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Leben mit resistenten Keimen
Die Unbesiegbaren

Bakterien sind Überlebenskünstler, sogar in Gegenwart von Antibiotika. Das Problem begann mit ersten Resistenzen gegen Penicillin, inzwischen wirkt in immer mehr Fällen auch das allerletzte Antibiotikum nicht mehr. Die Menschheit muss klären, wie sie die Waffen der Medizin sinnvoll einsetzt.

Von Christine Westerhaus | 21.07.2019
Multiresistente Enterobakterien - in einer Petrischale nachgewiesen.
Wer sich mit multiresistenten Keimen infiziert, läuft Gefahr, an einer Lungenentzündung oder Blutvergiftung zu sterben. Inzwischen tauchen die ersten Stämme von Erregern auf, gegen die kein einziges Antibiotikum mehr hilft. (Axel Hamprecht/IMMIH/dpa)
Antibiotikaresistente Keime sind auf dem Vormarsch. Überall auf der Welt. Wer sich mit ihnen infiziert, läuft Gefahr, an einer Lungenentzündung oder Blutvergiftung zu sterben. Inzwischen tauchen die ersten Stämme von Erregern auf, gegen die kein einziges Antibiotikum mehr hilft.
Obwohl Experten seit vielen Jahren vor einem Engpass warnen, haben Pharmafirmen ihre Forschung auf Eis gelegt. Jetzt wird das Problem offensichtlich. Und es stellt Politiker und Forscher gleichermaßen vor große ethische Herausforderungen.
"Dabei ist ganz zentral die Frage: Wie verteilt man eine Ressource, die selbst bei korrekter Anwendung mit der Zeit an Effektivität verliert und gleichzeitig lebensrettend für Patienten ist. Und vermutlich auch nur in begrenztem Umfang erneuert werden kann."
Noch gibt es Reserveantibiotika, sagt Ethiker Jasper Littmann. Sie werden gerade dort gebraucht, wo sehr viele Menschen mit den widerstandsfähigen Keimen infiziert sind. Dort, wo diese allerletzten Waffen am schnellsten stumpf werden dürften. Wer also darf gesund werden?
"Ich fühlte mich so, so schlecht. Ich habe gehustet, gehustet und ich habe nichts gegessen und ich habe abgenommen: Ich wiegte mich normal 50 Kilo und im Januar ich wog 42."
Fast alle Antibiotika sind gegen die XDR-Tuberkulose machtlos
Bei Daria Jentzow brach die Krankheit kurz nach der Geburt ihrer Tochter aus. Julia ist inzwischen knapp zwei Jahre alt. Sie sitzt auf dem Schoß ihrer Mutter und streckt ihre Hände nach einer Stoffkatze aus. Der Hausarzt dachte zunächst an eine Allergie, erzählt sie. Ein zweiter Arzt tippte auf eine Pilzinfektion, ein dritter auf eine Psychose. Erst der fünfte Arzt entdeckte auf einer Röntgenaufnahme das Loch in Darias Lunge: Eine XDR-TB, eine extensiv resistente Tuberkulose. Fast alle Antibiotika sind dagegen machtlos.

"Ich hatte Angst am Anfang, wo ich gehört habe: Oh, ich sterbe! Oh, Tuberkulose und das ist multiresistent! Ich habe geweint natürlich. Ich hatte Angst, dass ich meine Tochter anstecken kann. Ja, das hat passiert. Konnte auch meinen Mann anstecken. Aber mit meinem Mann ist alles gut. Danke Gott!"
Mikroskopische Aufnahme eines rosa fadenartigen Mykobakteriums
Das Mykobakterium verursacht die Tuberkulose-Erkrankung. Gegen die XDR-TB, eine extensiv resistente Tuberkulose, sind fast alle Antibiotika machtlos. (imago/La Nacion)
"Wir sind jetzt hier auf der Infektionsstation, auf der vor allem Patienten mit einer Tuberkulose behandelt werden."
