Donnerstag, 25. April 2024

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Leben in Zeiten des Vulkanausbruchs
Gertrud Leutenegger: Panischer Frühling

Von Frank Heckert | 07.08.2014
    Im April 2010 senkte sich die Stille wie eine Käseglocke über die größten Metropolen Nord- und Mitteleuropas. Wo sonst Kondensstreifen den Himmel durchkreuzten, konnte man jetzt ganz ungestört ein unerwartetes blaues Wunder erleben. Verantwortlich für diese Unterbrechung der himmlischen Umtriebigkeit war ein isländischer Vulkan, der Eyjafjöll, der damals vieles von sich gab, was lange in ihm geschlummert hatte – und der gleichzeitig mit Millionen kleiner, für das menschliche Auge unsichtbarer Aschepartikel den Fluggesellschaften mehrfach die Aussichten vernebelte.
    Der isländische Vulkan macht England wieder zum Inselreich
    Es hat seinen guten Grund, dass die Schweizer Schriftstellerin Gertrud Leutenegger ihren neuen Roman "Panischer Frühling" zur Zeit dieses Vulkanausbruchs spielen lässt, denn die namenlose Erzählerin, die meist ruhelos durch Londons Straßen eilt, fördert ebenfalls vieles zutage, das bei ihr geraume Zeit – in irgendwelchen Gedächtnisecken – einen Dornröschenschlaf hielt. Alles, was – angeregt durch die Umgebung der umtriebigen Metropole – wieder in die oberen Schichten ihres Bewusstseins dringt, verquickt sie mit Träumen, Assoziationen, Erlebnissen, Gedanken an ihre Tochter sowie mit den Lebensberichten eines jungen Mannes mit einem weißen Fahrrad, der auf der London Bridge Obdachlosenzeitungen verkauft und durch ein Feuermal im Gesicht gezeichnet ist.
    Gerne wird man zum Mitläufer der Erzählerin, lässt sich von ihr an die Hand nehmen, um die Stadt zu erkunden, zumal die Sprache Gertrud Leuteneggers einen eigenen Ton und meist auch einen beschwingten Rhythmus hat. Die Worte hüpfen nicht selten von einem Satz zum nächsten, sie stolpern nicht, sondern führen uns unmittelbar in die Geschichte hinein:
    "An jenem Morgen im April, als auf einmal vollkommene Stille im Luftraum über London herrschte, lief ich zum Trafalgar Square. Der Platz lag noch im Schatten, nur hoch oben auf seiner Säule in unerreichbarer Einsamkeit, stand Lord Nelson schon im Sonnenlicht. Sein Dreispitz wirkte schwarz vor dem Himmel, der von solcher Bläue war, dass es unglaublich erschien, wie eine Aschewolke dieses isländischen Vulkans den europäischen Luftverkehr lahmgelegt hatte. Alle Geräusche der erwachten Stadt drängten ungehindert und geradezu triumphierend in die Leere empor. Auf den roten Bussen glänzte die Feuchtigkeit des Taus. England war wieder ein Inselreich."
