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Leben mit Demenz

Die Gehirnforschung unterscheidet Wissen von lebendiger Erinnerung. Das spielt auch eine wichtige Rolle im Umgang mit Demenzkranken. Mit einer Umarmung kann man die Erkrankten oft besser erreichen, als mit komplizierten Kommunikationssystemen.

Von Peter Leusch | 24.01.2013
    Heiligabend. Familie und enge Freunde sind versammelt. Die demenzerkrankte Susi R., früher so präsent im Gespräch, ist still geworden, hat sich zurückgezogen. Die zwölfköpfige Runde will ein bekanntes Weihnachtslied singen. Doch keiner kommt auf den Anfang. Mitten in die krampfhaft peinlichen Erinnerungsversuche hinein stimmt Susi R. an: Alle Jahre wieder, kommt das Christuskind. Die Gehirnforschung, so Christian Hoppe, Psychoneurologe am Uniklinikum Bonn unterscheidet Wissen von lebendiger Erinnerung:

    "Wissen heißt, ich weiß, dass ich 1973 in die Schule gekommen bin. Erinnern heißt, ich erinnere mich an meinen ersten Schultag, ich kann in der Zeit zurückgehen und kann diese Situation noch mal vor meinem inneren Auge erneut erleben, und diese Erlebensdimension ist entscheidend für das Erinnern. Ich weiß es nicht nur abstrakt, sondern ich kann es nacherleben – und das nennen wir episodisches Gedächtnis."

    Und die psychoneurologische Forschung unterscheidet Faktengedächtnis und lebendige Erinnerung als bewusstseinsfähige Gedächtnissysteme nochmals von nichtbewusstseinsfähigen Kompetenzen wie zum Beispiel Schwimmen, Rad- oder Autofahren lernen – einmal erworben, werden diese Kompetenzen automatisiert. Und gehen auch bei einem Demenzerkrankten erst in einem sehr späten Stadium verloren. Es gibt also unterschiedliche und teilweise voneinander unabhängige Gedächtnissysteme. Die Hirnforschung hat inzwischen herausgefunden, in welchen Hirnregionen sie jeweils angesiedelt sind. Christian Hoppe:

    "Zum Beispiel, dass die episodische Gedächtnisbildung, also die Bildung von Lebenserinnerungen ganz entscheidend vom Hippocampus abhängt. Das ist eine tiefe Struktur im Schläfenlappen, wenn Sie dort nicht wenigstens einen von beiden zur Verfügung haben, können sie keine autobiografischen Erinnerungen mehr bilden."

    Es gibt zahlreiche Menschen, die nach Hirnverletzungen ihre lebendige Erinnerung verloren haben, die aber im Alltag gut zurechtkommen und auch hohe Intelligenzleistungen erbringen, weil andere Hirnbereiche nicht betroffen sind. Fatal für die Demenzerkrankung ist jedoch der schleichende Verfall höherer Denkfunktionen, wobei der langsame Gedächtnisverlust das markanteste Symptom darstellt. Der spanische Filmemacher Luis Bunuel schrieb, als er den Erinnerungsverlust seiner Mutter miterlebte: "Unser Gedächtnis ist unser Zusammenhalt, unser Grund, unser Handeln, unser Gefühl. Ohne Gedächtnis sind wir nichts." Hat Bunuel recht? Hängt unser Menschsein, unsere Identität, ausschließlich am Gedächtnis? Gibt es keine andere Ebene, wo Menschen auf die existentielle Frage – Wer bin ich? – immer wieder Antworten erhalten? Mit diesem Problem hat sich der Theologe Frank Vogelsang, Direktor der Evangelischen Akademie im Rheinland auseinandergesetzt.

    "Wo erfahren wir unsere Identität? … - da ist zum einen natürlich … dass man sich erinnert, dass man einen Zusammenhang herstellen kann mit der eigenen Kindheit, wie der eigene Lebensweg verlaufen ist – da spielt das Gedächtnis und die Erinnerung eine große Rolle, und genau diese Leistung ist durch Demenzerkrankungen in erheblichem Maße eingeschränkt. Aber es gibt auch andere Erfahrungen, die uns unserer selbst sicher sein lassen, z. B. wenn wir anderen Menschen begegnen. Wenn wir anderen Menschen in die Augen schauen, dann geschieht etwas, was uns auf uns selbst zurückwirft, uns aber auch gleichzeitig öffnet. Diese Erfahrungen sind weniger durch das Gedächtnis geprägt , sondern durch gegenwärtige Erfahrungen bestimmt."