Christoph Lange leitet die Abteilung für Infektiologie am Forschungszentrum Borstel. Die Spezial-Klinik liegt etwa eine Autostunde von Hamburg entfernt. Umgeben von Wiesen und Äckern. Hierhin wird auch Daria Jentzow überwiesen.
"Seit Beginn 2015 haben wir jetzt über 60 Patienten mit multiresistenter Tuberkulose hier in Borstel behandelt, die meisten Patienten kommen aus osteuropäischen Ländern, zum Beispiel Ländern der ehemaligen Sowjetunion, aus dem Kaukasus, Armenien oder Georgien, aus Aserbaidschan oder auch aus der Ukraine oder aus Moldawien."
An der Rezeption hängt die Patientenliste aus.
"Wenn wir hier mal schauen: Wir haben auf dieser Station aktuell 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8 Patienten, von denen also 3, 4, 5 Patienten an einer multiresistenten Tuberkulose erkrankt sind. Das ist bisher im Jahresverlauf die niedrigste Zahl dieser Patienten. Noch im Mai waren alle Betten auf der Station mit Patienten mit extensiver oder multiresistenter Tuberkulose belegt."

Multiresistent sind Mikroben, wenn sie sich gegen mehrere Antibiotika wehren können. Extensiv, wenn fast gar nichts mehr wirkt. Normalerweise entstehen solche XDR-Stämme, weil infizierte Patienten nicht lange genug oder mit den falschen Antibiotika behandelt wurden. Immer häufiger stecken sich Menschen aber direkt mit den resistenten Erregern an.
Das Forschungszentrum Borstel ist auf Lungen- und Bronchialerkrankungen spezialisiert.
Das Forschungszentrum Borstel ist auf Lungen- und Bronchialerkrankungen spezialisiert. (imago images / imagebroker)
"Wir haben eigene Daten, die aus Europa stammen, wo wir sehen, dass über die Hälfte der Patienten mit multiresistenter und extensiv-resistenter Tuberkulose noch nie vorher gegen eine Tuberkulose behandelt worden sind und diese Patienten diese Infektion wahrscheinlich durch direkte Übertragung von anderen Patienten erworben haben. Das ist beunruhigend. Man sieht auch mit neueren molekulargenetischen Methoden, dass sich bestimmte Stämme der Tuberkulose-Bakterien zum Beispiel von der Gruppe der Mycobakterium tuberculosis bejing, also Peking, in Osteuropa ausbreiten, und diese Ausbreitung eben durch die Verbreitung von einem Patienten zum anderen erfolgt."
2006 berichten Forscher erstmals über extrem-resistente Tuberkulose-Stämme. Inzwischen gibt es sie in 58 Ländern. Die WHO spricht von 25.000 Neuerkrankungen pro Jahr.
Auch in Deutschland steigen die Zahlen.
"Das hat deutlich zugenommen, also wir haben von Beginn 2015 bis heute so viele Patienten mit multiresistenter Tuberkulose hier aufgenommen und behandelt wie zwischen 2001 und 2014."
2012 dann tauchen in Indien Stämme von Tuberkulose-Erregern auf, die gegen alle verfügbaren Antibiotika resistent sind. TDR - totally drug resistant. Alle infizierten Patienten sterben daran.
"The World Health Organisation is set in the Alarm. Its latest report says that some of the strongest weapons we have in the fight against infections are useless."
Bakterien können sich überall gegen Antibiotika wehren
In etwa zur selben Zeit sterben auf der Neugeborenenstation in Bremen mehrere Frühchen an einer Infektion mit resistenten Klebsiellen. Sie sind in der Lage, auch die letzten verbleibenden Antibiotika unschädlich zu machen. Die Carbapeneme. Petra Gastmeier, Direktorin des Hygiene- und Umweltinstituts an der Berliner Charité:
"Wenn aber zu der normalen Resistenz, die bei denen vorhanden ist gegenüber Cephalosporinen, teilweise auch gegenüber Fluorchinolonen noch eine Resistenz gegenüber Carbapenem kommt, dann wird es wirklich problematisch, dann ist man sozusagen am Ende der Fahnenstange, was die Therapie betrifft."