    Die Weltstadt als Folie für Gedankenformate
    Für Gertrud Leutenegger dient die Weltstadt als Folie, hinter der sich all das abspielen kann, was sie aus vielen Gedankenformaten kombiniert. Die Asche des Vulkans, die sich im Verlauf des Buchs viel schnell in Luft auflöst und kaum mehr eine Rolle spielt, ist dabei gleich zu Beginn das Sprungbrett für eine wunderschöne Reminiszenz an vergangene Kindheitstage:
    "Mit zurückgelegtem Kopf blickte ich forschend in den Luftraum hinauf, in dem nun offenbar diese winzigen Aschepartikelchen trieben und auf einmal sah ich wieder uns Kinder am Aschermittwoch auf dem Hauptplatz, nach dem Verlassen der Kirche, einander ebenso begriffsstutzig anstarren wie ich jetzt den Himmel, in dem nur die Vögel flogen. Meist war noch tiefer Winter gewesen, wie eine glitzernde Geisterkulisse umschlossen die verschneiten Berge den Talkessel, auf unseren Wollhandschuhen gefroren die Schneeflocken zu Eisklümpchen, nur manchmal gurgelte schon das Schmelzwasser in den Dachtraufen der Kirche, und anstatt dem Schulhaus zuzustreben, blieben wir einfach mitten auf dem Hauptplatz stehen und betrachteten fassungslos unsere jähe Vergreisung. In langen Reihen waren wir vor den Chor getreten, immer deutlicher wurde das unablässige Gemurmel des Pfarrers hörbar, der jedem die geweihte Asche aufs Haar streute, gedenke Mensch, dass du Staub bist, besonders die kleineren Jungen schüttelten sich unverzüglich, als hätten sie innen grässlichen Juckreiz empfangen oder als wären sie von Flöhen befallen worden, wir Mädchen aber standen unter dem blauen Winterhimmel auf dem Hauptplatz und sahen uns in unvorstellbarem Tempo alt werden. Mochten die einen nun auch den Kopf energisch vornüberwerfen und sich lachend die Asche wegreiben, die Haare blieben grau."
    Nicht alles gelingt der Autorin
    Leider gelingt der Autorin in diesem Buch nicht jede Überblendung zwischen Wirklichkeit und Erinnerung so mühelos. Mancher Einschub, darunter auch kurze Lehrstücke zur Geschichte Londons, wirkt konstruiert – und dennoch sind es die vielen Beimischungen aus dem Innenleben der Erzählerin, die im spartanischen Handlungsgerüst Akzente setzen und letztlich die Lektüre lohnen. Im Hier und Jetzt passiert herzlich wenig in diesem Frühling, der so panisch gar nicht ist. Zwischen Ebbe und Flut, die sich aufgrund ihrer Verbindung zur Nordsee auch auf der Themse bemerkbar machen und in diesem Roman – versehen mit exakten Wasserständen – als „High Water" und „Low Water" die überschaubaren Kapitel bezeichnen, strebt die Erzählerin eigentlich nur immer wieder der London Bridge entgegen – stets von Eile getrieben und voller Unruhe, stets auf der Suche nach dem Mann mit dem Feuermal:
    "Ruhelos lief ich in den Abend hinein, immer die Themse entlang, überquerte eine Brücke, wechselte von neuem die Seite, als folgte ich den Fahrradspuren Jonathans. Die Gespräche mit ihm, ja, sie waren mir zu einem Glück geworden. Ein Glück, auf das ich völlig unvorbereitet gewesen war, das mich aber bald sicher über den Abgrund des Augenblicks gehen ließ. Redete ich mit Jonathan, waren auch die in der Ferne mir lieben Menschen nahe. Tat ich es längere Zeit nicht, rückten sie weiter weg."
    Es scheint, als ob dieser Jonathan, der ihr so bereitwillig von seiner Jugendzeit in Penzance berichtet, binnen weniger Tage zu einer Obsession für Gertrud Leuteneggers Protagonistin geworden ist, zu einem Medium, das scheinbar Vergessenes zutage fördert und ihr einen schärferen Blick auf die Welt ermöglicht:
    "Jede Einzelheit der bekannten Gegend sah ich fast schmerzhaft genau, und dennoch empfand ich eine seltsame Unwirklichkeit. Hatte denn nur die Aussicht, Jonathan zu sehen und ihm davon zu erzählen, allem Leben und Glanz verliehen?"
    Als Jonathan zum Schluss plötzlich verschwunden ist, hat die Erzählerin „die Ahnung von etwas Unwiederbringlichem". Und sie weiß umso mehr, dass sie sich auf die Suche nach ihm machen muss, angespornt von ihrer eigenen Erkenntnis: "Was die Ebbe nimmt, bringt die Flut wieder."
    Gertrud Leutenegger: "Panischer Frühling"
    Suhrkamp Verlag, 218 Seiten, 19,95 Euro