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Law and order für Bullen und Bären

Die Sendereihe "Wegmarken" greift Schlagworte auf, die den öffentlichen Diskurs 2008 geprägt haben und auch über die Jahreswende hinaus weiter prägen werden. Namhafte Autoren beschäftigen sich in Radio-Essays mit aktuellen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen.

Von Friedhelm Hengsbach | 25.12.2008
    Kapitel I
    Die Zeitenwende –
    Die Finanzkrise pulverisiert ein ökonomisches Weltbild


    Dass die US-amerikanische Kredit- und Bankenkrise die deutsche Wirtschaft nicht verschonen würden, hatten einige unterschwellig längst geahnt. Aber wohl kaum, dass sich eine Art Tsunami über Deutschland hinweg wälzen würde. Alle waren überrascht von dem Ausmaß der Krise. Der deutsche Finanzminister zögerte zehn Tage lang, bis er eingestand, dass der schwarze September an den Börsen tiefe Spuren hinterlassen werde, dass die Welt nicht wieder so sein werde wie vor der Krise, und dass die Deutschen sich in nächster Zeit auf niedrige Wachstumsraten und ungünstige Arbeitsmarktzahlen einstellen müssten. Vorher hatte er noch erklärt, dass ihm die Warnungen vor einer Rezession in Deutschland rätselhaft vorkämen, dass die Finanzkrise vor allem ein amerikanisches Problem sei und dass Deutschland sich nicht an dem Rettungspaket der US-Regierung beteilige.

    Nach dem Zusammenbruch der Lehmann-Brothers-Bank stürzten die Aktienkurse jedoch ins Bodenlose. Die Kreditvergabe zwischen den Banken trocknete aus, der Geldverkehr brach zusammen, das Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit der Partner war zerstört. Die Börsenmakler verfielen mit ihren Kommentaren in eine düstere Dramatik. Eine solche Krise habe es seit der Aufkündigung des Bretton-Woods-Währungssystems vor 35 Jahren nicht gegeben. Schon bald wurde der geschichtliche Bogen weiter gespannt bis zur Weltwirtschaftskrise in den 1930-er Jahren. Das säkulare Ereignis, das einem Vergleich standhielt, war der Börsenkrach 1929 vor 80 Jahren. Dabei hatte es auch in den 1970-er Jahren massive Schwankungen der Wechselkurse gegeben. Anfang der 80-er Jahre konnten zahlreiche Schwellenländer ihre Auslandsschulden nicht mehr begleichen. 1997 riss die Asienkrise weite Bevölkerungsteile der Tigerstaaten in Armut und Elend. Als die Spekulationsblase des technikbasierten "Neuen Marktes" geplatzt war, brachen die Wachstumsraten in allen Ländern der Welt ein - noch vor dem terroristischen Angriff auf das Welthandelszentrum im September 2001. Aber die aktuelle Finanzkrise übersteigt das Ausmaß solcher Krisen und ist beispiellos, weil ihre Wurzeln im Kern des Finanzkapitalismus, in den Vereinigten Staaten selbst, liegen.

    Ein ganz auffälliges Kennzeichen der aktuellen Finanzkrise ist der öffentliche Widerruf jener marktradikalen, wirtschaftsliberalen Bekenntnisse, die von wirtschaftlichen und politischen Eliten 30 Jahre lang verbreitet wurden. Josef Ackermann gab zu verstehen, dass er nicht mehr an die Selbstheilungskräfte der Märkte glaube. Auch die vollmundigen Parolen, dass der schlanke Staat der beste aller möglichen Staaten sei, sind plötzlich verstummt. Ebenso ist der kollektive Mikroblick abgelegt, dass etwa die Arbeitslosen zur Aufnahme von Erwerbsarbeit motiviert und besser qualifiziert werden müssten. Dass für die Gesamtwirtschaft vorteilhaft sei, was den einzelnen Unternehmen Nutzen bringt, nämlich Löhne, Steuern und Abgaben zu senken. Umgekehrt werden makroökonomische Lösungswege, die jahrzehntelang tabuisiert waren, offen diskutiert. Sogar der Sachverständigenrat, der die Wachstumsschwäche und hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland ständig und ausschließlich in verkrusteten Arbeitsmärkten und überzogenen Lohnforderungen begründet sah, fordert nun angesichts der realwirtschaftlichen Folgen der Finanzkrise von der Regierung ein massives Konjunkturprogramm. Im Film: "Good bye, Lenin" fällt eine Mutter vor dem Fall der Mauer ins Koma. Als sie nach ein paar Monaten aufwacht, begreift sie die veränderte Welt nicht mehr. Ähnlich überraschend wirken die Aussagen wirtschaftspolitischer Wendehälse seit der Finanzkrise.