Überall auf der Welt haben Bakterien Wege gefunden, sich gegen Antibiotika zur Wehr zu setzen. Und sie tauschen die genetische Verteidigungsstrategie munter untereinander aus. Jede zehnte gilt inzwischen als multiresistent. Joakim Larsson vom Institut für Infektiologie der Göteborg Universität versucht zu verstehen, wo Keime aufeinandertreffen und unter welchen Bedingungen es zur Übertragung der Resistenzen kommt. Vor etwa zehn Jahren war er in Indien unterwegs. In der Umgebung einer Arzneimittelfabriken entdeckte er sehr hohe Konzentrationen von Antibiotika.
"Ich habe mich damals eigentlich mit der Frage beschäftigt, wie sich Arzneimittelrückstände auf die Natur auswirken. Aber als ich gesehen habe, welche Mengen an Antibiotika in Indien einfach so in die Umwelt gelangen, wurde mir klar, dass nicht die Fische das Problem sind, weil sie vielleicht darunter leiden. Sondern dass die Rückstände für uns gefährlich sind, weil Bakterien in so einem Milieu resistent werden können. Ich habe dann in meiner Forschung eine komplett neue Richtung eingeschlagen und untersuche seitdem, wie Bakterien in der Umwelt resistent werden."
Antibiotika töten Bakterien effektiv. Nur selten verfügt eines über eine passende Gegenwehr: Eine Bauanleitung für ein Enzym zum Beispiel, das das Antibiotikum zerlegt, bevor es wirken kann. Die Mikrobe überlebt, vermehrt sich und gibt das Resistenz-Gen an die nächste Generation weiter. Oder an andere Keime: Über Plasmide, ringförmige DNA-Moleküle, können viele Bakterien ihr Erbgut untereinander austauschen. Je mehr Resistenzgene in Umlauf sind, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass ein Bakterium mehrere davon einsammelt. Fatal für den Menschen wird das, wenn sich Krankheitserreger und Resistenzgene zusammentun. Doch wo genau kommt es zu diesem fatalen Rendevouz?
"Das ist eine sehr gute Frage: Wir sind ziemlich sicher, dass das in unserem Körper geschieht - im Darm beispielsweise. Es kann aber auch in Nutztieren passieren, wenn sie mit Antibiotika behandelt werden. Oder auch in der Umwelt."
In den Bodenbakterien, die Joakim Larsson und seine Kollegen in der Umgebung der Fabriken sammelten, entdeckten sie tatsächlich Resistenz-Gene. Welchen Weg sie nehmen, lässt sich selbst mit modernsten molekularbiologischen Methoden kaum nachvollziehen. Doch Anfang Mai berichteten WDR und Tagesschau über Recherchen eines Fernsehteams, die bewiesen haben wollten, dass sich im Umfeld indischer Arzneimittelfabriken auch resistente Krankheitserreger formieren. Diese Schlussfolgerung hält Joakim Larsson für voreilig.
"Die Bakterien, die die Forscher dort gefunden haben, sind typische Darmkeime, die in Indien vorkommen. Es könnten also auch einfach nur Rückstände von Fäkalien im Wasser sein, die resistente Bakterien enthalten. Trotzdem ist es aber gut, dass dieses Problem so viel Medienaufmerksamkeit bekommt. Es zeigt, dass noch immer große Mengen an Antibiotika in die Umwelt gelangen."
Die XDR-Patienten müssen hohe Dosen Antibiotika schlucken
Dabei ist das Problem bei Leibe nicht nur ein Indisches: Antibiotika werden in Indien oder China hergestellt und landen später in den Regalen unserer Apotheken, wo sie mit möglichst großen Gewinnmargen verkauft werden. Auch Länder wie Deutschland, Schweden oder die USA trifft eine Mitschuld.
