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Lebenslang

Wegschließen für immer, rufen die einen. Eine Perspektive für die Zukunft entspricht der Würde eines jeden Menschen, mahnen die anderen. Die Sicherungsverwahrung ist für Rechtspolitiker ein schwieriger Balanceakt.

Von Matthias Becker und Michael Kuhlmann | 22.06.2010
    "Entscheidend ist die Sicherheit der Bevölkerung ..." (bayerischer Innenminister Hermann)

    "Die Sexbestie aus dem Internet!" Jetzt werden immer Details aus dem Privatleben des mutmaßlichen Kinderschänders bekannt ..."

    "Kinderschänder raus! Kinderschänder raus!" (Parolenrufen) "Schon den dritten Tag hintereinander demonstrieren die Anwohner gegen Karl D. Für viele ist es unerträglich, dass ein verurteilter Sextäter jetzt in ihrer Nachbarschaft lebt ..." (Nachrichtensprecher)

    "Er hat Kinder gequält. Er hat seine Rechte verloren!" (Anwohnerin)

    Sicherungsverwahrung - wenn es um diese Maßnahme geht, denken die meisten an pädophile Mörder, an Vergewaltiger oder geisteskranke Serientäter. Politiker betonen dann gerne, dass der Schutz der Bevölkerung Vorrang haben müsse vor den Rechten solcher Straftäter.

    Doch ganz so einfach ist es nicht. Im vergangenen Herbst rügte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die deutsche Praxis – auch deshalb müssen die rechtlichen Regelungen zur Sicherungsverwahrung jetzt überarbeitet werden. Vor zwei Wochen stellte Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Eckpunkte einer Reform vor. Die Justizminister beschäftigen sich ab morgen, auf ihrer Konferenz in Hamburg, mit einer Neuordnung.

    Im vergangenen Jahrzehnt lockerte der Gesetzgeber die Voraussetzung für die Verwahrung immer weiter. Die Folge: Die Zahl der Verwahrten hat sich mehr als verdoppelt. Heute sind mehr als 500 Menschen in Deutschland in Sicherungsverwahrung. In der Öffentlichkeit gelten sie als "Sexbestien", "hochgefährlich", als "therapieresistent". Doch die Maßnahme trifft nicht nur Mörder und Vergewaltiger, sondern auch Betrüger, Diebe und Räuber.

    Manfred Becker ist einer von ihnen. Er passt nicht recht zu den gängigen Vorstellungen - ein kleiner älterer Mann mit einem goldenen Ohrring. Er spricht ruhig und verbindlich. Über die Hälfte seines Lebens hat er im Gefängnis und der geschlossenen Psychiatrie verbracht.

    "Insgesamt gesehen ja. Wenn ich das alles zusammenzähle, Jugendstrafe über 30 Jahre sind das. Ich bin ja jetzt schon im 22. oder 23. Vollstreckungsjahr in dieser Sache."

    1986 wurde er wegen Bankraubs zu zwölf Jahren Haft und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Seit seiner Jugend wurde Manfred Becker immer wieder straffällig. Er hat Drogen geschmuggelt, ist in Apotheken eingebrochen und aus dem Gefängnis geflohen. So sammelte er eine beachtliche Zahl von Vorstrafen, die dann den Ausschlag für die Sicherungswahrung gaben.

    "Wie soll ich sagen – als Rückfalltäter, als Hangtäter ist das normal, wird verhängt. 'Unbelehrbarer Rückfalltäter, unbeeindruckbar durch Strafe', so formulieren die das dann. Ich hab einiges dazu beigetragen in meiner Karriere, dass die mich dann eben damals so beschaut haben seinerzeit. Aber auch aufgrund meiner Vorstrafen, ich hatte eben schon viel gemacht, weil ich war kein unbeschriebenes Blatt mehr, hatte auch schon Überfälle gemacht und Diebstähle gemacht. Also ich war kein unbeschriebenes Blatt mehr zu der Zeit. Da gab's gar keine Chance, ich bin nahtlos in die SV reingekommen."

    Ist ein Täter erst einmal in Sicherungsverwahrung, liegt die Beweislast bei ihm. Nicht der Staat, sondern der Täter muss nachweisen, dass von ihm keine Gefahr mehr ausgeht. Er muss zeigen, dass er nicht mehr gefährlich ist.

