Freitag, 19. April 2024

Archiv


Lebensgeschichten auf der Leinwand

Es ist eines der dunkelsten Kapitel in der jüngeren französischen Geschichte: die Deportation von 13.000 Pariser Juden ins Vélodrome im Sommer 1942. Der Film "Sarahs Schlüssel" verwebt die Ereignisse von damals mit der Gegenwart. Außerdem: der Vampirfilm "Let me in" und ein Filmporträt der beiden Liedermacher Hannes Wader und Konstantin Wecker.

Von Hartwig Tegeler | 14.12.2011
    "Let me in" von Matt Reeves

    Gut, ein paar Universalien gibt es bei Vampiren; das mit dem Hereinkommen in eine Wohnung ist - auch in "Let me in" - eine Sache. Es braucht menschliches Einverständnis.

    "Owen, Owen, darf ich reinkommen? - Mmmh. - Du musst es sagen. - Na klar, komm rein."

    Owen, 12, lebt in einer US-Kleinstadt. Spätabends trifft er im Hinterhof ein Mädchen, das barfuss durch den Schnee geht.

    "Was tust du da? - Gar nichts. Was machst du denn?"

    Doch Abby ist nicht so, wie Owen denkt …

    "Ich bin kein Mädchen."

    Sie lügt nicht, wenn sie auf Owens Frage, wie sie denn auf sein Fenstersims gekommen ist, antwortet:

    "Ich bin geflogen. - Ja, klar."

    Nach Thomas Alfredsons Verfilmung des Jugendromans "So finster ist die Nacht" kommt mit "Let me in" das US-Remake von "Cloverfield"-Regisseur Matt Reeves ins Kino. Allerdings ohne den schalen Beigeschmack von Remake. Denn Matt Reeves inszeniert eindrucksvoll eine Geschichte über Einsamkeit und Isolation. Owen wird in der Schule gemobbt. Und Abby mag zwar ein blutdurstiger Vampir in Gestalt eines kleinen Mädchens sein, ist aber gerade deswegen einsam. In grauen Winter-Bildern macht Matt Reeves das Vampir-Sein zur existentiellen Metapher. "Let me in" ist allerdings sehr blutig und brutal; mit der weichgewaschenen "Twilight"-Serie hat dieser Vampirfilm nichts zu tun.

    "Let me in" von Matt Reeves - herausragend.


    "Sarahs Schlüssel" von Gilles Paquet-Brenner

    "Machen Sie auf! Aufmachen!"

    Am Anfang von "Sarahs Schlüssel" das Klopfen an die Wohnungstür. Juni 1942: Die Deportation der Pariser Juden, unter ihnen Sarah, durch die französische Polizei beginnt. Das Mädchen versteckt ihren kleinen Bruder im Tapetenzimmer; dort wird er sterben.

    60 Jahre später ein Klopfen an eine Wand derselben Wohnung, die nun schon seit Jahrzehnten Bertrands Familie gehört. Die Journalistin Julia will mit ihrem Verlobten hier einziehen.

    "Wer sagt es denn? So gut wie neu. Habe ich dir schon mal die Geschichte der Wohnung erzählt? - Nein. - Also ..."

    Doch in der Geschichte, die Bertrand erzählen möchte, wird das Familiengeheimnis nicht auftauchen, auf das Julia stoßen wird:

    "Ich habe gerade herausgefunden, dass die Familie sie im August 42 angemietet hat. Sie sind gute Menschen. Es muss ein Zufall sein."

    Bertrands Familie hat die Wohnung der deportierten Juden übernommen und darüber geschwiegen.

    Regisseur Gilles Paquet-Brenner inszeniert zwei Erzählstränge: Da ist der verzweifelte Versuch der kleinen Sarah, 1942 aus dem Deportationslager zu fliehen, um ihren Bruder aus dem Tapetenzimmer zu befreien. Gleichzeitig, in der Gegenwart, beschreibt "Sarahs Schlüssel" den Versuch von Julia - grandios: Kristin Scott Thomas -, die Verstrickung der Familie ihres Verlobten mit der Geschichte Sarahs aufzudecken.

    Gilles Paquet-Brenner zeigt Sarah in "Sarahs Schlüssel" als ein Mädchen, später als erwachsene Frau, die zwar gerettet wird, die aber immer das Gefühl hat, fürs Überleben schuldig zu sein. So ist ein Teil in ihr mit ihrer Familie im Holocaust gestorben.

    "Habe ich dir schon mal die Geschichte der Wohnung erzählt?"

    Am Ende wird Julia die Geschichte der Wohnung, die von Sarah und ihrem Schlüssel zum Tapetenzimmer, erzählen können. Doch die Erinnerungsarbeit hat ihren Preis.

    "Sarahs Schlüssel" von Paquet-Brenner - herausragend.


    "Wader Wecker Vater Land" von Rudi Gaul

    Älter? Weiser? Wie auch immer, zehn Jahre nach ersten Konzerten waren der inzwischen 69-jährige Hannes Wader und der fünf Jahre jüngere Konstantin Wecker 2010 erneut gemeinsam auf Tournee. Rudi Gaul dokumentiert in "Wader Wecker Vater Land" die beiden in die Jahre gekommenen Liedermacher.

    " Die Idee zum Beispiel, dass wir zusammen auftreten und Tourneen machen, das ist natürlich Konstantins Idee, weil, der ist so ein Mensch. Ich bin mehr so ein Eigenbrötler."

    Meint Hannes Wader. Und Konstantin Wecker sagt:

    "Wir dürfen nicht vergessen, dass wir unter unseren verschiedenen Mänteln, wie wir alles behandeln, eigentlich das Gleiche wollen. Wenn wir das nicht hätten, dann würden wir nicht auf der Bühne zusammen stehen."

    Im Zug oder in der Garderobe philosophieren Wecker und Wader über die Veränderbarkeit der Dinge, auf die beide noch hoffen. Erstaunlicherweise wirkt "Wader Wecker Vater Land" jedoch nicht altbacken oder langweilig; Rudi Gauls Film zeigt zwei alte Musiker, die immer noch Freude an ihren Songs haben. Was aber vor allem überzeugt - man mag die Musik mögen oder nicht -, das ist der hohe Respekt und die Sympathie, die die beiden teilen. Das ist schön anzusehen.

    "Wader Wecker Vater Land" von Rudi Gaul - empfehlenswert.