"Man könnte mehr Transparenz fordern: Wenn Pharmaunternehmen gezwungen wären, Auskunft darüber zu geben, wo sie ihre Wirkstoffe herstellen, würden sie wahrscheinlich eher Umweltauflagen beachten. Diese Substanzen werden meist dort hergestellt, wo es besonders billig ist. Aber bisher müssen die Pharmaunternehmen dem Verbraucher keine Rechenschaft darüber geben, wo sie ihre Wirkstoffe produzieren lassen. Und das könnte man ändern."
Im Forschungszentrum Borstel müssen XDR-Patienten hohe Dosen Antibiotika schlucken. Es sind Reserveantibiotika, die in Kombination gegeben werden.
Christoph Lange nimmt das Medikamentenkästchen in die Hand. In den Vertiefungen klappern hellblaue, rosa und weiße Tabletten.
"Wenn wir jetzt für diesen Patienten mal schauen, der bekommt eine von diesen Tabletten, dann bekommt er drei von diesen, drei von diesen zwei von jenen. Dann eine von jenen das sind 1, 3, 4, 7, 9, 11 und dazu noch eine Infusion dreimal am Tag, das heißt also 14 Medikamentengaben pro Tag."
Die Infusion mit dem flüssigen Antibiotikum wird direkt über einen Schlauch in die obere Hohlvene des Herzens geleitet. Daria Jentzow nimmt die Medikamente inzwischen seit über einem Jahr.
"Jetzt ich kann sagen: Das mit Medikamente, das war schwer. Erste Woche war schwer, ich fühle mich wirklich schlecht, habe geschlafen und nach dem Schlafen ich fühlte mich als ob mein Seele war raus, ich kann das nicht beschreiben, ich rufte immer zu meinem Mann. Ich sagte: "Mir ist schlecht, mir ist schlecht", ich habe geweint, ich habe immer gesagt: Ich verstehe nicht, was passiert mit mir? Ich konnte nicht denken, nicht lesen, konnte nicht Fernseh gucken, ich fühlte mich überhaupt nichts. Das war wie im Harry Potter mit Dementors - ich fühlte mich so."
Auch Darias Tochter, damals gerade ein Jahr alt, muss viele Tabletten pro Tag schlucken. Oftmals geht das nur mit Gewalt. Außerdem trägt sie eine Nadel im Herzen, über die ihr Vater ihr täglich Infusionen geben muss.
"Zwei der Medikamente, die unsere Tochter nach wie vor nimmt, sind nicht für ihre Altersgruppe zugelassen ... das war eigentlich mein größtes Problem. Angenommen Sie lesen einen Beipackzettel auf dem steht: "Für die Altersgruppe nicht zugelassen". Dann gebe ich das meinem Kind nicht. Aber es gibt kein besseres Medikament. Sie müssen das geben. Das eine Medikament kann die Entzündung des Sehnerv hervorrufen, das andere kann Taubheit hervorrufen – das dritte muss zusammen mit einem Vitaminpräparat eingenommen werden, um die Schäden auszugleichen. Ich fühlte mich massivst überfordert in der Situation."
Der Aufwand, der in Borstel betrieben wird, ist enorm. Bei jedem Patienten bestimmen Lange und seine Kollegen die komplette Erbsubstanz des Erreger-Stammes, um eine maßgeschneiderte Antibiotika-Therapie einleiten zu können.
"Man kann heute für 50 Euro die gesamte Erbsubstanz der Tuberkulose-Bakterien untersuchen."
Das Resistenz-Analysegerät steht im Keller des Forschungszentrums.
"Die Patienten husten in ein Töpfchen und wir nehmen den Auswurf und bereiten diesen Auswurf in einem kurzen Schritt hier im Labor für etwa zehn Minuten so auf, dass wir dann ein paar Tropfen davon in eine Kartusche geben können und diese Kartusche dann in ein Gerät, das aussieht wie eine Kaffeemaschine, dann reinstecken."