    "Wie wollen Sie das machen? Weil ich hab mich auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts berufen, dass, wenn jemand nicht mehr gefährlich ist, also dass von ihm keine Taten drohen, die andere schwer körperlich oder seelisch schädigen oder die hohen materiellen Schaden anrichten, dass man dann entlassen werden kann. Und das war immer eine Anhörung, eine reine Scheinanhörung, das ist ein Theaterspiel war das: Sie werden angehört, und denen ist von vornherein schon klar, dass sie nicht rauskommen. Ja, und wenn ein Gutachten gemacht wird - wer macht ein günstiges Gutachten? Wer sagt, es gibt seit Jahren Indizien, dass dieser Mann keine Straftaten mehr macht? Oder dass der sich vernünftig, sozial adäquat verhält? Das macht kaum jemand. Die gucken nur nach der Akte und schreiben das fort, was die anderen schon vorher geschrieben haben."

    Manfred Becker ist kein Sexualstraftäter, kein Mörder. Trotzdem hat er über 20 Jahre im Gefängnis verbracht – und dass, ohne zu wissen, ob er jemals wieder in Freiheit kommen wird. Viele der Verwahrten sind im Gefängnis alt geworden und schon allein körperlich nicht mehr in der Lage, neue, schwere Straftaten zu begehen. Die jahrelange Haft hat sie so geprägt, dass sie in Freiheit kaum noch zurechtkommen. Das, so sagen viele Psychiater und Justizbeamte hinter vorgehaltener Hand, sei der eigentliche Grund, warum sie nicht freigelassen würden – man weiß nicht recht, wohin mit ihnen.

    "Das ist eine sehr deprimierende Strafe. Weil diese Perspektivlosigkeit zermürbt sie, macht sie kaputt. Die meisten SVer, die mit mir zusammen sind, die kommen ja gar nicht mehr aus der Zelle raus. Die waschen sich nicht mehr, die liegen nur noch im Bett, konsumieren Tabletten oder Rauschgift oder, wissen Sie, wie ich meine. Stellen Sie sich mal vor, ein 68-Jähriger, der da jetzt seit 14 Jahren in der SV ist, ist kaputt im Kopf. Der ist nur noch ne Hülse."

    Manfred Becker hat es geschafft, er hat sich durch die jahrzehntelange Haft nicht brechen lassen. Zwei Schulabschlüsse hat er während dieser Zeit gemacht, eine tiefenpsychologische Therapie und ein Anti-Gewalt-Training absolviert. Seine Familie hat zu ihm gehalten. Mittlerweile ist er "gelockert", kann für einige Tage raus aus der deprimierenden Atmosphäre der Anstalt, seine Mutter oder einen Freund besuchen.

    "Ich hab mir so gesagt, Herr Becker - das Leben nehmen, weil's völlig perspektivlos ist? Wer weiß, ob sie dich noch mal rauslassen. Dann haben die immer gesagt, 'Ach Manni, dich lassen sie sowieso nicht mehr raus, du bist kriminelles Urgestein.' Durch die Geburtsurkunde bin ich darauf gekommen. Ich hatte irgendwann mal in meinen Unterlagen geblättert und meine Geburtsurkunde gesehen, da dachte ich: Die Mutter hat dich nicht geboren, dass du hier auf dem Betonhof kaputt gehst! Du kommst raus! Du führst dich korrekt, du legst das dar, deine Motive, die dich dazu gebracht haben, die Überfälle zu machen, was deine Gründe waren. Du kommst da raus. Und das war so mein Kampfmittel."

    Manfred Becker kämpfte. Bemühte sich um eine Sozialtherapie, setzte sich schließlich gegen den anfänglichen Widerstand der Haftanstalt durch. Auch damit ist er eine Ausnahme – nur eine Minderheit der Verwahrten bemüht sich überhaupt noch darum, die Justiz von ihrer Ungefährlichkeit zu überzeugen.

    "Da hat man gesagt: Ok, wir nehmen Sie in Sozialtherapie probehalber. Dann haben die gesehen, dass ich ein normaler Mensch bin, ein relativ normaler Mensch, dass ich Fehler gemacht habe, aber da stehe ich ja dazu. Ich stehe ja zu meiner Verantwortung! Ich sag ja nicht, die anderen sind schuld, ich hab das ja gemacht. Ich hab dafür gesorgt, dass man mich als gefährlich betrachtet durch meine Handlungen. Ich hab auch jahrelang Kontakt gehalten mit Seelsorgern, die mir auch so geholfen haben, und da hab ich gesagt: Wenn ich eine gesellschaftliche Nische finde, in der ich mich entfalten kann in Freiheit, dann passiert nichts mehr, dann mach ich nichts mehr. Und das ist auch mein Ernst. Nicht weil ich Angst hätte oder so aber - ist die Sache nicht wert. Sie checken irgendwo ein im Hotel und sie zahlen ne zu hohe Rechnung. Kennen Sie einen erfolgreichen Kriminellen, langfristig gesehen? Ich kenn keinen."

