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Leben, Lieben und Schreiben nach Auschwitz

Wie schon in Iris Hanikas Liebes- und Heimatroman "Treffen sich zwei", der Beziehungsgeschichte und Zeitbild ist, so verbindet sich auch in ihrem neuen Roman das Porträt des Protagonisten Hans Frambach mit einem gesellschafts- und mentalitätsgeschichtlichen Zeitbild, in dessen Zentrum die schwierige Erinnerungsarbeit mit der Nazi-Vergangenheit steht.

Von Cornelia Staudacher | 26.05.2010
    Kein Roman also über die Verbrechen der Nazizeit, sondern über die Leiden der Nachgeborenen an ihnen. Auf eine griffige Formel gebracht, geht es um Leben, Lieben und Schreiben nach Auschwitz. Ein Thema, so ist zu vermuten, mit dem sich die Autorin nicht erst in der Vorbereitung zu diesem Buch beschäftigte.

    "Ich bin nicht auf dieses Thema gekommen, sondern ich habe dieses Buch auch darum geschrieben, um davon loszukommen. Es ging mir darum, darzustellen, wie uns die Vergangenheit in ihren Krallen hält, diesen Zustand eben darzustellen. Auf der einen Seite denkt man manchmal, es könnte mal vorbei sein, gleichzeitig kann es gar nicht vorbei sein, weil es das doch alles gibt. Egal, was man tut, es ist furchtbar, also wenn man nichts täte, wäre es furchtbar, und wenn man permanent was tut, ist es auch furchtbar. Es ist einfach da. Das wollte ich darstellen, dass es was ist, das permanent da ist, aus dem wir in diesem Land, als Angehörige dieses Volkes, von dem wir nicht wegkommen."
    Hans Frambach, der im selben Jahr wie die Autorin geborene Protagonist des Romans, hat einen starken Hang zum Unglücklichsein, zur Schwermut.
    "Er kam sich vor wie aus der Zeit gefallen. Denn ihm tat es immer noch weh", heißt es einmal. Frambach ist Archivar in einem Institut, das in ironischer Anspielung auf den absurden, aber jahrzehntelang gebrauchten Begriff der Vergangenheitsbewältigung "Institut für Vergangenheitsbewirtschaftung" heißt. Seine Arbeit besteht in der Auswertung, Archivierung und Katalogisierung von schriftlichen Lebenszeugnissen Überlebender des Holocaust, eine Arbeit, die Hans manchmal an den Rand der Verzweiflung bringt. Diese Konstellation gibt der Autorin die Gelegenheit, die enge Verzahnung ihrer Generation mit der Erinnerung an den Holocaust zu untersuchen. Der realistische, ironisch unterfütterte Erzählduktus ist nicht ohne Risiko. Denn auf keinen Fall möchte sie sich dem Vorwurf der Pietätlosigkeit ausgesetzt sehen. Wenn sie sich beispielsweise einen Jux daraus macht, das Hakenkreuz konkret zu nehmen und im Gedankenspiel mit seinen formalen Kriterien die Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Bundesrepublik zu versinnbildlichen.

    "Also erstens, dass man sich überhaupt nicht drüber einigen kann, ob überhaupt was stattgefunden hat, dann irgendwie diese 68er-Zeit, wo man sich nur gegenseitig angebrüllt hat, und dann dieser forcierte Philosemitismus, der natürlich auch nichts nützt am Ende, der natürlich besser ist als Antisemitismus. Es endet aber mit dem Klettverschluss, die Hakenkreuzung, der Fleischerhaken, Haken und Öse, der Klettverschluss. Mit dem Klettverschluss wollte ich zeigen, wie wir mit dieser Geschichte verbunden sind, nämlich so, wie die zwei Teile eines Klettverschlusses miteinander verbunden sind, zusammengekettet, drangeklettet."
    Der Roman, der auf eine Handlung oder eine ablesbare Entwicklung seiner Protagonisten verzichtet, ist im heutigen Berlin angesiedelt und doch weniger konkret verankert als der vorherige Roman. Denn sein Thema, das "Eigentliche", ist vage und für jeden etwas anderes.

    Während Hans unter dem "Eigentlichen" seines Lebens leidet, erlebt Graziela, seine langjährige Freundin, die die Trauer und Fassungslosigkeit über die deutsche Vergangenheit lange mit ihm teilte, durch die Liebe zu einem verheirateten Mann eine Akzentverschiebung. Allerdings trägt auch sie an dieser Liebe, die zum "Eigentlichen" in ihrem Leben geworden ist, wegen ihrer Perspektivlosigkeit eher schwer.

    Als Quintessenz der Zustandsbeschreibung des Landes, in dem die beiden Protagonisten leben, ist das Eigentliche die Hilflosigkeit und der enervierende Umgang mit der Erinnerung in einem Land, mit dem sich die Autorin - das gilt auch für ihren Protagonisten – eigentlich weitgehend versöhnt hat. Das unterscheidet sie von der vorherigen Generation der 68er.