"Und dann beginnt der automatisierte Analyseprozess."
"Jessi kannst du einmal ein Ergebnis aufrufen? Ich weiß nicht, wie das Passwort heißt."
Langes Kollegin öffnet eine Datei mit den Patientennamen. Dahinter stehen Abkürzungen.
"Hier sieht man einmal ein Testergebnis, wo Tuberkulose Bakterien gefunden wurden, und wo eine Resistenz gegen das wichtigste Medikament, dem Rifampicin auch entdeckt worden ist. Man sollte nie aufgrund eines Testergebnisses dann eine Therapie einleiten. Diese molekulargenetischen Untersuchungen müssen immer durch die klassischen Untersuchungsmethoden, in denen Bakterien im Labor bei Anwesenheit von Antibiotika wachsen oder gehemmt werden, ergänzt werden. Das ist nach wie vor der Goldstandard für die Diagnostik, auf der dann die abschließende Therapie beruhen sollte."
Wenn die Forscher wissen, gegen welche Antibiotika ein Erreger resistent ist, wird die Infektion nur mit Medikamenten behandelt, die noch wirken. Das verhindert weitere Resistenzen, schont den Patienten und die Kassen.
"Patienten, die besonders schwerwiegende Muster der Antibiotika Resistenz haben, die man XDR-TB also extensively drug resistant Tuberkulose, also extreme Antibiotikaresistenz nennt, da kosten alleine die Medikamente schon knapp 100.000 Euro. Für einen Behandlungszyklus. Solche extrem teuren Behandlungen können sich viele Länder gar nicht leisten, wenn viele Menschen in der Bevölkerung betroffen sind, so wie das in der Ukraine, in Weißrussland oder auch in Moldawien, alles drei Anrainer der EU, derzeit der Fall ist."
In Indien und China kann man Antibiotika wie eine Tüte Chips kaufen
Resistente Keime breiten sich dort am stärksten aus, wo die gesundheitliche Versorgung am schlechtesten ist. Hier müsste man auf die teuren Reserveantibiotika zurückgreifen, die das Land sich eigentlich nicht leisten kann. Doch wenn nicht investiert wird in eine konsequente Diagnostik und Therapie, steigt mit jedem Einsatz die Gefahr, dass die Erreger auch noch gegen die Notreserve resistent werden. Dieses Dilemma muss gelöst werden, meint Jasper Littmann. Er arbeitet am Robert-Koch Institut in Berlin und beschäftigt sich mit den ethischen Herausforderungen, die das Resistenzproblem mit sich bringt.
"Es gibt eine Schwierigkeit, über die wir zwar nachdenken, auf die wir aber noch keine gute Antwort haben und das ist die Frage, was mit neu entwickelten Antibiotika, neu entwickelten Reserve-Antibiotika, nach der Zulassung geschehen soll. Sollen solche Medikamente weltweit zur Verfügung gestellt werden? Das heißt, auch in Ländern, die bisher keine robusten Schutzmechanismen haben, um den falschen Einsatz dieser Antibiotika zu verhindern, also Länder zum Beispiel, in denen es Antibiotika "over the counter" also einfach ohne Rezept gibt. Oder führen wir eine Schutzpolitik ein, bei der wir sagen: Nur Länder, in denen Antibiotika nur per Verschreibung zu bekommen sind, bekommen Zugang zu diesen Medikamenten. Nehmen damit aber in Kauf, dass Leute die besonders großen Bedarf an Reserveantibiotika haben und die oft in Ländern leben, in denen es keine guten Verschreibungsrichtlinien bisher gibt, keinen Zugang zu diesen Medikamenten haben. Und das ist ein sehr schwieriges Problem, das bei vielen der Diskussionen um die Entwicklung neuer Medikamente im Augenblick im Raum steht, und ein Problem, dem wir uns spätestens, wenn es diese Medikamente geben wird, absolut stellen müssen."