    Anfang Juli wird Manfred Becker entlassen. Ein positives Gutachten eines bekannten Psychiaters gab letztlich den Ausschlag. Vieles, was heute zum Alltag gehört, ist ihm noch fremd – Handys, mit denen man im Internet surfen kann, Fahrkartenautomaten mit "Touch-Screen". Er wird einige Zeit brauchen, sich in dem Leben in Freiheit zurechtzufinden. Gefragt, was er anfangen will, muss er überlegen.

    "Ja, ich bin am Ende der Fahnenstange angelangt. Gucken Sie mal, ich bin 60 jetzt, so lange lebe ich auch nicht mehr, nach dem internistischen Handbuch. Bei der Erkrankung, die ich hab, versterben die meisten Patienten innerhalb von fünf Jahren. Mein Leben ist wie eine Schweißelektrode: Da ist immer ein Stück abgeschnitten worden von mir beziehungsweise vom Staat. Jetzt ist nur noch so ein kleiner Rest, und da werde ich bescheiden haushalten mit. So seh ich das."

    Wegschließen für immer, rufen die einen. Eine Perspektive für die Zukunft entspricht der Würde eines jeden Menschen, mahnen die anderen. Die Sicherungsverwahrung ist für Rechtspolitiker ein schwieriger Balanceakt. Schließlich geht es immer wieder um die schwierige Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit. Genauso ist es eine Abwägung zwischen den Interessen des Einzelnen und den Interessen der Allgemeinheit: Denn um die Allgemeinheit zu schützen, wird ein Täter, der eigentlich seine Strafe abgesessen hat, weiter festgehalten. Der Grünen-Rechtsexperte Jerzy Montag ist sich der Reichweite dieser Maßnahme durchaus bewusst.

    "Also, es ist eine komplexe Materie, weil sie den schwersten Eingriff normiert, den ein Rechtsstaat überhaupt vollziehen kann. Nämlich die Freiheitsentziehung jenseits der Schuld."

    So hat der Gesetzgeber gewisse Hürden für die Maßnahme aufgestellt. Sicherungsverwahrung droht nur Tätern, die für ihr Verbrechen mindestens zwei Jahre hinter Gitter müssen. Also etwa Totschlägern oder Vergewaltigern – aber eben auch Betrügern oder Einbrechern. Durch die Reform, wie sie die Bundesjustizministerin vorschlägt, würden gewaltlose Vermögensdelikte künftig aus dem Straftatenkatalog herausgenommen. Der stellvertretende SPD-Fraktionschef Olaf Scholz hält das für sinnvoll:

    "Ich glaube, es ist zunächst mal richtig, dass man den Anwendungsbereich beschränkt und sagt: Es geht um Gewalttäter, es geht um Sexualstraftäter und nicht um jeden, der irgendein Vermögensdelikt begangen hat."

    Zu der Schwere der Schuld kommt eine weitere Voraussetzung: Der Betreffende muss in der Regel auf eine ansehnliche kriminelle Karriere zurückblicken. Mindestens zwei Jahre muss er schon für frühere Taten gesessen haben. Dabei zählen allerdings nur Delikte, die noch nicht länger als fünf Jahre zurückliegen. Alle älteren Taten – selbst ein Totschlag oder eine Geiselnahme - kann man dem Täter nicht mehr anhängen. Jerzy Montag hält das weiterhin für richtig.

    "Ich möchte die Fälle lesen, hören, überprüfen, die aufgrund dieser Fünfjahresregelung zu unerträglichen Ergebnissen geführt haben!"

    Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dagegen will diese Voraussetzung ändern. Im Zweifel für die Sicherheit. Auch eine Tat vor zehn oder 15 Jahren soll noch einbezogen werden. Die nordrhein-westfälische Justizministerin Roswitha Müller-Piepenkötter hält eine solche Gesetzesverschärfung für notwendig.

    "Dazu ein Beispielsfall: 2006 ist in Münster ein Täter verurteilt worden, weil er ein Kind verschleppt und missbraucht hat – es konnte keine Sicherungsverwahrung verhängt werden, obwohl eine Vortat vorlag, aber diese lag mehr als fünf Jahre zurück. Das war für das Gericht und für die Menschen in unserem Land unbefriedigend."

    Schwieriger allerdings ist das dritte Kriterium: Ein Täter muss wirklich gefährlich sein. Ob er das ist, muss ein psychologischer Gutachter herausfinden. Für Jerzy Montag ist dessen Mitwirkung ein wesentlicher Punkt.

