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Lebenshunger und Leselust

Bunt und ungezügelt, frech und tollkühnen sind die Erzählungen Olja Savicevic'. In "Augustschnee" schildert die kroatische Autorin Menschen in ungewöhnlichen Situationen, in entscheidenden Momenten, im Ungleichgewicht - dies jedoch ohne pathetische Töne: lebenshungrig, gerade heraus, mit einer Prise Witz und Komik.

Von Antje Strubel | 08.08.2008
    Ein buntes, ungezügeltes, freches Buch von einer tollkühnen, einfallsreichen Autorin mit einer unbändigen und ungebändigten Sprache, in dem es jede Menge schöne letzte Sätze und eine leuchtende Erlebnistiefe gibt; das ist "Augustschnee". Während hierzulande Erzähler hochgejubelt werden, die geradlinige pathetische Sätze bilden und sie zu geradlinigen pathetischen Kurzgeschichten verbinden können, die unter dem Gütesiegel des Amerikanischen Bekanntes noch einmal wiederholen, holt diese Erzählerin aus geradlinigen Sätzen Leben heraus, unerhörtes Erleben. Und Pathos benutzt Olja Savičevic überhaupt nur, um sich im selben Atemzug darüber lustig zu machen.

    Hier ist eine Abenteuerin der Sprache am Werk, eine, die ihren eigenen Ideen vertraut und sich mit amerikanischen Vorbildern ebenso spielerisch vergnügt wie mit Daniil Charms - "Wir gingen nach Hause. Hand in Hand. Vier Füße. Dahinter vier Pfoten. Du wedelst mit dem Schwanz, ich wedele mit dem Schwanz. Der Hund auch" - wie mit Wolfgang Borchert - "Ich lag in Deckung und sah in den blauen, blauen Himmel" - und mit ihrem eigenen Lebenshunger - "Nie wieder später im Leben waren Jungen so schlank und schön. Das sollte man Gymnasiastinnen sagen: küßt sie jetzt, küßt so viel, so zärtlich ihr könnt, gebt euch der Begeisterung hin, bis zum Umfallen, um jeden Preis, das ist das Einzige, was zählt".

    Diese Begeisterung für Sprache, für das Spiel mit ihr, für das, was sich unerwartet in einer augenscheinlich gewöhnlichen Geschichte ereignet, steckt in jeder dieser 22 Erzählungen der jungen kroatischen Autorin, die der Verlag Voland & Quist versammelt hat. Drei davon werden auf einer beiliegenden CD von Franziska Melzer gelesen.

    Da heißen Mädchen Huckleberry und ziehen wie im Roadmovie durch die Gegend, da gibt es Jungs, die vor lauter Verlegenheit ihre Feuerzeuge mit dem Spruch gravieren lassen: Ich bin ein guter Stecher. Da verdeckt die schwielige Ferse Gottes den Himmel, da ist ein Phantomfräulein Grusella für die überbordende Bürokratie im Land verantwortlich. Da begegnet ein Ex-Groupie ihrem früheren, inzwischen abgehalfterten Idol, da schlagen "arglose und leicht verwegene Herzen". Da wird der Teenager Tomislav von der Heiligen Christina, die für Sünde und Korruption zuständig ist, beauftragt, für ein paar Tage ihre Urlaubsvertretung zu übernehmen. Und als Tomislav den Heiligenschein zur Probe aufsetzt, sitzt der fest. Da gibt es zwar auch die scheinbar für Erzählbände mittlerweile obligatorische Penner-Geschichte und die offenbar ebenso unvermeidliche Bulimie-Geschichte, aber erstere ist roh, direkt und ohne Romantisierung und letztere heißt "Schöner Hunger" und klingt wie eine geflügelte Hommage an Charles Bukowski.

    Und es gibt die leisen, ernsteren Geschichten, in denen die jüngere Vergangenheit und die soziale Realität des heutigen Kroatiens das Geschehen bestimmen, wenn auch flüchtig und wie nebenbei. Da hängen zwei im Kirschbaum, weil man sie der Homosexualität bezichtigt. Ein Liebeskranker torkelt in den beginnenden Krieg, der ihm vor der Größe seines Leids ganz gleichgültig wird. Vom selben Krieg wird am Beispiel der Verwilderung eines Hundes erzählt, und für die Besitzer des Hundes, coole WG-Bewohner, ist die Zeit vor dem Krieg gleich der Zeit vor den Handys und vor Ecstasy.