In Indien und China können die Menschen Antibiotika wie eine Tüte Chips im Geschäft kaufen. Ohne Rezept, ohne ärztlichen Rat.
Eine Apotheke im indischen Bharatpur. Für Antibiotika braucht man hier kein Rezept.
Eine Apotheke im indischen Bharatpur. Für Antibiotika braucht man hier kein Rezept. (imago images / imagebroker)
Für Indien haben sich die Fälle von Infektionen mit multiresistenten Klebsiella pneumoniae zwischen 2008 und 2014 verdoppelt. Diese Bakterien gehören zu den gefürchteten Carbapenemase-produzierenden Enterobakterien, die sich inzwischen auch in deutschen Krankenhäusern breitmachen. Eigentlich sind sie harmlos. Doch wenn sie über eine offene Wunde oder einen Katheter in den Körper gelangen, können sie Infektionen auslösen, an denen Menschen sterben: So geschehen 2011 in Bremen, 2015 in Kiel, 2017 in Frankfurt.
"Alarmstimmung im Universitätsklinikum in Kiel. Hier hat sich ein gefährliches Bakterium ausgeweitet."
"Im Klinikum Bremen Mitte sind erneut zwei Frühchen gestorben an einer Blutvergiftung, wohl ausgelöst durch multiresistente Keime."
"Resistente Keime im Kieler Krankenhaus - sind Sie am Tod von fünf Patienten schuld?"
"Ein sogenannter multiresistenter Keim".
"Ich mache mir Sorgen über die Entwicklung. In Nordeuropa ist die Lage zwar noch sehr gut, aber jeder Mensch, der an einer Infektion mit einem multiresistenten Keim stirbt, ist einer zu viel. Und sie sind deutlich auf dem Vormarsch. Vor allem die Carbapenemase produzierenden Bakterien, die gegen das wichtigste Antibiotikum Meropenem resistent sind. Sie breiten sich weltweit aus. In Indien sind diese Bakterien schon unglaublich häufig und man hat weitgehend im Prinzip kein Medikament mehr, das gegen Infektionen mit diesen Keimen hilft."
Im Juli 2017 gibt die Weltgesundheitsorganisation erneut eine Warnung heraus: Weltweit sind Erregerstämme der sexuell übertragenen Infektionskrankheit Gonorrhoe oder Tripper in Umlauf, gegen die kein Antibiotikum mehr wirkt. Auch in Deutschland gab es 2015 einen ersten Fall.
"New strains of drug resistant Gonorrhoe spread around the world."
Dass Bakterien resistent werden, liegt in ihrer Natur. Doch das Tempo ließe sich bremsen. Immerhin: Die indische Regierung hat vor kurzem angekündigt, sich innerhalb der kommenden drei Jahre um das Problem mit Antibiotikarückständen im Umfeld von Arzneimittelfabriken zu kümmern.
"Das ist eine gute Nachricht - wir werden sehen, ob das auch tatsächlich geschieht."
Handlungsbedarf besteht auch in Europa.
"Ich war vorige Woche auf einer Konferenz, auf der jemand seine Daten aus Europa vorstellte. Die Forscher hatten sehr hohe Konzentrationen an Antibiotika in europäischen Klärwerken gemessen. Eigentlich spielt es aber auch keine große Rolle für das Risiko, ob wir diese hohen Werte in Indien, China oder Europa messen. Denn Bakterien breiten sich überall aus."
Kurzfristig werden keine neuen Medikamente bereitstehen
Durch konsequente Hygiene- und Screeningmaßnahmen könnte man sie aufhalten. Oder mit neuen Wirkstoffen. An Ideen mangelt es nicht: Bakteriophagen, die naturgemäß Bakterien befallen, könnten gezielt auf Keime gehetzt werden. Oder antibakterielle Peptide, die aus Insekten oder Meerestieren gewonnen werden. Sogar über gentechnische Verfahren denken Forscher nach.
Klinikhygiene in einem Bonner Krankenhaus. UV-Licht macht Verschmutzungen an den Händen sichtbar.