    "Ich bekenne, dass ich lange, lange Jahre der Meinung war: Wir brauchen die Sicherungsverwahrung nicht. Ich hab meine Position im Laufe der Jahre geändert, und zwar durchaus auch unter dem Eindruck der modernen Psychiatrie und Psychologie, die inzwischen in Einzelfällen durchaus eine fortbestehende hohe Gefahr erkennen kann."

    Hier freilich scheiden sich die Geister. Der Kriminologe Prof. Thomas Feltes von der Universität Bochum traut diesen Gefahrenprognosen nicht so recht. Und verweist auf ernüchternde Erkenntnisse seiner Kollegen:

    "Wie Leygraf gesagt hat: einer von zehn wird richtig prognostiziert, also, wir sperren neun ein, die ungefährlich sind – wenn ich sage: Wir sind ne freiheitlich-demokratische Gesellschaft, dann muss ich auch riskieren, dass hier und da mal eben jemand möglicherweise frei herumläuft, der ne Gefahr darstellt und der eben dann fälschlicherweise als ungefährlich prognostiziert wurde. Das ist mir lieber, als umgekehrt zehn einzusperren, die nicht gefährlich sind."

    Im Zweifel für die Freiheit also. Vor dieser Option aber schrecken viele Juristen zurück. Zu laut ist der Aufschrei in den Medien, in der Bevölkerung, wenn ein Straftäter – trotz positiver Prognose – dann doch rückfällig wird. Das Gesetz bietet einen Ausweg: Im Strafurteil können die Richter die Sicherungsverwahrung auch nur androhen, unter Vorbehalt. Erst wenn sich der Täter im Knast tatsächlich als weiterhin gefährlich zeigt, bleibt er nach der Haft hinter verschlossenen Türen. Für Cornelius Böhm, Referatsleiter Strafvollstreckung im bayerischen Justizministerium, ist die vorbehaltene Sicherungsverwahrung allerdings keine zufriedenstellende Lösung:

    "Das liegt daran, dass das Gericht einerseits sicher sein muss, dass bei dem Täter ein Hang zur Begehung von Straftaten besteht. Andererseits aber muss das Gericht unsicher sein, ob mit Rückfällen zu rechnen ist!"

    Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger setzt dennoch auf die vorbehaltene Sicherungsverwahrung. In einem Deutschlandfunk-Interview erinnerte sie unlängst an eine Forderung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes: Der Täter muss sich auf seine Strafe einstellen können. Und deshalb muss all das, was ihn erwarten könnte, auch im Urteil stehen.

    "Diese Anknüpfung an die Straftaten des Verurteilten muss von Anfang an deutlich werden, deshalb will ich genau das in das Strafverfahren einbringen!"

    Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung hat außerdem noch einen anderen Vorteil, so Olaf Scholz:

    "Denn das ermöglicht, dass man nachher nicht so auf die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung angewiesen ist."

    Damit nennt der SPD-Rechtspolitiker einen Aspekt, an dem sich die Straßburger Richter besonders gestoßen haben. Nämlich die nachträgliche Sicherungsverwahrung. Sie kann auch einen Gefangenen treffen, in dessen Strafurteil noch gar nichts von einer Sicherungsverwahrung zu lesen war. Wenn er zum Beispiel im Gefängnis Rachepläne gegen die Zeugen der Anklage schmiedet, diese Pläne ihn als einen besonders gefährlichen Straftäter erscheinen lassen, dann kann man ihn – theoretisch jedenfalls - nach der Haft festhalten.

    Das Gericht in Straßburg hat das allerdings gekippt. Solch ein Sanktions-Nachschlag verstoße gegen einen ehernen Grundsatz: dass man für eine Tat nicht zweimal bestraft werden darf. Zwar halten manche deutsche Juristen dagegen, die Sicherungsverwahrung sei keine Strafe für den Täter, sondern eine Maßnahme, um die Bevölkerung zu schützen. Aber – so der Strafrechtsexperte des Deutschen Anwaltvereins Stefan König:

    "Mal etwas zugespitzt hat Straßburg gesagt: Diese Unterscheidung ist im Grunde genommen – was jedenfalls die Sicherungsverwahrung anbelangt – ein Etikettenschwindel, das was Ihr da als Maßregel bezeichnet, ist in Wahrheit eine Strafe."

    Die Voraussetzungen für die Verhängung der Sicherungsverwahrung müssen geändert werden, das verlangt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Abgesehen davon aber muss auch den Tätern mehr geholfen werden, fordert Stefan König vom Deutschen Anwaltverein.