    Auch vom langsamen Verschwinden einer Stadt wird erzählt, die nach der Schließung eines Bergwerks die meisten Einwohner verlassen. Nur die Alten bleiben in leeren Häusern zurück, und wenn es in einer anderen Geschichte um arbeitslose Männer geht, die noch mit dreißig bei ihren Müttern wohnen, dann entsteht der Eindruck, Kroatien liege von deutschen Braunkohlegebieten oder der Uckermark nicht so weit entfernt. Auch hier werden Sehnsüchte durchgestrichen, die auf Schilder von Marmeladengläsern geschrieben wurden, in denen keine Marmelade, sondern das Gesparte ist. Statt in eine Reise auf die Kanaren fließt dieses Geld am Ende nur ins eigene Grab.

    "Augustschnee" erzählt Geschichten vom Erwachsenwerden, von einem Erwachsenwerden, das mit achtzehn oder zwanzig nicht beendet ist, das bis ins hohe Alter dauert. Auch die Greise, die in der verschwindenden Stadt zurückbleiben, sind "alte Jungen und Mädchen", denn niemand hier hat einen Plan oder eine vernünftige Erklärung für sein Dasein, meistens folgen die Menschen Hirngespinsten, Sehnsüchten, Marotten, sie sind verloren, aber nicht mutlos und folgen vor allem den verrückten Einfällen der Autorin, die unbekümmert schräge Situationen durchspielt wie etwa die einer Frau, die sich einen geliebten Sklaven hält.

    "Augustschnee" bietet ein so großes Repertoire an Figuren und Themen, dass die Leichtigkeit und Direktheit, mit der sie geschildert werden, beinahe unwahrscheinlich ist. Savicevic findet für jede Geschichte einen eigenen Ton, und jedes Mal eröffnet sich eine Welt voller Leute, die man schon mal irgendwo gesehen zu haben meint, bis man feststellt, das war im Traum. Denn es ist die Logik von Träumen, der viele der Geschichten folgen, in denen Unverbundenes zusammengebracht wird, in denen seltsame Dinge auf natürlichste Weise geschehen.

    Erzählt wird mit eben dieser träumerischen Sicherheit und in einer kräftigen Sprache, die manchmal schnoddrig, manchmal lakonisch ist, aber immer durchzogen von einem unterströmenden lyrischen Sog, der auch in der Übersetzung von Blazena Radas durchdringt. Das verleiht den Texten eine Frische und zugleich eine Poesie, die Träume meistens nicht haben. Das Erzählen wird nicht gehorsam zurechtgestutzt, sondern enthält den Aberwitz, die Komik und die Skurrilitäten, die Leben und Schreiben mit sich bringen. Und glaubt man der Autorin, scheint das ganz einfach: man stürzt sich in Abenteuer und wird gleichzeitig ihre genaueste Zeugin.

    In der Erzählung "Zerstreuung für müßige Töchter" heißt es:

    "Paß gut auf, was ich tue, ich ziehe eine Uniform an: Netzstrümpfe, Armeehosen bis zum Knie, rosa Socken, durchsichtige Bluse. Wenn ein Mädchen so angezogen und mit einer Pistole unter dem Bauchnabel die Straße entlang geht, beginnt eine Geschichte. Ich brauche dich, damit du alles aufschreibst, was passiert. Ich ziehe am Abzug, du spitzt den Bleistift. Das einzige, worauf ich achten muss, ist, dass ich nicht umkomme, bevor ich ein gutes Ende erwische. Und dass das gute Ende mich nicht erwischt, sobald wir die Wohnung verlassen."
    Sobald man dieses Buch verlässt, ist klar: Hier hat einen wirklich aufregende Literatur erwischt.

    Olja Savicevic: Augustschnee
    Aus dem Kroatischen von Blazena Radas
    Verlag Voland & Quist, 128 Seiten, 17,90 Euro