorien von Durkheim und Mauss nach den Konstitutionsbedingungen von Gesellschaft geforscht wird mit dem Ziel, das gewonnene Wissen als Hebel radikaler gesellschaftlicher Veränderung einzusetzen. Wenn nämlich, wovon Bataille und der ihm befreundete Roger Caillois überzeugt sind, das Heilige den Kern jeder Gesellschaft ausmacht, dann müsste es möglich sein, durch dessen Restauration der zerfallenden bürgerlichen Gesellschaft – es ist die des siegesgewissen Nationalsozialismus – einen neuen Zusammenhalt zu geben, sie in Gemeinschaft zurückzuverwandeln.

    "Das Wesen des Heiligen, worin wir heute die brennende Existenz der Religion erkennen, ist vielleicht das, was sich als das Unfassbarste zwischen Menschen ereignet, denn das Heilige ist nur ein privilegierter Augenblick kommunieller Einheit, ein Augenblick konvulsivischer Kommunikation von allem, was normalerweise unterdrückt wird."

    Im Licht dieser Philosophie erscheinen die Experimente des kleinen Mädchen als Präexistenz, der nur zwei Momente fehlten, um heilige Existenz zu sein: das Opfer und die Kommunikation in dem sakralen Sinn, den das Wort bei Bataille hat. Es sind dies aber die Momente, die das Arkanum des Collège ausmachen: ein gemeinschaftlich zu begehender Mord an einem freiwilligen Opfer als gemeinschaftsstiftende Handlung.

    Dem Selbstverständnis der Mitglieder nach ist das Wesen des Collège die Überschreitung von Philosophie und Literatur, eine Art luziferische Erneuerung des Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus, inspiriert von Dostojewskis Dämonen. Für das zerrissene Selbstbild der Frau muss es von ungeheurer Anziehungskraft gewesen sein, die Verheißung von Wirklichkeit. Bataille jedenfalls erscheint ihr als eine Art Religionsstifter, in dessen ekstatischer Vorstellung des Heiligen nachträglich die Revolte des kleinen Mädchens zu ihrer Wahrheit kommt.

    "Die Revolte - das in der Liebesekstase aufgelöste Antlitz - entreisst Gott seine naive Maske, und die Unterdrückung geht unter im Zusammensturz der Zeit. Die Katastrophe ist es, durch die ein nächtlicher Horizont sich entflammt, durch die die zerrissene Existenz in Trance fällt - sie ist die Revolution."

    Es gibt einen Hinweis aus dem Freundeskreis, wonach Colette Peignot bereit gewesen wäre, sich zu opfern, sich aber niemand gefunden hätte, das Opfer zu vollziehen. Dieses Opfer wäre aber ihre Tat gewesen, ein letztes Zeugnis ihrer Entschlossenheit, zum Äußersten zu gehen - sich in Wirklichkeit, nicht durch Literatur zu kommunizieren.

    "Das Äußerste ist anderswo. Es wird nur in der Kommunikation ganz erreicht [...] Welchen Ausdruck man auch finden mag, um es zu bezeugen: das Äußerste bleibt doch davon unterschieden. Es ist niemals Literatur."

    Für die Wirklichkeit des Phantasmas einer absoluten Revolte bürgt im gemeinsamen Leben der Liebenden ein mystischer Augenblick, ähnlich demjenigen, den Lou Andreas-Salomé und Nietzsche auf ihrem monte sacro in Orta erlebt haben: die Wanderung zum Ätna und der Blick in den grundlosen Schlund, eine Gotteserfahrung in der Finsternis, wie die Mystikerin Angela von Foligno sie beschrieben hat.

    "Dieser Aufstieg zum Ätna hatte für uns eine extreme Bedeutung [...] Es war ein Augenblick der Zerreißung, als wir uns über die klaffende Wunde beugten, über den Riss in dem Gestirn, auf dem wir atmeten."

    Die Zeichnung, die André Masson nach dieser Beschreibung macht und Colette Peignot schenkt, bewahrt nach ihrem Tod Bataille in seinem Schlafzimmer auf. Die "extreme Bedeutung" dieser gemeinsamen Erfahrung, die in der Erinnerung der Beteiligten allmählich zur Legende wird, besteht in der Ersetzung christlicher Heilsvorstellungen durch ein neues Heiliges, das sich kommuniziert.

    Unter dem Auge eines Gottes, der alles sieht, immer und überall, war ihre Kindheit zum Alptraum geworden; in ihrer Beziehung zu Bataille entkommt Peignot jenem Auge nicht. Denn im Blick des Geliebten, den sie zum être humain total erhebt, zum ganzen Menschen, fallen Herrschaft und Leiden zusammen.