    "Wir müssen viel mehr für diese Menschen tun! Und die Therapiemöglichkeiten, die sicherlich bei einigen von ihnen gegeben sind, die müssen ausgebaut werden. Es muss auch von Anfang des Vollzuges dafür gesorgt werden, dass mit den Menschen was passiert."

    Im westfälischen Werl wird dazu ein mehrstufiges Konzept umgesetzt. Je nachdem, wie kooperativ sich die Insassen zeigen, erhalten sie Freiheiten, ihren Alltag in Haft zu gestalten. Dazu kommen verbesserte Therapieangebote. Bei den Reforminitiativen der Bundesländer hat Nordrhein-Westfalen gemeinsam mit Bayern die Federführung inne. Und das Justizministerium in München hat einen Ansatz entwickelt, der eine gravierende Änderung des bisherigen Systems bedeuten würde: die sogenannte Sicherungsunterbringung. Cornelius Böhm:

    "Wir müssen zum Beispiel die Anordnung der Sicherheitsunterbringung weitgehend aus dem Strafverfahren herausbringen. Die Anordnung sollte nicht durch das Strafgericht, sondern durch ein eigenes Gericht erfolgen. Bei dem auch forensisch erfahrene Psychologen, Psychiater als Laienrichter mitentscheiden."

    Zudem bräuchte man moderne Einrichtungen mit guten Therapiemöglichkeiten. Häuser, die frei sind vom Knastambiente. Teurer muss diese Art des Vollzugs aber keineswegs sein. Denn schon ein normaler Sicherungsverwahrter kostet den Steuerzahler heute, nach Thomas Feltes' Berechnungen:

    "Pro Tag Minimum 100 Euro, Maximum 150 Euro."

    Auch die Bundesjustizministerin sieht die Notwendigkeit, den Tätern die Chance auf eine Therapie zu bieten.

    "Egal, welches Konzept man wählt, in jedem Fall muss es Therapie, mehr Betreuung in der Sicherungsverwahrung geben – das ist eben kein Strafvollzug, sondern das ist eine Möglichkeit, Allgemeinwohlinteressen und eben auch Therapienotwendigkeit des Täters zusammenzuführen."

    Eine Neuordnung der Sicherungsverwahrung, so wie sie die Bundesjustizministerin plant, betrifft allerdings nur diejenigen Täter, die künftig verurteilt werden. Was aber wird aus jenen, die heute schon in Sicherungsverwahrung sitzen? Können sie von dem Straßburger Urteil profitieren? Ja, meint der Rechtsanwalt Stefan König.

    "Das sind ja ne ganze Reihe – die einen sagen 70, die anderen sagen 100 – was die rechtliche Seite anbelangt, herrscht noch einige Unklarheit; ich meine, dass diese Menschen auf freien Fuß gesetzt werden müssen."

    Der Kriminologe Thomas Feltes kennt ähnliche Fälle aus der Vergangenheit:

    "Der Aufschrei, dass dann plötzlich die nationale Sicherheit in Gefahr ist, den kann man als Politiker durchaus nachvollziehen – als Wissenschaftler wissen wir, dass es viele Fälle in den letzten Jahren und Jahrzehnten gegeben hat, wo aus verschiedenen Gründen plötzlich Menschen freigelassen wurden, die vorher als Gefahr angesehen worden sind."

    Allerdings: Gleichgültig, ob zehn, 70 oder 100 Menschen freikommen, die derzeit noch in der nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung sind – sie werden Hilfe brauchen.

    In Nordrhein Westfalen hat man ein spezielles Programm entwickelt, um zu verhindern, dass die Entlassenen rückfällig werden. KURS heißt das Programm, der Name steht für "Konzeption zum Umgang mit rückfallgefährdeten Sexualstraftätern". Diese Täter müssen sich nach der Haft beispielsweise regelmäßig bei der Polizei melden, sie müssen sich in Therapie begeben, werden öfters von Polizisten besucht, sie werden bewacht oder observiert. Natürlich ist das nicht so sicher wie simples Wegsperren, sagt auch die Düsseldorfer Landesregierung. Aber vor dem Hintergrund der europäischen Rechtsprechung vielleicht doch eine Alternative? Die Debatte darüber kommt gerade in Gang. Für Stefan König vom Deutschen Anwaltverein gerade zur rechten Zeit.

    "Wir sind im Moment in der komfortablen Situation, dass man jenseits von einem aktuellen tagespolitischen, medial aufgebauten Druck diese Frage grundsätzlich überdenken kann; ich wünsche mir, dass das noch ne Weile so bleibt und dass man da am Ende vielleicht zu einem ausgewogeneren Modell kommt, als wir das in den letzten Jahren leider Gottes hierzulande haben."