Dienstag, 19. März 2024

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Lebenshilfe-Vorsitzende Ulla Schmidt
"Es gibt keinen Grund, Menschen vom Wahlrecht auszuschließen"

Bundestagsvizepräsidentin Ulla Schmidt (SPD) hat gefordert, allen Menschen mit Behinderung das Wahlrecht zu geben. Viele bräuchten zwar Hilfestellungen, sagte die Vorsitzende der Bundesvereinigung Lebenshilfe im Deutschlandfunk: "Aber das schränkt ihre politische Entscheidungsfähigkeit nicht ein."

Ulla Schmidt im Gespräch mit Sarah Zerback | 17.08.2017
    Die Politikerin Ulla Schmidt beim Jahresempfang der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen am 06.05.2015 in Berlin.
    Die SPD-Politikerin Ulla Schmidt (picture alliance / dpa / Jörg Carstensen)
    Sarah Zerback: Bei den Bundestagswahlen dürfen alle deutschen Staatsbürgerinnen wählen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, seit mindestens drei Monaten in der Bundesrepublik wohnen und nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen sind - so schreibt es das Bundeswahlgesetz vor. Ausgeschlossen sind unter anderem all jene, die dauerhaft voll betreut werden, weil sie eine Behinderung haben. Am Telefon begrüße ich jetzt Ulla Schmidt, Bundestagsvizepräsidentin von der SPD und sie ist auch Bundesvorsitzende der Lebenshilfe. Guten Morgen, Frau Schmidt!
    Ulla Schmidt: Ja, guten Morgen!
    Zerback: Ihrer Meinung nach, wer sollte denn am 24. September wählen dürfen?
    Schmidt: Alle die Menschen, die wählen wollen. Ich finde, es gibt keinen Grund, Menschen vom Wahlrecht auszuschließen, denn das Wahlrecht ist ja ein Grundpfeiler unserer demokratischen Gesellschaft und viele Menschen, auch die, die unter umfassender Betreuung stehen - das sind ja rund 80.000 bei uns in Deutschland -, viele von denen möchten wählen gehen. Sie durften bei der Nordrhein-Westfalen-Wahl wählen, in Schleswig-Holstein durften sie wählen, sie dürfen manchmal auf kommunaler Ebene wählen und es gibt keinen Grund, warum sie bei Bundestags- und Europawahlen auch weiterhin nicht wählen dürfen.
    Zerback: Könnten sie das denn ganz praktisch gesehen oder wäre da immer eine Hilfestellung von außen nötig?
    [Anmerkung der Redaktion: An dieser Stelle war die Telefonleitung kurz unterbrochen.]
    Schmidt: Es geht mit Assistenz. Denn wir haben viele, die brauchen eine leichte Sprache, die brauchen vielleicht Hilfestellungen über Bilder oder anderes mehr, aber das schränkt ihre politische Entscheidungsfähigkeit nicht ein.
    Wahlbeinflussung lässt sich verhindern
    Zerback: Da gibt es ja aber Befürchtungen, dass eben die Tatsache, dass die Hilfestellung da sein muss, vielleicht auch über den Betreuer, dass die dazu missbraucht werden könnte, die Wahl zu beeinflussen. Wie wollen Sie denn das verhindern?
    Schmidt: Na ja, sind wir doch einmal ehrlich: Warum sollte gerade bei den 80.000 eine Beeinflussung stattfinden, die irgendwo negativ ist? Ich glaube, dass die Assistenz gewährt werden muss, wir sind Gott sei Dank heute so weit, dass die Parteien ihre Programme in leichter Sprache machen. Wir haben Assistenz in den Wahlbüros, es ist ja auch für blinde Menschen oder für andere Menschen, muss es Assistenz geben. Und die Behindertenrechtskonvention hat die Teilhabe aller als unveräußerliches Menschenrecht festgelegt. Und selbst der Europarat hat mit 46 von 47 Stimmen und Ländern gesagt, dass Assistenz zu gewähren ist, aber dass es keinen Grund gibt, Menschen vom Wahlrecht auszuschließen.
    Die Frage ist ja auch: Wo wollen Sie Anfang und Ende machen? Wenn jemand eine Vorsorgevollmacht unterschrieben hat, der auch sehr eingeschränkt sein kann, zum Beispiel eine ganz schwere Demenz, der hat weiterhin das Wahlrecht. Und nur da, wo die Betreuung beantragt wird in allen Angelegenheiten, soll das Wahlrecht automatisch ausgeschlossen werden? Nein. Die Menschen, die wählen wollen ... Wir haben ja keine Wahlpflicht, dann müsste man vielleicht entscheiden, wen muss ich von der Pflicht entbinden. Wir haben ein Wahlrecht, das soll jeder wahrnehmen können. Jeder muss selber, auch wenn er Briefwahl beantragt oder anders, das unterschreiben können, das darf niemand anders da für ihn wahrnehmen, das Wahlrecht.
    Und die Menschen, die nicht wählen wollen, gehen auch weiterhin nicht wählen, aber die, die wählen möchten - und da kenne ich viele Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen, die das wollen -, die sollen das auch können. Das gehört zu einer Demokratie im Jahre 2017 dazu.
    Bei vielen Landtagswahlen gibt es das volle Wahlrecht bereits