    "Und jetzt begriff ich, dass, was immer Sie täten, Sie immer da sein würden - Sie würden mich immer wiederfinden - Sie waren das Auge, das ich weiß nicht mehr wen in einem Gedicht verfolgte [gemeint ist hier wohl Rilkes Archaischer Torso Apollos] [...] Die christlichste Zeit meines Lebens habe ich bei dir gelebt."

    Die Herausgeber der Fragmente Peignots haben die Liebe von Laure und Bataille beschrieben als eine "atheologische Göttliche Komödie", ein Inferno aus dissonanten Stimmen. Bataille, ohnmächtig, dem Schatten des toten Gottes zu entfliehen, lebt eine pathetische Philosophie des Todes, oder, in seinem Begriff, der Negativität. Mit Gott ist auch die Sünde gestorben und jede Möglichkeit, das Dasein zu rechtfertigen. Die einzige Rechtfertigung der sinnentleerten Negativität, als die Bataille sich begreift, ist der Schmerz:

    "Ich stelle mir vor, dass mein Leben, oder seine Fehlgeburt, noch besser, die offene Wunde, die mein Leben ist - für sich allein die Widerlegung des Hegelschen Systems bildet [...] Ich habe für mich keine andere Rechtfertigung als die eines heulenden Tiers, dessen Pfote in einer Falle steckt."

    Peignot versteht diesen Schrei wörtlich: Sie ist diese offene Wunde. In einem Akt heroischer Mimesis überbietet sie, als Laure, die sinnlose Negativität der in der Person Batailles verkörperten Philosophie. Sie erkennt nicht, dass ihr darin die Umkehrung der luziferischen Transgressionen des kleinen Mädchens, das sie war, entgegentritt. Für Bataille selbst ist, nach ihrem Tod, ihre Geschichte mehr als Literatur, nämlich die "strenge und berauschte Suche nach dem wahren Leben, der Ausdruck eines authentischen Daseins."

    "Niemals bin ich einer Erscheinung begegnet, so unnachgiebig und rein wie sie, noch einer entschiedener souveränen, dabei gab es doch in ihr nichts, das nicht dem Schatten verfallen war."

    Die Erscheinung von Laure, die ihre Souveränität in der Selbsterniedrigung sucht, bezeugt für Bataille den mystischen Punkt, in dem Reinheit und Unreinheit zusammenfallen.

    "In manchen Augenblicken meine ich, ich müsste etwas tun, das mich in Ihren Augen vernichtete. Widerwärtiger sein können, mich widerwärtiger machen als das, was Sie am meisten auf der Welt verabscheuen [...] Ich bin wieder wie eine Hündin heute - Chauffeur, fahren Sie irgendwohin, zur Hölle, zur Müllhalde, zum Bordell, zum Schlachthof. Ich muss verbrannt werden, gevierteilt, mit Kot bedeckt und nach jedem Unflat stinken, damit ich Dich genug anwidere [...] Manchmal fange ich an zu brüllen wie ein verwundetes Tier."

    Gegen die tödliche Philosophie Batailles gibt es in Colette Peignot, vielleicht von Anfang an, einen geheimen Widerstand. Was sie sucht, ist ja das wahre Leben, das sich als Mitteilung wirklich macht. Sie will nicht Herrschaft, sondern Wirklichkeit. So beginnt, nachdem sie den Bezirk des Heiligen ganz durchmessen hat, Laure sich zurückzuverwandeln in Colette Peignot. Es dämmert ihr, dass das Leben im Schatten Batailles den ursprünglichen Stolz des kleinen Mädchens in ihr zu zersetzen droht. Sie erkennt, dass sie dabei war, sich zum Opfer für die Schimäre eines anderen zu machen und nicht zum Subjekt der Souveränität.

    "Warum habe ich stets, wenn ich meinen Gedanken bis zum Ende verfolgte, das Gefühl, das zu verraten, was mir das Liebste auf der Welt ist, und mich selbst zu verraten."

    Sie spürt, dass sie auf dem Weg ist, noch das kostbare Stück Wirklichkeit zu verlieren, wofür die Rebellion des Kindes in ihrer Geschichte bürgt, den Stolz, und das Recht auf ihren eigenen Tod. Du darfst nichts anerkennen, was dich klein macht, beschwört sie dieses Kind in sich. Was hast du zu tun mit diesen Statisten, die nur die Komödie des Übermenschen aufführen wollen "in der Sprache eines Papageien, der die Schrift liest"? Was geht dich dieser polymorph perverse Komödiant an, der eine für ihn viel zu große Rolle spielt? Es ist Zeit zuzugeben, fordert sie sich auf, dass die Religion des Verbrechens, der Mythos der Transgression die gleiche Wirkung hervorbringen wie die Tugend, nämlich verkleinern, verneinen, vernichten. Und jetzt klingt das Motiv an, mit dessen Hilfe es Colette Peignot gelingt, die Rolle Laures abzulegen.

