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Lebendiges Tanzmuseum

Der 2009 verstorbene Merce Cunningham gilt als einer der führenden Köpfe des modernen Tanztheaters. In der Berliner Akademie der Künste führt seine Dance Company noch einmal Meilensteine seiner Werke auf – bevor sie nur noch in digitaler Form zugänglich sein werden.

Von Elisabeth Nehring | 27.09.2011
    Ein verspielter Hüpfer, ein schelmischer Blick in die Augen des Gegenübers - es folgt eine fast klassische Drehung - und dann sofort ein Kippen des Oberkörpers zur Seite. Was mit einem Paar auf der Bühne beginnt, steigert sich furios zu einer Art kollektivem Pas de deux mit unendlich variierbaren Kombinationen. Ganz offensichtlich sind diese dem klassischen Tanz entlehnt und doch unterlaufen sie ihn auf eine feine, spielerische Weise, die der live eingespielten musikalischen "Improvisation" von John Cage auf der Ebene der Bewegung antwortet.

    Ursprünglich wurden die einzelnen Sequenzen von Merce Cunningham vor über dreißig Jahren, 1980, für sogenannte Events, raumspezifische Aufführungen, entwickelt - zusammen ergeben sie das rund zwanzigminütige Stück "Duets". Dessen Rekonstruktion durch den ehemaligen Tänzer und jetzigen Direktor Robert Swinston vermag nicht nur die kleinteilige, detailverliebte Choreographie, sondern auch die ganze Frische und Energie von damals wiederzubeleben.
    Zwei Abende lang kann man in der Akademie der Künste ein lebendes - und höchst lebendiges - Tanzmuseum betreten und drei wunderbare Rekonstruktionen älterer Arbeiten Cunninghams sehen. Neben "Duets" auch "Suite for Five" aus den Jahren 56 und 58 und das grandiose "Antic Meet", ebenfalls von 1958. Beide Produktionen sind in Zusammenarbeit mit dem Komponisten John Cage und dem Künstler Robert Rauschenberg entstanden.

    Eine geradezu überbordende kreative Lust an humorvollem Experimentieren mit Tanz, Musik und Ausstattung ist vor allem dem schrillen "Antic Meet" anzusehen, dessen Witz scheinbar kein Verfallsdatum kennt. Da treten die Tänzer im Habitus aufgeblasener Ballerinos auf, während sich die Tänzerinnen beim lächelnden Pas de deux ellenbogentaktisch hinten herum anzicken; Tüllgardinen-artige Hängerchen parodieren klassische Tutus, durch einen im Nichts stehenden Türrahmen werden bedeutsame Auf- und Abtritte simuliert, Damen und Herren mit schwarzen Sonnenbrillen erscheinen als Nachfahren der stets bedeutungsschwangeren Tanzkünstlerinnen des Expressionismus, und einer der Tänzer müht sich mit einem auf den Rücken gebundenen Stuhl ab.

    Cunningham hat hier seine eigene Tanzbiografie aufs Korn genommen: Seine Wurzeln im klassischen Ballett sowie die Erfahrungen als Tänzer der Martha Graham Company werden parodiert - allerdings auf eine fast liebevolle, keineswegs destruktive Weise.

    Es ist nicht nur Cunninghams Humor, Kreativität und Experimentierfreude, die angesichts dieser Rekonstruktionen begeistert, sondern auch die Tatsache, dass mit den Aufführungen der ganz frühen Arbeiten ein Bogen geschlagen wird von den choreographischen Anfängen bis zum Ende. Im Rahmen ihrer "Legacy Tour" ist die Merce Cunningham Dance Company eine ganze Woche lang in Berlin zu Gast; hier hat sie auch "Nearly 90" gezeigt, das letzte große Werk des Altmeisters der Postmoderne.

    "Nearly 90" changiert zwischen Abstraktion und indifferenter, hauchfeiner Ironie der eignen Kunst gegenüber, zwischen Es-immer-noch-ernst-Meinen und Sich-selbst-nicht-mehr-ernst-nehmen-Müssen, zwischen strenger Form und postmodernem Dadaismus in Bewegung. Und dass genau all diese Bausteine der Cunninghamschen Kunst - das Abstrakte und das Parodistische, das Verspielte und das Experimentelle, seine ganze nonkonforme Haltung - schon in nuce ganz früh und ein Leben lang vorhanden waren -, genau das zeigen die Rekonstruktionen der früheren Arbeiten des wohl bedeutendsten aller amerikanischen Choreographen.

    Allein deswegen ist dieses letzte Gastieren der Company in Deutschland als Segen zu betrachten. Ende des Jahres, nach einer zweijährigen Abschiedstournee um die Welt, wird sie sich auflösen. So hat es der Meister selbst gewollt und festgelegt; von da an wird sein Werk nur noch in digitalisierter Form zugänglich sein. Möglichst viele Elemente einzelner Inszenierungen - Videoaufnahmen, Probendokumente, Lichtpläne, Kostümentwürfe - werden in sogenannten Dance Capsules gesammelt und einer interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Wie, wann und ob überhaupt dann jemals wieder Stücke rekonstruiert werden – das steht noch in den Sternen jenes Himmels, der sich über der flüchtigsten aller künstlerischen Welten wölbt.