Durch konsequente Hygiene- und Screeningmaßnahmen könnte man Keime aufhalten. (picture alliance/JOKER)
"Es gibt Überlegungen, die Resistenzgene mit der Cripr-Cas-Technologie einfach aus dem Erbgut resistenter Bakterien herrauszuschneiden und sie so wieder empfindlich für Antibiotika zu machen."
Doch es braucht klinische Studien, damit aus den Ideen wirksame Medikamente werden. Petra Gastmeier von der Berliner Charité.
"Leider war es so, dass in den 90er-Jahren die Pharmaindustrie die Forschung auf diesem Gebiet eingestellt hat und dadurch ist sozusagen dieses Vakuum entstanden."
Kurzfristig werden keine neuen Medikamente bereitstehen. Deshalb braucht es größere Anstrengungen, um den Antibiotika-Engpass zu überbrücken, meint der Göteborger Mikrobiologe Joakim Larsson.
"Unsere eigene Anwendung trägt denke ich am stärksten zur Resistenzbildung bei. Dass wir Antibiotika zu häufig und oft auch falsch einsetzen. Es gibt einen ganz klaren Zusammenhang zwischen der Menge an Antibiotika, der Art der Anwendung und dem Ausmaß an Resistenzen."
Zwischen 2000 und 2010 hat der weltweite Verbrauch von Antibiotika um 30 Prozent zugenommen. Und dort, wo sie am häufigsten eingesetzt werden, treten auch die meisten Probleme mit resistenten Erregern auf.
"Es ist extrem wichtig, dass dieses Problem auch international angegangen wird, weil das, was zum Beispiel in China oder in Indien passiert, natürlich über Reisende oder Lebensmittel, die aus diesen Ländern kommen, eben auch zu uns gebracht wird."
"Beim G-20 Gipfel in Hamburg ist Antibiotikaresistenz in der Abschlusserklärung der G 20 Staaten explizit erwähnt worden als ein Problem, mit dem sich die Mitgliedstaaten und andere Länder auseinandersetzen müssen."
"Ein weiterer Schwerpunkt im Bereich Gesundheit ist der Kampf gegen Resistenzen von Antibiotika - auch ein zentrales und wichtiges Thema." (Bundeskanzlerin Angela Merkel)
"Das ist sehr zu begrüßen."
"Ich merke, dass es in vielen Bereichen eine größere Bereitschaft gibt, etwas dagegen zu unternehmen. Sogar in Asien. Aber es ist schwer abzusehen, was tatsächlich geschehen wird."
Der Antibiotikaverbrauch müsste drastisch reduziert werden. Und Reservemedikamente nur eingesetzt werden, wenn klar ist, dass sie einen bestimmten Erreger wirklich eliminieren. In vielen Ländern fehlen jedoch die diagnostischen Möglichkeiten, um bestehende Resistenzen zu identifizieren. Jasper Littmann vom Robert-Koch Institut in Berlin:
"Die Tatsache ist, dass der Bedarf für bestimmte Reserve-Antibiotika in den Ländern besonders hoch ist, in denen auch der falsche Einsatz von Antibiotika auch besonders hoch ist. Und wenn dem so ist, dann müssen wir uns darum fragen, wie wir damit in Zukunft umgehen wollen. Und ich glaube, dass es darauf keine einfache Antwort gibt."
Transplantationen, künstliche Hüftgelenke oder Herzschrittmacher. Viele Eingriffe in Krankenhäusern wären ohne wirksame Antibiotika nicht mehr möglich, weil sich Patienten während der Operation mit Bakterien infizieren könnten. Damit trägt jeder eine Verantwortung gegenüber seinen Mitmenschen, sagt Joakim Larsson.