    "Wenn man sich einmal vorstellt, was damals passiert ist, dann kann man nicht abgeklärt sein, aber das ist so, dass wir es alle wissen, jeder weiß es, dass es geleugnet wird oder dass man sagt, wir haben doch aber auch Gutes getan, das sagt ja jetzt keiner mehr, das würde sich keiner mehr trauen, sondern alle erkennen an, dass es ein Verbrechen war, und deswegen kann man irgendwie ruhig darstellen, wie es sich heute lebt, zu wissen, dass vor nicht allzu langer Zeit dieses Verbrechen stattgefunden hat, im Namen des Volkes, zu dem man gehört. Ich glaube, dass das jetzt die junge Generation, sagen wir mal die so bis 30, dass die das durchaus so sehen, dass wir hier in einem Land leben, in dem man ziemlich gut leben kann, und auch ältere Leute. Und diesen entspannten Patriotismus, den finde ich eigentlich auch ganz angenehm, so würde ich mich eigentlich auch bezeichnen, dass ich entspannt patriotisch bin. Es steht ja auch in diesem Buch, dass Hans gelernt hat, das Deutschland, mit dem er sich täglich beschäftigt, von dem zu unterscheiden, in dem er täglich lebt. Und in dem er täglich lebt, das gefällt ihm eigentlich ganz gut."
    In ihren früheren Büchern und während ihrer Mitarbeit bei den Berliner Seiten der FAZ hat sich Iris Hanika als eine Meisterin der kleinen Form behauptet. So handelt es sich auch hier eigentlich nicht um einen Roman im klassischen Sinn, sondern um einen aus Beschreibungen von Alltagsbeobachtungen, gesellschaftlichen Stimmungen und persönlichen Erlebnissen zusammengesetzten Textkörper, in den die Autorin wie in einer Collage noch andere Textsorten als Zitate eingebettet hat - Schlagerschnipsel, Ausschnitte aus Lagerberichten und Nachlässen von Lagerinsassen, Zitate aus Büchern und Zeitungsberichten, ein Lied aus der "Winterreise" von Franz Schubert, ein eigenes Dramolett und ein Couplet, in dem Hitler verhohnepipelt wird. Diese Struktur wie auch die zweimal drei leeren Seiten gegen Ende des Romans zeugen von der inneren Unruhe, mit der sich die Autorin ans Werk gemacht hat.

    "Die ersten drei Blancoseiten kommen, nachdem Hans Frambach die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau verlässt, diese Seiten, in denen er dort ist und in denen er sich bewusst macht, wo er ist, und dass er auf einem Weg geht, den Leute gingen, die zwanzig Minuten später in die Gaskammern getrieben wurden. Das fand ich so aufregend beim Schreiben und es ist auch für Hans so aufregend, und ich hab mir vorgestellt, es könnte auch den Leser so aufregen sein, dass ich dachte, danach muss erst mal kurz Ruhe sein, und dann konnte ich irgendwie neu ansetzen. Und diese zweiten drei Seiten, sind ja auch wieder so eine Situation, da verlässt er das Institut und man könnte meinen, vielleicht auch ein Schritt ins Freie, vielleicht kommt er ja gar nicht zurück und so weiter. Und dass da Raum für Notizen drübersteht, das wurde in einer Rezension perfide genannt, hat mich gefreut, weil ich es auch perfide finde. Aber diese Idee habe ich von Joseph Haydn, die Symphonie Nr. 90 von J.H., da endet der letzte Satz dreimal, eigentlich viermal, es gibt zweimal eine Generalpause. Und so habe ich es mir auch vorgestellt, weil ich nicht wusste, wie ich zu Ende kommen soll mit dem Buch, weil es gibt so gut wie keine Geschichte, es gibt keine Lösung, und deswegen habe ich drei Enden auch in diesem Buch."
    Im letzten der drei Schlüsse des Romans fährt Hans mit der U-Bahn zum Potsdamer Platz und lässt sich in einem Anflug von Neugierde mit den anderen Menschen in die Friedrichstraße treiben, vorbei an den großen Kinos, wo ihm sofort die Filme ins Auge fallen, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen, die er täglich "bewirtschaftet", und vorbei am Holocaust-Mahnmal auf dem Herzstück der Stadt. Das an eine tote, versunkene Stadt erinnernde Mahnmal, das von Iris Hanika in unserem Gespräch ausdrücklich als gelungene Reminiszenz an die Verbrechen gewürdigt wird, entlockt Hans, gerade im Kontrast mit dem inflationären Umgang der Unterhaltungsindustrie mit dem Thema, schließlich ein zaghaftes Lächeln, aus dem doch so etwas wie eine stille Übereinkunft mit sich und dem Eigentlichen in seinem Leben spricht: "Keine Wörter im Kopf, kein Gefühl im Körper, wie nicht vorhanden. Dieser Zustand erschien ihm wie das Glück."

    Iris Hanika, Das Eigentliche. Roman. Droschl Verlag, Graz 2010,
    176 Seiten, 19.- Euro.