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Leben innerhalb der Ndrangheta

"Metastasi" handelt von der kalabrischen Ndrangheta und ihrer Verbreitung in Norditalien. Gianluigi Nuzzi und Claudio Antonelli stechen damit in ein Wespennest. Denn dass die Wirtschaftsmetropole Mailand und die moderne Lombardei ein El Dorado für die Kriminellen aus dem Süden sind, das hören die Norditaliener nicht gerne.

Von Kirstin Hausen | 04.04.2011
    Die politische "Talkshow Anno zero" im zweiten Programm des staatlichen Fernsehens RAI. Thema des Abends ist die kalabrische Mafiaorganisation Ndrangheta und ihr Einfluss in der Lombardei.
    Unter den Studiogästen ist auch der Journalist und Bestsellerautor Gianluigi Nuzzi. Er wird beschuldigt, in seinem neuen Buch "Metastasi" ungeprüft die Thesen eines Ndrangheta-Aussteigers aus der Lombardei wiederzugeben. Die Thesen sind explosiv. So nennt der reuige Ndranghetista Giuseppe Di Bella beispielsweise die Namen von korrupten Politikern, die angeblich mit der Ndrangheta gemeinsame Sache gemacht haben oder noch machen. Neben Bürgermeistern und Stadträten spricht er auch über einen amtierenden Vizeminister der Regierung Berlusconi, der sich Anfang der 90er-Jahre mit dem Boss Franco Cocco Trovato getroffen haben soll. Der Vizeminister ist ebenfalls in der Sendung zu Gast. Roberto Castelli verneint die Kontakte zur Ndrangheta und wirft Nuzzi schlampige Recherche vor.
    Doch Gianluigi Nuzzi bringt das nicht aus der Fassung. Er weiß, sein Buch ist ein Sprengsatz und Folgen wie diese waren abzusehen. Nuzzi reagiert mit einem Zitat:

    Doktor Alberto Cisterna, stellvertretender Leiter der landesweiten Anti-Mafia-Staatsanwaltschaft, hat nach dem Erscheinen des Buches Folgendes öffentlich gesagt: "Giuseppe Di Bella hat optimal mit den Justizbehörden zusammengearbeitet und ist als absolut glaubwürdig eingestuft worden".

    Roberto Castelli hat Gianluigi Nuzzi und den Verlag Chiarelettere in Mailand trotzdem wegen Diffamation verklagt. Doch gleichzeitig sind auch neue Ermittlungen angelaufen. Eine druckfrische Ausgabe des Buches "Metastasi" haben die Autoren Gianluigi Nuzzi und Claudio Antonelli nämlich auch der Staatsanwaltschaft überreicht. Der Journalist Gianluigi Nuzzi hat ein Händchen für Enthüllungsgeschichten und einen Stil, der sich abhebt von den meisten italienischen Sachbüchern zum Thema Mafia. Statt Unmengen von Fakten aneinanderzureihen, lässt er seinen Protagonisten sprechen. In "Metastasi" ist es der Ndrangheta-Aussteiger Giuseppe di Bella, der über lange Passagen in erster Person spricht.

    Von ein paar anderen Jobs abgesehen, war mein Hauptgeschäft das Geldeintreiben. Der Mechanismus ist immer derselbe. Jemand aus dem Clan ruft dich an und schickt dich los, um einen offenstehenden Kredit einzutreiben, meist zwischen 20.000 und 30.000 Euro. Das ist der Alltag. Du gehst morgens um neun aus dem Haus und kommst abends um zehn wieder zurück. Du suchst den Schuldner zuhause auf und bekommst von seiner Frau zu hören, dass er nicht da ist, sondern auf der Arbeit. Du siehst zu, dass du den Tag rumkriegst, und gehst dann wieder hin, um zuhause auf ihn zu warten. In 98 Prozent der Fälle hast du Erfolg. Oder du kapierst, dass er bereits ausgepresst wurde wie eine Zitrone. Dann schmeißt du ihn entweder aus dem Fenster oder du änderst deine Technik. Du zerreißt die Schuldscheine und sagst, okay, die Schulden sind beglichen. Dann notierst du dir seine Telefonnummern. Nichts ist gratis und Schulden kann man auf die ein oder andere Weise bezahlen. Ob aus Angst oder aus Dankbarkeit, am Ende erhältst du wichtige Informationen.

    Giuseppe Di Bella hat den beiden Mailänder Journalisten fast jede Frage beantwortet, die sie stellten. Und das waren viele. Ein halbes Jahr lang haben sie den Ndrangheta-Aussteiger regelmäßig besucht:

    Nuzzi: "Dieser Mann lebt allein mit seinem Sohn in einer Zweizimmerwohnung, er ist auf Arbeitssuche und dieser Sohn, der heute zwölf Jahre alt ist, ist eines der unschuldigen Opfer in dieser Tragödie. Sein Vater hatte sich der organisierten Kriminalität angeschlossen und damit sich und seine Familie zu einem Leben im Untergrund verurteilt. Sogar jetzt, wo er ausgepackt hat, lebt er versteckt, so wie er es auch als Boss innerhalb der kriminellen Organisation hätte tun müssen."
    Gianluigi Nuzzi schildert die Hoffnungslosigkeit des Mannes, die Trauer um seine verstorbene Frau, aber er stellt ihn nicht als Opfer dar, sondern als Täter. Di Bella hat gestohlen, erpresst, geprügelt, gemordet ohne mit der Wimper zu zucken. "Metastasi" ist ein Buch über das Leben innerhalb der kriminellen Organisation Ndrangheta. Es beschreibt die alltägliche Gewalt und die allgegenwärtige Korruption.

    Nuzzi: "Der Leser schaut einem Ndrangheta-Mitglied ins Herz und in den Kopf, erfährt, wie diese Leute denken. Das war der faszinierendste Teil und auch der anstrengendste. Denn sie denken nicht wie wir; und wenn man nicht selbst auf der Straße groß geworden ist, fällt es schwer, bestimmte Ausdrücke zu entschlüsseln."
    Gianluigi Nuzzi und sein Co-Autor Claudio Antonelli haben die Episoden in thematischen Kapiteln angeordnet und mit Hintergrundinformationen zum Gesamtzusammenhang versehen. Hilfreich sind auch die vielen Fußnoten, die auf einzelne Personen und Gerichtsverfahren eingehen. So wird "Metastasi" zu einer gelungenen Mischung aus spannendem Bericht in erster Person und harter Faktensammlung. Die Rechte an dem Buch sind bereits an den Econ-Verlag in Salzburg verkauft. Bleibt zu hoffen, dass "Metastasi" bald auf deutsch erscheinen wird.

    Kirsten Hausen war das über Gianluigi Nuzzi und Claudio Antonelli: "Metastasi", erschienen im Mailänder Verlag Chiarelettere, 183 Seiten kosten 19 Euro 99, ISBN: 978-8-861-90110-0.