    Bei der Demenzerkrankung konzentriert sich die Erfahrung ganz auf die Gegenwart: Auf Wahrnehmung, Gefühl und mitmenschliche Nähe. Christian Hoppe zitiert Alexander Lurija, den russischen Begründer der Neuropsychologie:

    "Ein Patient ohne Gedächtnis ist immer noch ein Mensch, weil er immer noch Gefühle hat." Und in diesen Gefühlen - das ist natürlich ein sehr starkes Gegenwartserleben - erlebt jemand seine Identität. Auch die anderen erleben darin seine Identität."

    Einen solchen Zustand gibt es aber nicht nur bei der Demenzerkrankung. Frank Vogelsang:

    "Es ist auch ganz gut und zielführend, wenn man mal auf gesunde Menschen schaut und fragt, wie wir uns denn empfinden, wenn wir z. B. sehr erschöpft sind, auch vielleicht einen Rückschlag erleben, depressiv werden, uns verletzt fühlen, - und in diesen Momenten erfahren wir dann die Zuwendung anderer Menschen, und dann kann man leicht ersehen, dass es nicht darum geht, hochkomplexe Kommunikationsstrukturen aufzubauen, sondern vielleicht jemanden in den Arm zu nehmen, ein wenig zu streicheln. Es geht um basale Gesten und grundlegende Fertigkeiten, die tatsächlich auch gesunde erwachsene Menschen brauchen."

    Frank Vogelsang will damit die Demenzerkrankung nicht verharmlosen. Sie ist schrecklich. Aber der Bezug auf Bedürfnisse und Situationen Gesunder kann eine Brücke bauen, hin zu mehr Verständnis und Respekt im Umgang mit demenzerkrankten Personen. Auf diesen Einsichten baut auch die neuere Pflegeforschung auf, erläutert Brigitta Zöfelt. Sie ist Koordinatorin der Hospizbewegung in Ratingen.

    "Der körperliche Kontakt spielt eine Rolle, das ist ein Wahrnehmungsprozess. Bewegung ist auch wichtig. Jeder Demenzerkrankte hat seine eigenen Strategien, wie er wahrnimmt. Da spielt aber körperliche Zuneigung sicherlich eine Rolle, wo man den Kontakt aufnehmen kann bei Menschen, die verbal gar nicht mehr ansprechbar sind. Man kann Düfte involvieren, man kann die Hand nehmen, man kann Kontakt aufbauen, sich auf die gleiche Ebene begeben. Sprich: ganz normale Kommunikationsregeln einhalten, die man mal gelernt hat, und den Menschen bestimmen lassen, wo es gerade hingeht, und sich auch emotional auf die Ebene begeben, d.h. den Menschen da abholen, wo er gerade ist."

    Angehörige folgen meist intuitiv diesem Konzept. Sie lassen sich darauf ein, dass Demenzerkrankte im fortgeschrittenen Stadium ganz in Gegenwart und Gefühl aufgehen. Doch was bei Kleinkindern positiv besetzt ist, billigt unsere Kultur dem Erwachsenen kaum zu. Allzu sehr ist unser Menschenbild auf Rationalität und Selbstständigkeit fixiert. Deshalb bildet das vermehrte Auftreten von Demenzerkrankungen nicht nur eine soziale und ökonomische, sondern auch eine kulturelle Herausforderung. Frank Vogelsang:

    "Tatsächlich ist es ja so, dass wir eher uns als autonome Menschen wahrnehmen, und vielleicht gelingt es ja in Zukunft auch, dass wir bei aller Wertschätzung der Autonomie, ein Bewusstsein dafür bewahren, dass wir in aller Autonomie auch abhängige Wesen sind, nie sozusagen dem Selbstbild verfallen dürften, dass wir völlig unabhängige Wesen seien. Möglicherweise kann ja dadurch, dass wir zunehmend mehr in Zukunft uns mit demenzerkrankten Menschen beschäftigen, dass wir mehr mit ihnen zu tun haben, dazu führen, dass wir nochmal ein differenzierteres oder leicht variiertes Bild vom Menschen gewinnen."