    Zerback: Wie wir gerade gehört haben, ist es ja eben noch nicht Realität in Deutschland. Es gibt da auch ganz unterschiedliche Regelungen im Bund und eben in einigen Ländern, unter anderem NRW, das Bundesländer, aus dem Sie kommen, hat den Wahlrechtsausschluss gestrichen aus dem Landeswahlgesetz. Wie kann man das den Menschen erklären, dass da dieser Unterschied gemacht wird, jetzt auf Landes- und Bundesebene?
    Schmidt: Ja, eigentlich überhaupt nicht, das zeigt ja die Absurdität des Ganzen, diese Unterschiedlichkeit. Warum kann ein Mensch bei einer Landtagswahl sein Wahlrecht wahrnehmen und soll das dann bei der Bundestagswahl nicht können? Was wir in Deutschland brauchen, sind einheitliche Regelungen für alle. Und wir müssen wegkommen von dem Gedanken, dass Menschen, die eine intellektuelle Unterstützung brauchen und Beeinträchtigung haben, dass die keine Fähigkeiten haben. Sondern wir wollen einen Weg gehen, dass jeder seine Fähigkeiten entfalten kann, und dazu gehört die Unterstützung, Barrierefreiheit, leichte Sprache, damit man das Wahlrecht ausüben kann. Aber all diese Unterstützung rechtfertigt kein Verbot.
    Und wenn man sich einmal anschaut - im Moment läuft ja ein Film über die Einführung des Frauenwahlrechts in der Schweiz -, wenn man sich einmal die Geschichte der Einführung des Wahlrechts anschaut, dann ist es immer so gewesen, dass man irgendeine Gruppe der Gesellschaft für unfähig gehalten hat zu wählen. Das hat man auch bei den Frauen getan, das hat man bei den Arbeitern getan. Und jetzt haben wir die Menschen mit umfassender Betreuung und es wird Zeit, dass wir diese 81.000 Wahlrechtsausschlüsse auch streichen. Dann haben wir nämlich das volle Wahlrecht für alle und dann bleibt es dabei, dass Menschen sich entscheiden können, und dann bleibt es dabei, dass Menschen Unterstützung bekommen. Und wenn man Missbrauch ausschließen will, muss ich ehrlich sagen, dann muss man die Briefwahl abschaffen, aber nicht Menschen mit Behinderung ausschließen.
    Zerback: Frau Schmidt, Sie werben ja schon lange für eine solche Reform.
    Schmidt: Ja.
    Zerback: Warum zieht denn Ihre Partei, die SPD nicht mit?
    Schmidt: Doch, die hat das entschieden. Meine Partei zieht da mit, aber wir haben leider nicht die Mehrheit im Bundestag, und der Koalitionspartner hat nicht mitgezogen, obwohl auch in der CDU, muss ich sagen, es eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen gibt, die die gleiche Auffassungen haben wie ich. Aber wir sind da nicht zu einer Entscheidung in der Großen Koalition gekommen. Es steht an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes jetzt und ...
    Zerback: Das liegt aber, wenn ich Sie da ganz kurz unterbrechen darf, auch daran, dass ein gemeinsamer Gesetzesentwurf der Opposition mal auf der Tagesordnung stand, dann aber abgesetzt wurde, auch mit Stimmen der SPD.
    Schmidt: Ja, weil wir in einer Koalition sind und weil man in einer Koalition eben auch bestimmte Regeln hat. Das hat etwas zu tun auch mit der Stabilität in Deutschland, der politischen, dass man sich an bestimmte Regeln und Verträge hält, das ist in allen Koalitionen so oder man geht den Koalitionsbruch ein.
    Nach der Ehe für alle auch die Wahl für alle
    Zerback: Aber man hätte ja wie im Falle der Ehe für alle als SPD einen Akzent setzen können.
    Schmidt: Das hätte man machen können, die Bundeskanzlerin hätte auch bei der Wahl für alle sagen können: Ich plädiere dafür, dass wir hier die Freiheit haben. Dann hätten wir die Mehrheit gehabt. Es sind ja da auch Dinge vorangegangen.
    Wir werden auf jeden Fall daran festhalten und wir werden das auch ... Für uns steht das in einem Koalitionsvertrag, und wir als Lebenshilfe - jetzt rede ich mal als Bundesvorsitzende der Lebenshilfe - haben ja auch Menschen unterstützt, die Klage beim Verfassungsgericht eingereicht haben, und ich setze sehr darauf, dass das Bundesverfassungsgericht auch diese Neuentwicklung, Weiterentwicklung mit der Abschaffung der Entmündigung, mithin zum Betreuungsrecht, mithin zu mehr Teilhabe, diesen Weg auch mitgehen will. Und dann hoffe ich, dass wir in der nächsten Legislaturperiode diese Wahlrechtsausschlüsse endlich beseitigen können.
    Zerback: Sagt Ulla Schmidt, und sie ist nicht nur Bundesvorsitzende der Lebenshilfe, sondern auch von der SPD, und Bundestagsvizepräsidentin ist sie auch noch. Herzlichen Dank für das Gespräch heute Morgen, Frau Schmidt!
    Schmidt: Bitte schön, einen wunderschönen Tag!
    Zerback: Den wünsche ich Ihnen auch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.