"Ob Sie oder 1.000 andere Menschen ein Medikament gegen Blutdruck einnehmen oder nicht, betrifft mich nicht. Wenn Sie aber Antibiotika einnehmen, betrifft mich das schon, weil diese Medikamente wirkungslos werden können, wenn man sie einsetzt. Die Entscheidung jedes einzelnen Menschen betrifft möglicherweise die Zukunft aller anderen. Und damit umzugehen, ist eine Herausforderung."
Lässt sich der Trend noch rechtzeitig umkehren?
2050 werden weltweit mehr Menschen durch antibiotikaresistente Bakterien sterben als durch Krebs, prophezeit der noch vom britischen Premier David Cameron in Auftrag gegebene O’Neill-Bericht. Die Zahl der Toten durch multiresistente Keime könnte von jetzt weltweit 700.000 bis 2050 auf zehn Millionen pro Jahr steigen, berechnet die Berliner Charité. Ob diese Zahlen so stimmen, ist umstritten. Wichtiger ist die Frage, ob sich der Trend noch rechtzeitig umkehren lässt. Selbst wenn der politische Wille da ist: In vielen Ländern herrschen Krieg und Armut. Es gibt drängendere Probleme, die gelöst werden müssen.
"Es ist sehr schwer, in Ländern Maßnahmen umzusetzen, in denen Armut und Korruption vorherrscht. Man müsste das Gesundheitssystem so verändern, dass Ärzte eine genaue Diagnose stellen und Patienten ihnen vertrauen und sich genau an die Verschreibung halten. Und das durchzusetzen ist extrem schwer. Die größten Probleme haben Länder mit mittlerem Einkommen. Die ärmsten Länder haben noch nicht mal Zugang zu Antibiotika."
"Kurzfristig werden wir die Resistenzentwicklung nicht stoppen können. Ich denke, es wird global gesehen noch deutlich schlimmer werden und es ist keine Lösung in Sicht. Dennoch müssen wir versuchen, diesen Trend zu stoppen. Wir müssen endlich handeln, um die Entwicklung aufzuhalten."
Petra Gastmeier vom Institut für Hygiene und Umwelt der Berliner Charité sieht die Lage nicht ganz so düster. Zumindest hierzulande sei das Problem derzeit unter Kontrolle. Und Keime können Resistenzen nicht nur einsammeln, sondern auch wieder verlieren.
"Also ich bin relativ optimistisch, dass die Interventionen, die in den letzten Jahren gestartet wurden und die sicher in den nächsten Jahren noch mehr greifen werden, doch dazu führen, dass die düsteren Szenarien, die Jim O'Neill gezeichnet hat mit zehn Millionen Toten durch Antibiotikaresistenz im Jahre 2050, dass wir das nicht haben werden. Aber Genaueres weiß man natürlich nicht."
"Das Wichtige ist zu erkennen, dass Antibiotikaresistenz als Problem nicht lösbar sein wird. Wir müssen eben lernen, mit dem Resistenzproblem zu leben und Antibiotika so einzusetzen und schnell genug neue zu entwickeln, dass wir im Zweifel der Resistenzentwicklung einen Schritt voraus sind."
Daria Jentzow und ihre Tochter Julia haben Glück gehabt, sie werden ihre Krankheit wohl überstehen. Doch der Preis ist hoch: Zwei Jahre lang müssen sie Medikamente mit starken Nebenwirkungen nehmen, um ihre extensiv-resistenten Tuberkulose-Erreger loszuwerden. Bei Julia haben die Reserveantibiotika jetzt schon Spuren hinterlassen, erzählt ihr Vater.
"Wir haben jetzt eine mittel bis schwergradige Zerstörung des Innenohrs und werden auf Hörgeräte angewiesen sein. Das sind eben die Kehrseiten. Man hat es nicht mit Medikamenten zu tun, sondern man hat es mit schrecklichen Medikamenten zu tun, die schon ihre Spuren hinterlassen in Form von Narben. Bei unserer Tochter wird es hoffentlich mit dem Hörgerät sein Bewenden haben, aber ich habe manchmal Angst davor, was noch kommen mag."
Erstausstrahlung am 1. Oktober 2017