    Kapitel II
    Die Ursachensuche –
    Die Erklärungsversuche der Banker greifen zu kurz


    "Die Banken haben Fehler gemacht, sicher." Es ehrt den Vorsitzenden des Aufsichtsrats der Commerzbank, Klaus-Peter Müller, dass er in der aktuellen Finanzkrise ein fehlerhaftes Verhalten der Finanzakteure einschlussweise der Finanzmanager eingesteht. An welche Fehler mögen führende Banker denken? Teilen sie die öffentliche Empörung über "die große Gier" kleiner Wertpapierhändler, die angeblich ahnungslose Kunden über den Tisch gezogen haben? Oder stimmen sie Hilmar Kopper, dem Erfinder der "peanuts" im Kreditgeschäft, zu, der meint, er könne das Wort "Gier" genauso wenig mehr hören wie die politisch aufgeheizte Empörung über die Spitzengehälter der Manager? Ich finde, dass die Neigung, die Finanzkrise durch persönliches Fehlverhalten zu deuten, einen blinden Fleck der Diagnose aufdeckt. Die Spielzüge der individuellen Akteure mögen fehlerhaft oder korrupt sein. Schwerer wiegt jedoch der Verdacht, dass die Spielregeln fehlerhaft sind und das Regelsystem korrumpiert.

    Sobald die Finanzexperten daran gehen, Systemfehler im Nachhinein aufzuspüren, entdecken sie in erster Linie "finanztechnische" Störfaktoren. Da seien waghalsige Geschäfte getätigt worden, die den Akteuren kurzfristige Erfolge signalisierten. Man habe innovative Finanzdienste entwickelt, riskante Kredite verbrieft, solche Verbriefungen gebündelt, wieder zerlegt, neu strukturiert, versichert, global gehandelt und in nicht mehr überschaubare Finanzströme eingeleitet, ohne die dadurch entstehenden Risikoketten und deren Rückkopplungen im Blick zu behalten. Eine solche "finanztechnische" Analyse der Finanzkrise ist in der Tat unverzichtbar. Aber zu einer überzeugenden Analyse gehören zwei weitere Dimensionen, eine kulturelle und eine politische Dimension.

    Zahlreiche Finanzmanager in Deutschland haben sich in den vergangen Jahrzehnten äußerst naiv der Suggestion des angelsächsischen Finanzstils ausgeliefert. Den kontinental-europäischen und deutschen Finanzstil, insbesondere die personellen kreditbasierten Verflechtungen zwischen Geschäftsbanken und Industrieunternehmen, hielten sie für verkrustet und unrentabel. Das Unternehmen als Netzwerk unvollständiger Verträge zu deuten, fanden sie lästig. Betriebswirtschaftliche Kennziffern erwiesen sich als unangemessen angesichts der Einbindung der Unternehmen in den volks- und weltwirtschaftlichen Geldkreislauf. Die Aktionäre mussten sich als "Eigentümer" der Unternehmen vernachlässigt vorkommen. Die solidarischen Sicherungssysteme sowie die tendenziell egalitäre Einkommens- und Vermögensverteilung erschlossen nur begrenzte Gewinnchancen auf den Kapitalmärkten. Demgegenüber bot sich der anglo-amerikanische Finanzstil als faszinierende Alternative an: Auf anonymen Märkten für Wertpapiere und Derivate operieren Großbanken, Versicherungskonzerne, Investmentgesellschaften und Finanzinvestoren mit den entsprechenden Ratingagenturen. Die Unternehmen werden ausschließlich über die Finanzkennziffer des "shareholder value" kontrolliert. Auf dessen kurzfristige Steigerung ist die Geschäftspolitik der Manager gerichtet. Der glänzende Schein des marktgetriebenen Finanzkapitalismus hat die Bankmanager geblendet. Seine destruktive Wirkung hat jedoch alle getroffen.

    Kapitel III
    Der Komplize -
    Wie der Staat dem Crash den Weg bereitet hat


    Als die Zauberwelt des überschuldeten Finanzkapitalismus zusammenfiel, riefen die Zauberkünstler nach dem Staat, das Kartenhaus zu retten. Hastig flüchteten sie sich unter den aufgespannten Rettungsschirm. Aber der Staat ist nicht die Rettung aus der Krise, sondern deren Bestandteil. Dies lässt sich zweifach belegen: Erstens sind die Gesetze zur Entregelung der Arbeitsverhältnisse und die zur Entregelung der Finanzwirtschaft zwei Seiten einer politischen Option. Und zweitens lässt sich der Staat beim Schnüren des Rettungspakets von den Finanzunternehmen als kooperative Geisel vereinnahmen.

