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"Le Grand Couturier"

Den größten Skandal provozierten die Balletts Russes in der Pariser Saison 1912/13: die ersten Choreographien des Tänzers Waslaw Nijinskij, Debussys "L’après-midi d’ un Faune" und "Le Sacre du printemps" – eine Komposition von Strawinsky - schockierten das Publikum. Davon spricht man in Paris noch heute, wie Jean-Pierre Brossmann, der Direktor der Chatelet-Oper, erzählt.

Von Eva Gerberding | 19.08.2004
    Was provozierte, das war eindeutig die Ästhetik, die neuen Choreographien. Aber das ist auch die Musik. Das ist Strawinsky. Heute hört man "Sacre du Printemps" und sieht darin eine ganz und gar klassische Musik. Damals sagten die Leute, sie tue ihnen in den Ohren weh. Was "l’après-midi d’un Faune" betrifft, so war es das erste Mal, dass man einen Tänzer auf der Bühne sah, der sich in eine Wildkatze verwandelt, in ein Tier, und darüber hinaus bis zum Äußersten des Liebesaktes geht, und das nicht mit einem Partner, sondern mit einem Schal.

    Der Tänzer Nijinskij war der Geliebte des Mannes, der für dieses Spektakel verantwortlich war: Sergej Diaghilew, ein russischer Europäer, weder Tänzer noch Choreograph, weder Musiker noch Regisseur, weder Schriftsteller noch Maler, Manager oder Impresario. Und doch war Sergej Diaghilew von all dem etwas. Er war eine Autorität ohne Handwerk, eine schillernde Persönlichkeit mit Sinn für Neues und Tradition. Daran erinnert sich sein Zeitgenosse, der Komponist Nicholas Nabokov.

    Sein Einfühlungsvermögen in die Musik war völlig intuitiv und unmittelbar, er machte viele Zugeständnisse an den Zeitgeschmack. Ich meine, das Modische bedeutete ihm viel. Er war ein Grand-Couturier des Balletts und der Musik. Er war Le Grand Couturier seiner Zeit.

    Geboren wurde Sergej Diaghilew 1872 in Russland, wuchs in Sankt Petersburg und der Provinzstadt Perm auf und studierte bei Rimskij-Korsakow Musik. Als Student bereiste er Westeuropa und kam voller Enthusiasmus zurück, organisierte Diaghilew seine erste Kunstausstellung und gab eine Zeitschrift heraus, mit der er eine ganze Generation junger russischer Maler und Schriftsteller beeinflusste. Zum Pariser Herbstsalon 1906 stellte er russische Gemälde aus. Ein Jahr darauf begeisterte er Paris mit einem Musikfestival.

    Doch die Blütezeit seines künstlerischen Schaffens begann 1909. Für ein Ballettfestival brachte er die besten russischen Tänzer zusammen - die Balletts Russes – übernahm die finanzielle Verantwortung und entwickelte fortan das Repertoire. Seine Truppe debütierte in Paris und reiste dann zwanzig Jahre um die Welt. Nach der Revolution kehrte Diaghilew nicht mehr nach Russland zurück und galt in der Sowjetunion als persona non grata. Der Petersburger Choreograph Boris Eifman:

    In meiner Jugend war der Name Diaghilew eigentlich verboten. Obwohl auch die sowjetischen Balletthistoriker nicht um Diaghilew herum kamen, denn mit ihm waren die Namen vieler berühmter Tänzer, Choreographen, Künstler und Komponisten verbunden. Um Diaghilew zu verschweigen, hätte man also einen ganzen Teil der russischen Kultur des 20. Jahrhunderts eliminieren müssen.

    Diaghilew schuf ein neues Ballettkonzept, das Musik, Tanz und Bühnenbild zu einem Gesamtkunstwerk vereinigte und engagierte Künstler wie Strawinsky, Debussy, Ravel, Picasso, Matisse und Coco Chanel. Mit allen zusammen prägte der "Ballettzar" den modernen Tanz. Mehr als 60 Werke sollte Diaghilews Truppe bis zum Sommer 1929 zur Aufführung bringen.

    Im August jenes Jahres kam Diaghilew ein letztes Mal nach Venedig. Schon bei seiner Ankunft fühlte sich der schwer Zuckerkranke ausgebrannt und klagte über starke Rückenschmerzen. Diaghilew starb, wie er gelebt hatte: Über seine Verhältnisse. Die Kasse der Balletts Russes war wieder einmal leer, für seine Beerdigung auf der Friedhofsinsel San Michele übernahm Coco Chanel die Kosten.