    "Die Zeit der Verachtung wird kommen, aber sei wachsam, damit es eine Verachtung ohne Hass wird, ohne Feindseligkeit, eine ganz einfache Verachtung, ganz still, ihrer selbst sehr sicher und nicht in Gefahr, in hämische oder hysterische Allüren zurückzufallen, ohne falsche Fröhlichkeit, ohne bittere Trauer.
    Nichts ist verloren
    denn ich lebe
    Alle Flüsse
    werden zurückgeflossen sein
    Alle Strömungen
    das Meer und die Wellen
    Ziel: den christlichen Geist und seine Entsprechungen zerstören, wie Todesinstinkt, Identifikation mit dem Tod, Opfer, Staub, Abschwächung."


    Peignots Verachtung trifft die "luziferischen Grimassen" der Priester eines Heiligen, hinter denen sich doch wieder nichts verbirgt als der Wille zur Macht. Sie hat verstanden: Das "Ich, das stirbt", braucht den Tod als Instrument seiner Selbstermächtigung. Sie will leben, ohne sich anklagen oder rechtfertigen zu müssen, sie will weder Opfer noch Schuldige sein. Sie ruft das Kind, das sie war, in seiner ungeschmälerten Aggressivität an, um ihre letzte Gebärde zu wagen, in der Erhebung und Erniedrigung eins werden: mit ihrem Kopf die Erde zu berühren.

    Das Kind verschwindet, aber es ist zugleich als ein anderes da, ailleurs, anderswo, mit tausend Füßen, um allen davonzulaufen, mit Stacheln, um alles von sich abzuwehren, mit Flügeln, um über allem zu schweben. Es ist da, ein kleines Bündel Angst, umstellt von einer "verlogenen und lächerlichen Meute" von Verwandten und Erziehern, die einen Graben um "den Garten der Kindheit" ziehen, und es ist anderswo, getragen von den wehenden Vorhängen seines Kinderzimmers in ein Reich, wo es unberührbar ist, rein und unrein.

    Dieses Anderswo steht nicht unter dem Auge des Unsichtbaren. Es ist der Einspruch des Lebens gegen seine Enteignung. Colette Peignot ist einem doppelten Enteignungsprozess ausgeliefert gewesen: Die Bigotterie der Mutter hat ihrer Kindheit das Leben entwendet, und gegen Batailles Philosophie der Verausgabung, hat sie ihren eigenen Tod verteidigen müssen. Im Namen des namenlosen Lebens wehrt sie sich gegen eine ziellose Dialektik von Negation und Affirmation.

    "Und ihr Schlauköpfe, die ihr von dieser Negation
    ‚welche Affirmation!’ denkt
    Wisst, es hat Gespenster gegeben
    ja es ist wahr
    zu der Zeit als ich nicht das Leben sondern die Randbezirke des
    Todes bewohnte
    wo meine Füße den Boden nicht berührten
    ihr glaubtet dass ich da wäre neben euch ausgestreckt
    in Wirklichkeit flog ich
    schwebend... zwischen Decke und Fußboden
    mit dieser Neigung immer
    ANDERSWO zu sein."


    Peignot hat dem Wunsch, den sie vielleicht verspürte, dieses ANDERSWO zu beschreiben, nicht nachgegeben. Sie hat zeitlebens der veröffentlichten Literatur misstraut, weil SCHREIBEN für sie heilige Handlung war, Vernunft, die sich kommuniziert, indem sie sich verrückt.

    Als Colette Peignot tot ist, findet Bataille in ihrer Tasche einen Zettel mit einem Text, den er als eine Art Vermächtnis versteht, weil sie darin den oben zitierten Satz über das Heilige als privilegierten Augenblick kommunieller Einheit zu präzisieren versucht:

    "ich will, mit aller Deutlichkeit, mich betreffend, die Bedeutung der letzten Zeilen ergänzen: Identität mit der Liebe."

    Colette Peignots Willen gemäß widersetzt sich Bataille dem Drängen ihrer Familie auf eine christliche Beerdigungszeremonie.


    Am kommenden Sonntag bringen wir einen philosophischen Essay von Michael Reitz über die Metaphernlehre Hans Blumenbergs.