    Die rot-grüne Koalition hat seit 2001 die solidarischen Sicherungssysteme systematisch deformiert. Das Niveau eines angemessenen Lebensstandards wurde tendenziell auf ein soziokulturelles Existenzminimum abgesenkt. Das Eintreten gesellschaftlicher Risiken erklärte man durch individuelles Fehlverhalten. Die solidarischen, umlagefinanzierten Sicherungssysteme wurden abgeschmolzen, private kapitalgedeckte Formen der Vorsorge propagiert. Gesetze zur Befristung, Leiharbeit, zur prekären Beschäftigung und Lockerung des Kündigungsschutzes sowie Vorbehalte gegen den Flächentarifvertrag haben die Arbeitsverhältnisse sozial entsichert. Die asymmetrische Steuerpolitik hat die Schere der Verteilung von Gewinn- und Lohneinkommen sowie der Vermögen zunehmend geöffnet. Dieser Entregelung der Arbeitsverhältnisse entsprach spiegelbildlich die Entregelung der monetären Sphäre. In der zweiten Legislaturperiode der rot-grünen Koalition wurden die Beschränkungen des Börsenhandels gelockert, der Derivatehandel zugelassen und die Gewinne der Banken aus dem Verkauf der Industriebeteiligungen für steuerfrei erklärt. Hedgefonds wurden als Dachfonds zugelassen und die Verbriefung von Krediten steuerlich begünstigt. Die große Koalition war dann bemüht, innovative Finanzdienste und Vertriebswege zu fördern sowie Kapitalbeteiligungsgesellschaften steuerlich privilegiert zu behandeln.

    Die deutsche Regierung hat auf den Notschrei der Finanzeliten unverzüglich reagiert. Vermutlich hatte sie keine andere Wahl, nachdem die irische, englische und französische Regierung bereits weit vorgeprescht waren. Oder sie fühlte sich durch die dramatisierte Lagebeschreibung der Mega-Banken und der öffentlichen Finanzaufsicht unter Zugzwang gesetzt. Die Art, wie sie reagierte, entsprach der aufgeregten Inszenierung des Börsenpublikums. Sie handelte isoliert, kurzatmig, übertrieben und spektakulär. Zwar widersprach kaum jemand Finanzminister Steinbrück, der meinte, dass er zuerst die Unfallstelle räumen müsse, bevor er diejenigen zur Rede stellt, die den Schaden verursacht hätten. Und dass er unverzüglich das Feuer zu löschen habe, auch wenn es sich um Brandstiftung handelt. Allerdings lag die Unfallstelle im Nebel; die mutmaßlichen Nebelwerfer unternahmen wenig, um den Nebel zu lichten. Konnten die Krisenherde nicht präziser ausgeleuchtet werden? Waren es gar die öffentlichen Banken, die den Riesenanteil an der ausgelösten kritischen Kettenreaktion trugen? Dass die Regierung die Brandstifter ans Lenkrad des Löschzugs setzte, derart privilegiert am Schnüren des staatlichen Rettungspakets beteiligte und sie gegen die Öffentlichkeit und das Parlament abschirmte, war wohl vorschnell. Man hätte zuerst auf die Liquiditätshilfen der Notenbanken setzen und dann die Mächtigen unter den Finanzunternehmen bedrängen sollen, selbst Vorleistungen wechselseitigen Vertrauens zu erbringen und sich subsidiär zum solidarischen Beistand zu entschließen. Hat die Regierung gar mit der Parole: "Wenn der Himmel einstürzt, sind alle Spatzen tot" die Deutungsmuster der Finanzeliten leichtfertig übernommen? Ist ein Verblendungszusammenhang der politischen und finanziellen Eliten strafrechtlich relevant? Wohl nicht, denn vertraglich gesicherte Treuepflichten wurden eher nicht - weder mutwillig noch fahrlässig - verletzt. Es hat den Anschein, als gebe es eine Leiche, aber keine Täter. Von Kapitalverbrechen zu reden, scheint mir unzulässig, zumindest überzogen zu sein.

    Kapitel IV
    Die Suche nach Antworten –
    Wie der Staat das Primat der Politik zurückerobern kann


    Obwohl gerade die Privatbanken am lautesten nach dem rettenden Staat gerufen haben, hat sich wider Erwarten nur eine geringe Zahl von ihnen dem komfortablen Schirm anvertraut, der über die Finanzwirtschaft ausgespannt wurde. Kann es sein, dass vor allem öffentliche Banken die Staatshilfe benötigen? Der Staat ist in die wirtschaftspolitische Arena zurückgekehrt. Aber welcher Staat? Ein umtriebiger Interventionsstaat, der Aufputschmittel an die Banken verteilt, damit sie zügig das Kreditgeschäft ausweiten? Oder gar ein Staat, der öffentliche Mittel mobilisiert, damit die Banken weiter so wie bisher riskant spielen? Die Regierung versicherte, dass der Notoperation ein Ordnungsrahmen folgen werde, der die Finanzmärkte dauerhaft stabilisiert.

    Inzwischen hat die Finanzkrise die realwirtschaftliche Lähmung verschärft und eine konjunkturelle Rezession ausgelöst. Aber die Regierung mogelt sich an einem Konjunkturprogramm vorbei, das einen solchen Namen verdient. Sie schnürt Rettungspäckchen für diejenigen Branchen, die am lautesten um Hilfe rufen. Sie verteilt bunte Schirmchen, die partielle Interessen schützen. Was den Banken recht ist, könnte der Autoindustrie nur billig sein. Konsumgutscheine könnten zum Geldsegen gegen Armut und Elend werden. Beihilfen für Wärmedämmung könnten den Wohlstand der Hauseigentümer mehren. Doch je höher die Ideen sprudeln, umso weniger werden sie die Konjunktur beleben. Eine gesamtwirtschaftliche Belebung der realen Wertschöpfung würde wie ein Hebel wirken, der auch die monetäre Sphäre stabilisiert. Zusätzliche Beschäftigungsfelder lassen sich in der Arbeit an den Menschen erschließen. Junge Menschen in den Bereichen Gesundheit, Pflege, Therapie, Bildung und musischer Betätigung auszubilden, solche Tätigkeiten gegenüber der Industriearbeit aufzuwerten und angemessen zu bezahlen, sind überzeugende gesellschaftliche Reformprojekte. Das gleiche gilt für den ehrgeizigen Aufbau umweltverträglicher Verkehrs- und Energiesysteme sowie für eine nachhaltige Umstellung der Ernährungsweisen. Ebenso wird eine ausgewogene Einkommens- und Vermögensverteilung das Risiko verringern, dass die monetäre Zirkulation extrem von der realen Wertschöpfung abhebt. Deshalb sollten die Institutionen der Verteilung, nämlich die Tarifautonomie, der Rechtsschutz abhängig Beschäftigter sowie die umlagefinanzierten solidarischen Sicherungssysteme gefestigt werden. Aber auch die global ungleiche Verteilung bedarf einer Korrektur, indem die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte abgebaut werden. So erzeugt die übermäßige private und öffentliche Verschuldung in den USA strukturelle Leistungsbilanzdefizite zur Folge, die durch entsprechende Überschüsse beispielsweise Chinas, Japans und Deutschlands zu neutralisieren sind. Ähnlich hat der maßlose Verbrauch fossiler Energien in den wohlhabenden Ländern Einkommensströme in die Ölexportierenden Länder zur Folge, die eher die monetäre Zirkulation aufblähen als in reale Investitionen münden. Umgekehrt bleibt das realwirtschaftliche Engagement des Staates ohne die zugesagte Finanzarchitektur brüchig. So sollten alle Finanzdienste, alle Finanzunternehmen und alle Orte, an denen Finanzdienste angeboten und nachgefragt werden, einer öffentlichen Aufsicht und Kontrolle unterworfen sein. Um spekulative Währungsattacken zu vermeiden, sollten beispielsweise die Wechselkurse der Ankerwährungen stabilisiert und kurzfristige Finanzströme ähnlich den Güterbewegungen besteuert werden.

    Der Finanzgipfel der 20 Nationen, der Anfang November in Washington stattfand, hat den politischen Willen bekräftigt, die globalen Finanzmärkte zu stabilisieren, stärker zu regulieren und beteiligungsgerecht zu ordnen. Er hat hohe Erwartungen geweckt: nämlich dass auch die globalen Finanzmärkte den gesellschaftlichen Normen der Gerechtigkeit und Fairness unterstehen. Dass die Geldversorgung, die Stabilität der monetären Sphäre und die Funktion der Finanzunternehmen ein öffentliches Gut sind. Und dass die internationale Finanzwirtschaft dem Ziel dient, das Wohl und die Lebensqualität der Weltbevölkerung, vor allem der Armen in der Welt, zu mehren.